Die Vielschichtigkeit der oratione in Claudio Monteverdis Madrigalœuvre: über Christophe Georis’ Monographie Claudio Monteverdi letterato ou les métamorphoses du texte
Katelijne Schiltz
Christophe Georis, Claudio Monteverdi letterato ou les métamorphoses du texte, Bibliothèque de littérature générale et comparée 113 (Paris: Champion, 2013), 743 S.
Angesichts des von Claudio Monteverdi in einem Brief vom 9. Dezember 1616 geäußerten Statements „questa professione della poesia non è mia“, mag der Titel von Christophe Georis’ 2013 erschienener Monographie überraschen. Denn wie kann Monteverdi (1567–1643), der wie kein anderer Komponist den Übergang von der Renaissance zum Barock verkörpert, als letterato gelten? (Die Pluralität der Bedeutungen des italienischen Terminus – Literat, gelehrt, belesen – wird auch hier zunächst einmal stehen gelassen.) In seinem Manifest für die seconda pratica plädierte Monteverdi zwar mit dem mittlerweile berühmten Motto „l’oratione sia padrona del armonia e non serva“ für die Vorrangstellung der oratione (zur genauen Bedeutung dieses Terminus s. unten) über die armonia und legitimierte somit angebliche Regelverletzungen des klassischen Kontrapunkts (von ihm als prima pratica bezeichnet), aber als Dichter trat er nie in Erscheinung.
Die in der Einleitung zu Georis’ Buch zitierte Aussage von Angelo Grillo, das musikalisch vertonte Gedicht sei wie ein Phönix – es stirbt und wird wieder geboren –, dürfte den Kern der Studie ziemlich genau treffen. Georis betrachtet Monteverdis Madrigalbücher in erster Linie nicht als musikalisches Œuvre, sondern er lenkt den Fokus dezidiert auf die vertonten Texte. Er ist nicht der erste, der dies tut, aber hier geschieht das zum ersten Mal systematisch und unter Einbeziehung aller Madrigalbücher: Vor dem Hintergrund sowohl der einzelnen Texte (diese werden als „microtexte“ bezeichnet) als auch der Struktur des jeweiligen Gesamtbuchs (der „macrotexte“) untersucht er die literarischen Entscheidungen des Komponisten: von der Auswahl des Dichters und des Gedichts über die unterschiedlichsten Adaptionen der Vorlage (durch Weglassung, Hinzufügung, Extraktion, Substitution usw.) bis hin zur Platzierung des Stückes innerhalb der Sammlung. Durch „Monteverdi letterato“ will Georis – so könnte die These der Monographie lauten – „Monteverdi musico“ besser verstehen.
Den Grundstein für diese Studie scheint Georis vor ungefähr fünfzehn Jahren gelegt zu haben: In dem Aufsatz „Métamorphose du texte: musique et poésie chez Monteverdi“1 thematisierte er anhand eines Madrigals aus Monteverdis achtem Madrigalbuch den Umgang des Komponisten mit dem Text. Der Begriff „réécriture“ nimmt auch in der Monographie eine zentrale Stellung an. Für Monteverdis Neuformulierungen/Neufassungen von Gedichten, in denen teilweise die Syntax und die Prosodie respektiert werden und er teilweise dagegen verstößt, gibt es laut Georis mehrere Gründe. Er unterscheidet im dritten Kapitel (57–78) vier Kategorien bzw. Strategien der „réécriture“ und belegt diese mit zahlreichen Beispielen: literarisch (hier wird nochmal zwischen „coupures“ und „substitutions“ unterschieden), musikalisch (insb. wenn das prosodische Schema eines Gedichts durch eine musikalische Segmentierung verändert wird, wie z. B. in Vago augelletto aus dem achten Madrigalbuch), repräsentativ (dies ist oft bei monodischen Passagen ab dem fünften Buch der Fall; in Giambattista Marinos Misero, Alceo [Buch 6] werden mehrere Pronomina geändert) und metadiskursiv (wenn Monteverdi etwa die Betonung auf die Kunst der Musik oder des Singens – statt des Dichtens – lenken will; in Zefiro torna ändert er gleich am Anfang die „soavi odori“ in „soave accenti“). Gleichzeitig muss bei der Kartierung von „réécritures“ dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es bereits bei der Überlieferung des literarischen Textes zu einer Variabilität kommen kann. Denn die Frage, ob eine Variante dem Komponisten oder einer unbekannten bzw. verloren gegangenen Version zuzuschreiben ist, kann nicht immer eindeutig beantwortet werden.
