Bolaño und die Folgen: der globale Roman aus lateinamerikanischer Perspektive

Samir Sellami

Héctor Hoyos, Beyond Bolaño: the Global Latin American Novel (New York: Columbia University Press, 2015), 292 S.

Anders als der Titel Beyond Bolaño: the Global Latin American Novel befürchten lässt, geht es Héctor Hoyos in seinem wegweisenden Buch nicht um die Entthronung des unangefochtenen Stars der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur, sondern um Projekte, die an Bolaños Formenhorizont anschließen oder sich produktiv abweichend zu seinem Modell verhalten. Die latente Widersprüchlichkeit, die in der Zusammensetzung von „global“ und „lateinamerikanisch“ besteht, dient dem Vf. dabei als elegante Einstiegsfigur für seine methodisch, analytisch und stilistisch mitreißende Argumentation. Im Fokus seiner Analyse stehen Romane, die aus einer je spezifischen lokalen, historischen und ästhetischen Situation die Welt als Ganzes zu beschreiben versuchen. Diese im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert vermehrt auftretenden world narratives bezeichnet Hoyos im Anschluss an Borges’ berühmte Erzählung als alephs. Der latenten Paradoxie gemäß, aus der je spezifischen lokalen Beschränkung heraus die ganze Welt ins Auge zu fassen, sind solche Erzählungsversuche von vorneherein zum Scheitern verurteilt, was die jeweiligen Autoren aber nicht davon abhält, sie dennoch zu unternehmen. Eine den Lesern Bolaños vertraute Figur, die Unternehmung des intellektuellen Abenteuers in der Gewissheit zu scheitern, wird hier in einen größeren Kontext übertragen. Exemplarisch, wird ein gutes Dutzend lateinamerikanische Romane versammelt, die sich in die globalen Verflechtungen ihrer Wirkungs- und Lebensräume ihrerseits stilistisch, erzählerisch und philosophisch verstricken.

Methodisch setzt sich Hoyos drei Ziele, die er im Laufe seiner Analysen mit nur wenigen Einschränkungen erreicht: erstens die Identifikation eines minimalistischen literarischen Korpus, der in der Folge durch pointierte close readings auf seine ästhetische, politische und philosophische Sprengkraft hin befragt wird; zweitens die Reflexion über kulturelle Bedingungen und Gründe der Emergenz einer neuen literarischen Form: des globalen Romans aus lokaler Perspektive; und drittens die dialogische Erschließung soziologischen Wissens über die erzählten globalen Zusammenhänge, die von der sporadischen Hinzunahme einschlägiger Texte der Frankfurter Schule, von Hannah Arendt, Zygmunt Bauman, Raymond Williams. u.v.m. theoretisch informiert wird.

Wie wenig die Darstellung von Globalität im Roman von traditioneller Mimesis abhängig sein kann, zeigt bereits das erste Kapitel, das sich im Ausgang von Bolaños La Literatura Nazi en América (1996) zwei weiteren fantastisch-dystopischen Welt-Narrativen widmet: Jorge Volpis En busca de Klingsor (1999) und Ignacio Padillas Amphitryon (2000). Alle drei Texte erproben in stilistisch, genretechnisch und analytisch herausfordernder Weise Konstruktionen kontrafaktischer Geschichtsverläufe, die das oft in die Geschichtsbücher und Museen abgeschobene Nachleben des Faschismus nach dem Zweiten Weltkrieg übertreiben und in erschreckender Weise plastisch werden lassen. Besonders anschaulich wird hierbei die eigentliche Funktion literarischer Erfindung, die nicht nur Geschichte illustriert, sondern sie vielmehr interpretiert. Anstatt historische Geschehnisse bloß wiederzugeben, eröffnen die Romane ein dreigliedriges Problemfeld, nämlich erstens die Frage, was zu einem gegebenen oder imaginierten Zeitpunkt möglich gewesen wäre; zweitens, warum es nicht so kam, wie es hätte kommen können; drittens schließlich, was stattdessen passiert ist und noch passiert sein könnte. Obwohl anders als für einen im Klischee erstarrten postmodernen Zugriff hier nicht alle Fragen offen bleiben und der globale Roman, wie ihn der Vf. im Blick hat, durchaus konkretes Wissen produziert und nicht nur Zeichenzusammenhänge gegeneinander ausspielt, herrscht auch in den besprochenen Romanen literarische Komplexität vor, statt allzu klarer Antworten (43). Gegen eine globale Vision, die im Ausgang von Manuel Castells, den freien Fluss von Informationen propagiert, bestehen Hoyos und die von ihm analysierten Romane auf der Kraft literarischer Resistenz, auf Friktion der Daten statt freiem Fluss, auf andauernden Konflikt statt verklärender Versöhnung (61).

