Vom Orpheo zur Cavalleria rusticana – italienische Theaterkultur anschaulich gemacht: zum Sammelband Italienisches Theater: Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 von D. Winkler, S. Schrader und G. Fuchs
David Nelting
Italienisches Theater: Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890, hrsg von Daniel Winkler, Sabine Schrader und Gerhild Fuchs, Recherchen 118 (Berlin: Theater der Zeit, 2015), 367 S.
Seit einiger Zeit festigt sich in Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen der Eindruck, dass der Hiat zwischen einer theoretisch avancierten und in ihrem Zuschnitt möglichst drittmittelaffinen literaturwissenschaftlichen Forschung auf der einen Seite und der universitären Lehre auf der anderen Seite zunehmend größer wird. Dabei scheint mir dieser Eindruck nicht nur einer geisteswissenschaftlichen Neigung zu larmoyanter Überzeichnung geschuldet, sondern vielmehr einer tatsächlichen Entwicklung. Hochschulpolitische Konjunkturformeln wie Initiativen zu Forschendem Lernen wirken mitunter wie angestrengte Beschwörungen eines universitären Miteinanders im wissenschaftlichen Diskurs, das offenbar als Leerstelle wahrgenommen wird und allenfalls mit Mühe (wieder?) herzustellen ist. Ob eine solche Entwicklung nun der Einführung der (vermeintlich) ‚verschulten‘ Studiengänge anzulasten ist, ob der kompetenzorientierten Ausbildung der Schülerinnen und Schüler, durch die zumindest Teile kulturhistorischer Bildung auf der Strecke bleiben, ob dem mancherorts politisch beförderten Geltungsverlust einer – abendländischem Kulturkonservatismus verdächtigen – literarischen Überlieferung, oder ob vielleicht auch ebenso hermetische wie aktualisierende Tendenzen einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft hier von Belang sind, vermag ich nicht zu entscheiden. Vermutlich spielen viele Faktoren eine Rolle. Jedenfalls scheint es in der postmodernen Aufmerksamkeitsgesellschaft vor allem die historische Literaturwissenschaft zusehends schwerer zu haben, Studierende und Interessierte anzusprechen. Das ist besonders bedauerlich, weil gerade in diesem Bereich Studierende die Fähigkeit entwickeln können, sich durch die Abstraktion gegebener Textstrukturen den Zugang zu anderen Rationalitäten zu eröffnen, was meiner eigenen Anschauung nach regelmäßig ein hohes Maß an intellektueller Befriedigung bei den Beteiligten herzustellen imstand ist. – Die Sensibilität unseres Faches für diesen Problemzusammenhang scheint mir freilich umfänglich geweckt; in dieser Zeitschrift ist erst kürzlich ein engagiertes Plädoyer gegen die „Abschaffung der [älteren] Literatur an Schule und Universität“ formuliert worden. Und auf genau dieses wichtige Handlungsfeld, literarhistorische Morphologien und Wissensbestände gegenstandsadäquat für Studierende unserer Gegenwart transparent und auch anziehend zu machen, zielt der vorliegende, schon äußerlich sehr ansprechend aufgemachte und angemessen illustrierte Band. Erklärtes Ziel der Herausgeber ist es, durch exemplarische Einzelanalysen von Szenarien und Stücken die „Theatergeschichte Italiens in ihrer Vielfalt“ zu präsentieren und „Studierenden wie Interessierten als Einführungslektüre“ zu dienen (7). In ihrem prägnanten Einleitungsaufsatz, „Italienisches Theater in Europa“ (7–32), beschreiben die Herausgeber auf angenehm lesbare, aber stets auch wissenschaftlich untadelige Weise die Geschichte des italienischen Theaters in ihren Grundzügen als epochale Transformationsgeschichte vom Mittelalter bis zum Risorgimento, wobei literatur- und kulturhistorische Aspekte anschaulich miteinander verbunden werden und einen klaren Rahmen für die Einzeldarstellungen liefern. Auch begründen die Herausgeber die Kriterien der Gegenstandsauswahl. Mit den siebzehn Einzelanalysen sei es nicht nur darum gegangen, Gattungsparadigmen panoramatisch