Vor dem Hintergrund dieser notwendigen methodischen Vorsicht analysiert Georis die acht Madrigalbücher Monteverdis, deren Komposition sich über eine Zeitspanne von mehr als fünfzig Jahren erstreckt: Der noch in seinem Geburtsort Cremona entstandene Primo libro wurde 1587 gedruckt, die Madrigali guerrieri, et amorosi 1638, fünf Jahre vor seinem Tod. (Die postum erschienenen Madrigali e Canzonette von 1651 werden nicht berücksichtigt.) Bevor er im zweiten Teil der Studie zu einem close reading aller Madrigalbücher gelangt, beleuchtet Georis in Kapitel 4 (79–92) den Sonderfall des Combattimento di Tancredi e Clorinda aus dem achten Madrigalbuch. Hier rekurriert der Komponist auf zwei Vorlagen: Torquato Tassos Gerusalemme liberata und dessen Gerusalemme conquistata. Eine Untersuchung von Monteverdis Vertonung zeigt die „stratégie sélective“ des Komponisten und bringt Prozesse wie „extractions“, „coupures“ und „ajoutes“ besonders deutlich zu Tage. Das (sehr kurze) Kapitel 5 (93–5) greift am Schluss des ersten Teils noch einmal die Bedeutung der „oratione“ (vgl. oben) auf. Statt sie als Synonym für „Text“ zu verstehen, deutet Georis den Begriff überzeugend als eine „réalité distincte“, die nicht einfach mit „poesia“ gleichzusetzen ist. Für ihn ist die „oratione“ ein eigener Prozess, das Ergebnis einer „réécriture“ (in syntaktischer, prosodischer und/oder klanglicher Hinsicht). „Oratione“ ist somit ein integraler Bestandteil des musikalischen Werkes und das Resultat der literarischen Arbeit eines Komponisten.
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Der zweite Teil öffnet mit einer sehr lesenswerten Reflexion über das Buch als Makrotext. Die Madrigalsammlung als Sammlung sei, so Georis, ein „objet artistique négligé“. Tatsächlich richten die meisten Monteverdi-Forscher ihre Aufmerksamkeit auf einzelne ausgewählte Stücke innerhalb eines Buchs. In der Forschung werden üblicherweise literarisch und musikalisch auffällige Madrigale hervorgehoben, während andere Stücke als weniger interessant oder ambitioniert eingestuft und somit nahezu vernachlässigt werden. Jedoch trägt jedes Werk zum libro de’ madrigali bei. Das Buch, als Gerüst und als Bezugssystem, nennt Georis ein „œuvre implicite“ (100). Jeder von Monteverdis libri ist geprägt von Entscheidungen hinsichtlich der Intention, der Wahl der Texte (wie etwa epische Dichtung in Buch 3), der Bandbreite der Kompositionstechniken (wie etwa Basso continuo am Ende von Buch 5 oder das genere concitato in Buch 8), der Anordnung der Stücke usw. Hier wäre allerdings anzumerken, dass Georis immer nur von Monteverdi als einzelnem Entscheidungsträger ausgeht. Man müsste wenigstens die Möglichkeit erwägen, dass weitere Personen an der Organisation einzelner libri beteiligt gewesen sein könnten, auch wenn sie nicht beim Namen genannt werden. So wäre es nicht undenkbar, dass etwa ein Drucker wie Ricciardo Amadino (bei dem Monteverdi den Großteil seiner Madrigalbücher veröffentlichte) oder ein Editor mitverantwortlich für die Gestaltung der Bücher waren.
Seinen Analysen legt Georis einen theorischen Rahmen (107–20) zugrunde. Er knüpft an die Forschungen zur Intertextualität (Genette) und zur strukturellen Semiotik (Greimas) an und untersucht auf dieser Grundlage die Narrativität der einzelnen Bücher.2 Zu den Kategorien, die er unterscheidet, gehört auch die „iconocité diagrammatique“ (115–6). So ist beispielsweise der Anfang des zweiten Madrigalbuchs mit Tassos Non si levava ancor l’alba novella von einem inchoativen Gestus geprägt, während das letzte Stück mit Bembos Cantai un tempo (von dem nur die beiden Quartette vertont werden) einen rückblickenden Charakter hat. Darüber hinaus wird das Anbrechen eines neuen Tages in Non si levava mit der „neuen“ Dichtung Tassos verbunden, während für die partenza im letzten Madrigal ein Gedicht des „Klassikers“ Bembo gewählt wird. (Hier wäre allerdings zu fragen, ob man unbedingt auf die Theorie der Semiotik zurückgreifen muss, um zu dieser Interpretation zu gelangen.)