Im zweiten Kapitel widmet sich Hoyos anhand von Chico Buarques Budapeste (2003) einem medial unterrepräsentierten, aber umso relevanterem Problemfeld: den Migrationsbewegungen innerhalb des sogenannten ‚Globalen Südens`. So umstritten der Begriff als politische und soziologische Kategorie sein mag, dient er dem pragmatischem Zugriff des Vfs. wiederum als idealer Ausgangspunkt für die Analyse eines Romans, der den grotesk anmutenden Migrationsverlauf eines brasilianischen Ghostwriters erzählt: In Ungarn als Schriftsteller gefeiert, muss dieser sich permanent zwischen zwei Sprachen, zwei denkbar unverbundenen kulturellen Räumen und zwei Frauen entscheiden, ohne sich letztlich festlegen zu können. Der sentimental anmutende Plot der brasilianischen Sängerlegende Buarque hält Vf. nicht davon ab, der Lektüre Komplexität, ästhetische Sinnlichkeit und soziologische Aussagekraft abzugewinnen. So liest er Budapeste genretechnisch als antiheroisches und mit einiger Ironie ausgestattetes Update des höfischen Liebesromans (68), stilistisch als Invokation der lyrischen und rhythmischen Kraft der Sprache gegen die Reduktion auf Inhalte, politisch als allegorische Anspielung auf die artifizielle Konstruktion der BRIC-Staaten (94), die aufgrund ihrer Größe und aus ökonomischer Vergleichbarkeit eine Einheit bilden, die aber kaum substanzielle kulturelle Beziehungen zueinander unterhalten. Ähnlich wie bei Buarques Protagonisten sind es mehr Zufälle oder willkürliche Setzungen (hier des Autors, dort der Ökonomen), die Nationen und Charaktere zueinander führen, als tief sitzende kulturelle Gemeinsamkeiten. Diese Figur lässt sich auf Hoyos’ Verständnis des globalen Romans im Allgemeinen übertragen – und auf die Wirklichkeit, an der er sich abarbeitet: Die Globalität des Noch-zu-Erzählenden ist bereits Wirklichkeit, als Fakt oder als Konstruktion, während die kulturelle Imagination dieser neuen Wirklichkeitsformation erst noch gerecht werden muss (4–6).

Während im Barock, bei Shakespeare und Calderón, die Welt den Menschen noch als große Theatermaschine erscheinen konnte, ist es heutzutage der Supermarkt mit seiner gleichmäßig grellen Beleuchtung, den seriell angeordneten und aggressiv verpackten Konsumgütern und seiner Verstrickung in die weltweite Organisation und Ausbeutung von Arbeitskraft, der sich als aleph für die globale Welt im 21. Jahrhundert anbietet. Spätestens in diesem dritten Kapitel wird der methodische Vorzug dieses Projekts in seiner ganzen Breite deutlich: Neben eingängigen Analysen von Diamela Eltits Mano de Obra (2002) und César Airas La Prueba (1992) öffnet der Vf. immer wieder blitzartig den Raum für literaturhistorische Referenzen und theoretische Projektionen. Waren es im ersten Kapitel kontrafaktische und im zweiten lyrische Verfahren, die dem realistischen Anspruch stilistische Reibung verliehen, erzeugen Eltit und Aira realistische Effekte durch die Mobilisierung konzeptualistischer Schreibweisen. In einer radikalen perspektivischen Verkürzung reiht Eltit raue und unbearbeitete Zeugnisse aneinander, die vom Arbeitsalltag in einem chilenischen Supermarkt erzählen, und denunziert auf diese Weise die verheerenden Auswirkungen der neoliberalen Verdinglichung von Menschen auf Arbeitskräfte, wie es der Titel Mano de Obra bereits ankündigt. Allerdings erfolgt diese Kritik am Neoliberalismus aus einer dezidiert somatischen Perspektive, indem sie zeigt und nicht nur sagt, was das globale ökonomische und politische System mit den Körpern der Betroffenen macht. Die Abstumpfung der Sprache sowie die Kongruenz von Sprachniveau und sozialem Status verkörpern und versinnlichen, was eine diskursive Analyse nur behaupten kann.