abzubilden, sondern auch darum, Werke vorzustellen, die „auf unterschiedliche Weise die kulturelle und theatrale Praxis der jeweiligen Epoche bestimmt haben. So wurde bewusst auf Beiträge zu Stücken [sic!] und Autoren wie etwa Federico della Valle oder Alessandro Manzoni verzichtet, die zwar für die Literatur-, aber nicht die Theatergeschichte repräsentativ sind“ (8). Die Argumentation ist nachvollziehbar. Gewünscht hätte ich mir freilich gerade unter diesen Vorzeichen einen Beitrag zu Guarinis Pastor fido als Beginn der europäischen Modegattung der tragicommedia (pastorale); und eine Behandlung des barocken Märtyrerdramas wäre nicht nur dessen rezeptionsseitiger Bedeutung für die gegenreformatorische Alltagskultur gerecht geworden, sondern hätte auch die mitunter aus ideologischen Gründen erfolgte Marginalisierung der Gattung auf innovative Weise berichtigen können. In Hinblick auf die historische Extension – die Reihe endet mit der 1890 uraufgeführten Cavalleria rusticana – wird die Herausbildung „dessen, was wir heute mit der italienischen Theater- und in der Folge auch Opernkultur verbinden“ (8) als entscheidend angesetzt. Auch wenn man hier vielleicht noch einen Pirandello erwartet hätte, so scheint mir doch die Zäsur 1890 insgesamt gut gewählt – und im Übrigen liegt für das 20. Jahrhundert ja der vorzügliche, 2008 von Manfred Lentzen herausgegebene Band Italienisches Theater des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen vor.
Die einzelnen Beiträge lese ich insgesamt mit großer Zustimmung, was wohl u.a. auch dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass die Herausgeber in vielen Fällen je ausgewiesene Spezialistinnen und Spezialisten als Beiträger gewinnen konnten. Das Spektrum umfasst, beginnend mit Polizianos Orpheo (Solveig Malatrait), Trissinos Sophonisba (Rolf Lohse), Ariostos La Lena (Rudolf Behrens), Machiavellis Mandragola (Angela Oster), Tassos Aminta (Andrea Grewe), Ruzantes Dialogo primo (Sabine Schrader), zwei Commedie all’improvviso aus dem 16. und 17. Jahrhundert (Stefan Hulfeld), Ferdinando Saracinellis/Francesca Caccinis La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina (Katharina Piechocki), Pietro Metastasios Didone abbandonata und das Modell der Opera seria (Andrea Sommer-Mathis), Gennaro Antonio Federicos/Giovan Battista Pergolesis La serva padrona (Florian Mehltretter), Goldonis Servitore di due padroni (Angelo Pagliardini), Gozzis Turandot (Susanne Winter), Maffeis und Alfieris Merope-Varianten (Daniel Winkler), Silvio Pellicos Francesca da Rimini (Raimondo Guarino), Sterbinis/Rossinis Barbiere di Siviglia (Arnold Jacobshagen), Boitos/Verdis Otello (Alberto Bentoglio) und schließlich Vergas/Mascagnis Cavalleria rusticana (Sebastian Werr). Während die dritte Abteilung des Bandes, „Wege zum Nationaltheater“, mit einer recht griffigen Formel überschrieben ist, indizieren die Titel der beiden anderen Abteilungen eher das Phänomen einer epochalen Vielfalt, die sich offenbar nur schwer auf einen Nenner bringen lässt („Theaterformen im Rinascimento“; „Theaterboom & -diversifizierung zwischen Barock & Aufklärung“). Der im Klappentext bescheiden als ‚Studienbuch‘ ausgewiesene Band hebt sich nicht nur durch die exemplarische, anschaulich werkbezogene Anlage wohltuend von vielen Überblicksdarstellungen oder manchen handelsüblichen italienischen Literaturgeschichten ab, sondern auch durch einen ausgeprägten und meist entschieden markierten Forschungsbezug. Die jeweilige Forschungssituation wird von den Beiträgen durchweg ebenso akkurat wie treffend nachgezeichnet; vorbildlich für Studierende wird meist gezeigt, wie Forschungsstände ohne umständliche Paraphrasen oder Referate besonnen und produktiv in flüssige Argumentationen mit klar umgrenzter Problemstellung und gleichzeitiger Textnähe eingearbeitet werden können.