Es ist im Rahmen einer Rezension unmöglich, Georis’ Befunde zu allen Madrigalbüchern zu präsentieren. Seine Interpretationen bieten viele neue Impulse für die Monteverdiforschung im Allgemeinen und das Verständnis der Madrigale im Besonderen. Besonders beeindruckend ist, wie Georis auch zwischen den einzelnen Büchern Kontinuitäten aufweisen kann und wie er die Paratexte in die Interpretation der Gedichte einbezieht (z. B. die Verbindung zwischen Ecco Silvio und dem berühmten Vorwort an die „studiosi lettori“ im fünften Buch). Im sechsten Madrigalbuch werden erstmals zwei große Namen vertont: Petrarca und Marino. Allerdings sind es Texte von zwei weiteren Dichtern, die die Struktur des Buches vorgeben: Ottavio Rinuccinis berühmte Lamento von Arianna Lasciate mi morire und Scipione Agnellis Sestina Incenerite spoglie. Dass in diesem Zusammenhang der Beitrag von Lothar Schmidt zur Struktur des sechsten Buchs nicht genannt wird, ist freilich bedauerlich.3 (Insgesamt fällt auf, dass Georis die deutschsprachige Sekundärliteratur unerwähnt lässt. Von Monteverdi-Forschern wie Silke Leopold oder Linda Maria Koldau werden nur Veröffentlichungen auf Englisch oder Italienisch genannt.)
Das Kaiser Ferdinand III. gewidmete achte Madrigalbuch, das zugleich als Testament und Synthese betrachtet werden kann, nimmt logischerweise den größten Raum ein. Auf die Analyse des Vorworts folgen Überlegungen zur Anlage des Buchs. Gemäß dem im Vorwort formulierten Motto, „che gli contrarij sono quelli che movono grandemente l’animo nostro, fine del movere che deve havere la bona Musica“, sind die Madrigali guerrieri, et amorosi trotz des hohen Maßes an varietas (hinsichtlich Textur, Stil, Besetzung, poetischen Gattungen, Dichtern usw.) durch eine klare Struktur gekennzeichnet. Die von der Bipolarität Krieg – Liebe (vgl. den Titel) bestimmte Zweiteilung wird immer wieder durch strukturelle Parallelen bestätigt, gleichzeitig spielt – so argumentiert Georis – Monteverdi auch mit den Grenzen der Gegenüberstellungen.
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Der Anhang (343–703) nimmt ziemlich genau die Hälfte des Buchs ein. Georis präsentiert hier zu jedem Madrigalbuch den Text und die Übersetzung aller vertonten Texte und versieht sie mit einem Kommentar, der unter anderem Informationen zum Reimschema, zu literarischen Besonderheiten (etwa Wortspielen), zur Textgattung und selbstverständlich zur literarischen Quelle enthält. (Eine Besonderheit sind die dem Ballo delle ingrate hinzugefügten Anmerkungen aus Federico Follinos Compendio von 1608; diese Quelle enthält interessante Details zur Inszenierung des Ballo in Mantua.4) Auch die Widmung und die Tavola sind jeweils abgedruckt.
Das Buch ist sehr sorgfältig gestaltet, eine Bibliographie (705–26) und ein Index der besprochenen Kompositionen (727–34) runden den üppigen und erkenntnisreichen Band ab. Es ist sehr zu hoffen, dass Georis’ Buch, das die Frucht von vielen Jahren Arbeit darstellt, auch von einer nicht-französischen Leserschaft rezipiert werden wird. Für unsere heutige Wissenschaftspraxis, bei der nicht zuletzt im angelsächsischen Raum fremdsprachige Sekundärliteratur leider allzu oft „ausgeblendet“ wird, wäre dies ein wichtiges, aber dringend notwendiges Signal.
Christophe Georis, „Métamorphose du texte: musique et poésie chez Monteverdi. Le VIIIe livre de madrigaux, ‚Ogni amante è guerrier‘“, Revue de la Société liégeoise de Musicologie 13–14 (2000): 73–121.↩
Überraschenderweise wird Neil Fraistat, Hrsg., Poems in their Place: the Intertextuality and Order of Poetic Collections (Chapel Hill–London: University of North Carolina Press, 1986), nicht genannt. Insbesondere die „Introduction: the Place of the Book and the Book as Place“ (3–17) hätte hier aus literaturwissenschaftlicher Perspektive viel beisteuern können.↩
Lothar Schmidt, „Monteverdis ‚Lagrime d’Amante al sepolcro dell’Amate‘ und die Anlage des 6. Madrigalbuches“, in Tod und Musik im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von Günter Fleischhauer, Wolfgang Ruf, Bert Siegmund und Frieder Zschoch, Michaelsteiner Konferenzberichte 59 (Michaelstein-Blankenburg, 2001), 63–81.↩
In diesem Zusammenhang ist es bedauerlich, dass Georis Bernhold Schmids Interpretation des Ballo delle ingrate nicht verwendet: Bernhold Schmid, „Claudio Monteverdis ‚Ballo delle ingrate‘ – eine Persiflage auf den Totentanz?“, in Tod in Musik und Kultur: zum 500. Todestag Philipps des Schönen, hrsg. von Stefan Gasch und Birgit Lodes, Wiener Forum für ältere Musikgeschichte 2 (Tutzing: Hans Schneider, 2007), 377–98.↩
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