Der argentinische Autor Aira, der von Bolaño einst in einem Interview gemeinsam mit Eltit und anderen als herausragender lateinamerikanischer Autor herausgehoben wurde, scheint diese Verkörperung des neoliberalen Systems noch weiter zu treiben, indem er laut Hoyos seine Produktionsweise imitiert (165). In der ironischen Mimikry der entfesselten Produktion, die Aira auf seine Arbeitsformel der fuga hacia adelante gebracht hat, werden sowohl Funktionsweise als auch Kritik neoliberaler Produktionsverhältnisse blitzartig deutlich. Während bei Eltit der Begriff der Arbeit an die Stelle des Diskurses tritt (102), bemüht sich Aira in seiner exzessiven Romanproduktion (bis zu vier Titel pro Jahr) um die Bereicherung des Textes durch die kompromittiernde Geste der hyperkapitalistisch anmutenden Überproduktion.

Diese doppelte Grenze der diskursiven Mimesis wird vom Vf. am Ende des Kapitels schön herausgearbeitet, wenn er darauf hinweist, dass es sich bei den Supermarkt-Narrativen um hyperbolische Phantasien handelt. So wie Shakespeare nicht wirklich glaubte, dass die Welt ein Theater ist, glauben auch Eltit und Aira nicht wirklich, dass die Welt ein Supermarkt ist. Sie zeigen lediglich, dass die Kategorie des automatisierten Konsums für die Organisation unserer Körper und für die „Distribution des Sinnlichen“ (Rancière) eine ähnlichen Stellung einnimmt wie die Kategorien der Performance und Rollenausübung für das 17. Jahrhundert.

Das vierte Kapitel zeigt, dass sich nicht nur Bolaño auf literarisch herausfordernde Weise mit Drogenkrieg und Drogenhandel in Lateinamerika auseinandergesetzt hat. Anhand von Homero Aridjis’ La Santa Muerte (2003) und Fernando Vallejos La Virgen de los sicarios (1994) zeigt Hoyos, wie Literatur ein lokales Phänomen – das in Form von exzessiver Gewalt, Mord, Angst, Einschüchterung und von Abgründen des informellen Arbeitssektors erscheint – in einen transnationalen und interkulturellen Kontext einbetten kann, ohne dabei seine Verflechtung ins Konkrete und Sinnliche aufgeben zu müssen. Dabei entsteht ein neues Genre, das als Nebengattung des globalen Romans gelten kann: die sogenannte narconovela. Mithilfe von Marie-José Mondzains Begriff der iconocratie.1 und Carl Schmitts Kategorie der politischen Theologie (127) macht der Vf. deutlich, wie beide Romane die kompromittierende Verstrickung von christlicher Bildsprache, rücksichtsloser Gewalt, neoliberaler Betriebsorganisation und autoritärem Führerkult offenlegen. Die Romane verorten sich in einer kulturellen Umgebung, in der Bandenführer als Heilige verehrt und folkloristisch in narcocorridas zu anarchischen Helden hochstilisiert werden, während sie in kaum verdunkelten Hinterzimmern mit Politikern und Unternehmern juristische und ökonomische Parallelsysteme errichten. Transnational operierende, kriminelle Organisationen erscheinen dabei als ins Groteske gesteigerte Porträts internationaler Korporationen, ein ästhetisches Verfahren, das die HBO-Serie The Wire in einem anderen Medium genial ins Bild gesetzt hat. Mexiko figuriert in dieser sozioökonomischen Optik als eine von zahlreichen lokalen Manifestationen einer staatlich, ökonomisch und kriminell gemeinsam organisierten ‚Nekropolitik` (149) – ein analytisches Konzept, das Hoyos’ Argumentation an dieser Stelle noch weiter vertiefen könnte, etwa unter Zuhilfenahme der Texte von Achille Mbembe.

Das Kapitel überzeugt durch prägnante Einzelbeobachtungen und einen kritischen Schlussakkord. Da die narconovelas in ihrer ästhetischen Ausarbeitung des Drogenkriegs ihrerseits an der Vervielfältigung und Verbreitung der Bilder mitarbeiten, die sie zu denunzieren vorgeben, kippt ihre kritische Intention mitunter in Sensationalismus und Sentimentalisierung. Genauso wie Songs und TV-Serien (vgl. die eindrucksvolle Kritik des Vfs. an Breaking Bad, 155) können Romane die Ikonokratien von El Chapo und Co. festschreiben, anstatt für eine Neuverteilung des „symbolischen Kapitals“ zu kämpfen.