Es kann hier nicht der Ort sein, die siebzehn Beiträge eigens, und sei es nur zusammenfassend, zu würdigen. Ich habe das entfaltete Spektrum als vielfach anregend, stets als belastbar und informativ empfunden; die Lektüre des Bandes dürfte insgesamt für Studierende ebenso wie für Kolleginnen und Kollegen ergiebig sein. Daher möchte ich an dieser Stelle nur einige wenige subjektive Lektüreeindrücke herausgreifen. Als auffallend umsichtig in der Einarbeitung unterschiedlicher Forschungslinien und einer hochkomplexen, ja scheinbar widersprüchlichen Werkstruktur in eine eigenständig geradlinige Darstellung ist mir u.a. der Beitrag von Andrea Grewe zum Aminta aufgefallen, in dem die Vf.in es auf gut 16 Seiten schafft, poetologische, amorologische und höfisch referentielle Dimensionen der favola boschereccia zusammenzuführen und das für Tasso ja auch andernorts – ich denke an die Liberata – bezeichnende Zusammenwirken von Regel und Regelverstoß, von hedonistischer Lust und keuscher Ehrbarkeit, von Hofkritik und Fürstenlob in einem Werk, ja mitunter in einer Figur, nachzuzeichnen. Vorzüglich überzeugt hat mich dabei die Tatsache, dass die Vf.in die unterschiedlichen Text- und Handlungsschichten weder dekonstruktiv kassiert noch dichotomisch festigt und zugunsten einer Seite entscheidet, sondern in der harmonisierenden Verschränkung der zunächst gegenstrebigen Sinn- und Formangebote Tassos Pastorale als (semantisches wie morphologisches) Erfolgsmodell in seiner Epoche verstehbar macht. Als ebenso gegenstandsadäquat, im Habitus aber ‚kantiger‘ habe ich den Aufsatz von Rudolf Behrens wahrgenommen. Kulturhistorisch ausgreifend und gleichzeitig textphilologisch hochpräzise verknüpft Behrens am Beispiel von Ariostos La Lena von 1528 raumsemantische und poetologische Fragen. Insbesondere die Verhältnisse zwischen Sprache, rinascimentaler Stadt- und Architekturtheorie, Perspektivenlehre, monetärem Tauschverhalten urbaner Kaufmannskultur und fiktionstheoretischen Implikaten des bestimmen die Darstellung. Nicht nur relativiert Behrens durch diesen entschieden auf die Kontextualität des Werks – höfische Repräsentationskultur und bürgerliche Stadtgesellschaft – ausgerichteten Zugriff die Topik, Ariostos Komödien seien letztlich intertextuelle Abgüsse plautinischer und terenzianischer Vorlagen. Auch vermag er zu zeigen, dass und wie die Komödie hier nicht gegensinnig zur Lebenswelt steht, sondern vielmehr in ein referentielles Verhältnis zu ihrem historischen Kulturraum eintritt. Dabei werden freilich keine modernisierenden Verkürzungen freigesetzt – also etwa die rinascimentale Komödie als Lehrstück oder gar als Sozialkritik zu lesen –, sondern es wird gezeigt, wie Ariosto, durchaus in einer karnevalesken Satirentradition, in „unendlichen Illusionsverkettungen“ und „unentscheidbaren Zweideutigkeiten“ (79) ästhetische und semantische Ambiguitäten schafft, die metonymisch mit nichts weniger als der epochalen Rationalität des Primo Cinquecento verknüpft sind. Ariostos unauflösliche Überblendung unterschiedlicher Bezugssysteme bringt eine episteme, für die Wahrheit und Schein ineinandergreifen, diskursiv und performativ zur Darstellung.