Mindestens drei Kriterien müssen demnach für Hoyos gegeben sein, damit die narconovela nicht ins Kommerzielle und Opportunistische abrutscht, sondern zur kritischen narcocartography wird. Zum einen darf sie nicht zu sehr Genreliteratur werden, sondern sollte sich an der Grenze und zwischen den Gattungen bewegen – man könnte hier als herausragendes Beispiel an Bolaños 2666 denken. Zweitens sollte sie immer die lange historische Kontinuität und „Residualität“ (Bernard Williams) der Problemlage mit darstellen. Und drittens darf sie nicht der Tendenz zur romantischen Stilisierung des Kriminellen zum anarchischen Helden nachgeben, wie es im Mainstream der hollywood-inspirierten narcofictions üblich ist.

Die produktive Rezeption der europäischen Avantgarden in Lateinamerika hat eine lange Tradition, und in diese Tradition reihen sich die Projekte ein, die im Zentrum des letzten Analysekapitels stehen – m.E. eines der stärksten im vorliegenden Buch. Anhand von César Airas „Duchamp en México“ (1997) und Mario Bellatins Lecciones para una liebre muerta (2005) zeigt das Kapitel, wie der nichttriviale Rückgriff auf Traditionen der europäischen Konzeptkunst und Performance formale Innovation ebenso wie welthaltige Erzählungen hervorbringen kann. Stärker als in anderen Werken von Hoyos’ Korpus, wird diese Welthaltigkeit hier weniger im Dialog mit einer erzählten Wirklichkeit, sondern fast ausschließlich über Form und performative Geste der Texte erzeugt. Gemäß der Verschiebung des Schwerpunkts vom literarischen Text zur literarischen Arbeit (vgl. Kapitel 3) haben beide Texte in ihrer Bewegung zu sinnentleerter Wiederholung Teil an der Maximierung von Unproduktivität, die für Aira zugleich Essenz der artistischen Existenz als auch herausfordernder Widerstand gegen das kapitalistische Gebot des Produzierens ist. Seine meist kaum mehr als hundert Seiten umfassenden Romane, die er als maquetas de implosión (166) bezeichnet, vollziehen der avantgardistischen Konzeptkunst zufolge den permanenten Übergang vom Roman zur bloßen Skizze, zur effizient und intelligent erzählten Absicht, einen Roman zu schreiben. In der Verpflanzung des europäischen Erbes in den lokalen Kontext behaupten die Texte ihre formale und kulturelle Autonomie und umgehen dabei eine doppelte Gefahr: zum einen die unkritische Adaption der aus dem Zentrum in die Peripherie drängenden kulturellen Hegemonie; zum anderen den folkloristischen Rückzug aufs Provinzielle. Vf. liest dies als kosmopolitische Geste (182), als die Einforderung globaler Zugehörigkeit und interkultureller Kontiguität, ohne die Unterschiede, Konfliktpotentiale und die von Gewalt und Ausbeutung beherrschte Kolonialgeschichte unsichtbar zu machen.

In der erzählerischen Aneignung avantgardistischer Gesten und performativer Situationen finden Airas und Bellatins Texte so einen dritten Weg zwischen Nachahmung und Ignoranz: die Erschließung neuer literarischer Formen durch kritische Rezeption und reflexive Aktualisierung der hegemonialen Tradition (188). Sucht man nach einem kritischen Punkt in diesem insgesamt fulminanten Kapitel, wäre es durchaus möglich gewesen, Aira und Bellatin in einen größeren historischen Kontext innerhalb der lateinamerikanischen Literaturgeschichte zu stellen. Die Frage wäre dann, inwiefern sich ihre Aneignungsstrategien von denen anderer prominenter Akteure unterscheiden, die ihre eigene Textproduktion zum Teil in vergleichbarer Weise aus der kritischen Reflexion der europäischen Moderne gewonnen haben; zu denken wäre hier u.a. an Borges, Cortázar, Oswald de Andrade und nicht zuletzt an den titelgebenden Bolaño selbst.

Im Schlusskapitel stehen vor allem methodische Fragen im Vordergrund. Hoyos macht noch einmal deutlich, worin der Vorzug besteht, Romane nicht nur als kulturelle Formen (Texte, Bücher), sondern auch als Träger und Medien kultureller Energien aufzufassen (197). Die kulturelle Umwelt der besprochenen Texte ist die einer „erzwungenen globalen Staatsbürgerschaft“ (211), die den einen die Vorzüge der touristischen Welterkundung ermöglichen, während sie den anderen die Lasten von Ausbeutung, Flucht, Migration und Heimatverlust aufbürden. Der globale Roman sollte sich zu dem latenten Fakt der Globalität weder in ein rein rezeptives noch in ein bloß produzierendes Verhältnis stellen – vielmehr sollte er sich als Ko-Produzent einer Realität verstehen, deren Horizont bereits vorgezeichnet, im Einzelnen aber erst noch gefüllt werden muss (201). Der konkreten Füllung dieses Horizonts aus einer lokal reduzierten Position heraus gilt das Interesse von Hoyos’ Buch. Dabei behauptet er weder, dass Lateinamerika der einzige Kulturraum ist, in dem sich die Emergenz des lokalen globalen Romans aufzeigen lässt, noch dass es sich um den privilegierten Ort einer solchen Analyse handelt. In einer bemerkenswerten Notiz weist der Vf. daraufhin, dass seine Methode weniger logisch als vielmehr strategisch zu verstehen ist: Die vorübergehend und als Hyperbole markierte Zentrierung der Semi-Peripherie Lateinamerika erzeugt andere (und vermutlich bessere) Ergebnisse als die unkritisch deskriptive Bestätigung der Hegemonie des Zentrums (212) – eine Herangehensweise, die an Dipesh Chakrabartys Projekt einer Provinzialisierung Europas2 erinnert.

Im Hintergrund dieser Strategie steht unverkennbar eine das Buch durchziehende Polemik gegen Pascale Casanovas République mondiale des lettres3 und v.a. Hoyos’ Stanford-Kollegen Franco Moretti und dessen Projekt einer quantitativen Erschließung der gesamten Weltliteratur4. Diese Polemik ist m.E. überflüssig, da nichts gegen eine Koexistenz von Morettis distant reading und Hoyos’ durch pointierte close readings breit angelegter kultureller Analysen spricht. Der Vf. reiht sich hier in die Riege der Moretti-Kritiker ein, die nicht müde werden, ihre humanistische Provinz vor dem Eindringen der digital humanities mit ihren teilweise abgestumpften Waffen zu verteidigen. Es ist wenig gewonnen, wenn die faktisch gegebene kulturelle Hegemonie des Zentrums nicht als solche anerkannt wird – eine Ausgangsposition im Übrigen, die Hoyos’ analysierte Romanprojekte allesamt implizit teilen.

Darüberhinaus übernimmt der Vf. selbst die an Casanova kritisierte Rhetorik von Kampf und Wettbewerb, wenn er feststellt: „weaker cultural economies must collaborate, but also compete, with stronger ones“ (221). Die deskriptive und quantiative Erschließung der weltliterarischen Kräfteverhältnisse wird somit zur Bedingung nicht der Unmöglichkeit, sondern der Möglichkeit, den spezifischen Beitrag der lateinamerikanischen Literatur an der Herausbildung „globaler Allegorien“ (190) zu verstehen und vielfältige Alternativen zu bestehenden kulturellen Hegemonien zu ersinnen.

Eine wichtige Mahnung geht dabei von der Beobachtung aus, dass die bloße Existenz eines globalen Romans aus lokaler Perspektive noch nicht ausreicht, einen kritischen Beitrag zu liefern. Der Moment, in dem der globale Roman – im Fahrwasser von Bolaños Welterfolg 2666 – von Autoren als vielversprechendes Spekulationsobjekt auf dem literarischen Weltmarkt aufgefasst wird, ist längst gekommen. Die so entstandene Spielart des kritischen globalen Romans, die Tim Parks nachvollziehbar als The Dull New Global Novel bezeichnet hat, tut alles dafür, „Hindernisse für das internationale Verständnis“5 aus ihrer kulturellen Agenda herauszustreichen, um einfache Lesbarkeit und Übersetzbarkeit für eine möglichst große internationale Leserschaft zu erzielen. So entstehen Texte aus der Konserve, die ihren globalen Anspruch nur vorgeben, nicht aber in eine formal und analytisch anspruchsvolle Poetik überführen können. Mit Beyond Bolaño: the Global Latin American Novel ist es Héctor Hoyos gelungen, ein Buch gegen diese bedauernswerte Tendenz zu schreiben, dem weit über die Grenzen von Komparatistik und Lateinamerikanistik hinaus viele Leser zu wünschen sind.


  1. Vgl. Marie José Mondzain, L’image peut-elle tuer? (Paris: Bayard, 2002).

  2. Dipesh Chakrabarty, Provincialising Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference (Princeton: Princeton University Press, 2000).

  3. Pascale Casanova, République mondiale des lettres (Paris: Seuil, 1999).

  4. Franco Moretti, „Conjectures on World Literature“, New Left Review 1 (January-February 2000), http://newleftreview.org/II/1/franco-moretti-conjectures-on-world-literature.

  5. Tim Parks: „The Dull New Global Novel“, New York Review of Books, 9. Februar 2010, .





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