Im postrinascimentalen Theater ab dem Seicento wird bekanntermaßen mit dem Erfolg des Dramma per musica oder Melodramma die Musik ein prägendes Element des italienischen Theaters; während das Komische dabei in der Tragikomödie des Seicento noch einen gewissen Platz in der Leitgattung hatte, wird es im Settecento mit dem Siegeszug der Opera seria im Sinne das arkadischen Klassizismus aus der hohen Gattung ausgelagert und findet sich musikdramatisch nur noch in Intermezzi, wo es vielfach mit (an sich unkomischen) Sprach- und Verhaltensmustern der Galanterie verbunden wird. In diesem Feld verortet Florian Mehltretter das nach dem Libretto von Gennaro Antonio Federico 1733 von Pergolesi in Neapel vertonte Intermezzo La serva padrona im Spannungsfeld zwischen Opera seria, Commedia per musica und Opera buffa; kulturgeschichtlich ist für Mehltretter dabei nicht nur von Belang, dass mit der virtuosen Serva padrona die Kleingattung aufgrund ihres überwältigenden Erfolgs in der höfischen Kultur des europäischen 18. Jahrhunderts beinah umgehend die Hauptgattung verschattet und gleichzeitig Ansätze zur Herausbildung der Opera buffa liefert. Auch zeichnet Mehltretter die Rolle der Serva padrona für den aufklärerisch geprägten französischen Buffonistenstreit (Querelle des Bouffons) nach. Im knappen Raum des Aufsatzes dekuvriert Mehltretter sehr genau und einleuchtend, wie die Transposition der Serva padrona in Rezeptionszusammenhänge, die von der librettistischen wie musikalischen Entstehung des Werks her so nicht absehbar waren, verblüffend weitreichende ästhetische und epistemische Neuerungen freisetzt: während in der Herkunftskultur des Werks das Naive vor allem komisch besetzt war, wird es im französischen Kontext dann als Momentum unmittelbarer Affektivität aufgewertet. Von Grimm bis D’Alembert bringen die Philosophes Federicos/Pergolesis kleine Oper als Gegenmodell zu der von der Académie Royale de Musique autoritativ gesicherten tragédie lyrique in Anschlag, und zwar als Ausdrucksdispositiv einer einfachen Natürlichkeit. Dabei zeichnen sich durchaus unterschiedliche Argumentationslinien ab: einerseits (Lettre de M. Grimm sur Omphale a.d.J. 1752) wird leicht paradox argumentiert, gerade die Kunst der italienischen Oper sei in besonderem Maße dazu angetan, den Mangel an Naturwahrscheinlichkeit im allzu künstlichen Opernduett zu beheben (221–2), andererseits findet sich in D’Alemberts De la liberté de la Musique von 1754 die Feststellung, La serva padrona stehe schlichtweg für einen „style vrai, noble, & simple“, der als „imitation de la nature“ geradewegs in eine „vérité de l’expression“ münde (226). Hier wird die ganze Spannweite und eben auch die historische Bedeutsamkeit des Settecento als Übergangsjahrhundert deutlich, in dem aus einem Meisterstück des napoletanischen Huldigungstheaters heraus eine Ausdrucksästhetik entwickelt wird, welche im Großen und Ganzen die moderne Kunstauffassung im Kern prägen sollte. Freilich scheint mir nicht nur die erhebliche ästhetik- und rationalitätsgeschichtliche Reichweite des Beitrags über das kleine Intermezzo seine besondere Stärke auszumachen; auch die beeindruckende Fähigkeit des Vf., das Zusammenspiel von Libretto und Musik in seiner Funktion durchsichtig und in seiner Wirkung nachgerade präsent zu machen, stellt einen außerordentlichen Vorzug des Mehltretterschen Textes dar. Überhaupt ist – nicht zuletzt in Anbetracht des von den Herausgebern angezielten Publikums – als ausgesprochen verdienstvoll hervorzuheben, dass der Band die italienische Oper (und nicht nur deren Librettistik) entschlossen in den Blick rückt. Zwar wird meist die Textualität der Opern etwas stärker gewichtet (dies wird teils historisch begründet, wenn Katharina Piechocki betont, die Oper habe bis ins 18. Jahrhundert hinein als „eher literarisches Genre“ gegolten, 175), stets aber wird ihre Musikalität so behandelt, dass sich auch hier ein aussagekräftiges und anregendes Bild ergibt. – Der von Anlage, Anliegen und Umsetzung her erfreuliche Band wird seine Wirkung in der community italianistisch Forschender, Lehrender und Studierender sicher nicht verfehlen.
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