Im Labyrinth von Stadt und Text

Abdelkébir Khatibis Triptyque de Rabat und La mémoire tatouée

Beatrice Schuchardt

Einleitung: Stadt und Text als postkoloniale Labyrinthe

Wie Hans-Jürgen Lüsebrink und Sylvère Mbondari in ihrer Einleitung zu Villes coloniales/Métropoles postcoloniales ausführen, sind nicht-europäische literarische und kinematographische Repräsentationen der Stadt durch einen Willen zum „contre-discours“ geprägt: Sei es, indem sie mit den Mitteln der Fiktion die Widersprüche (post)kolonialer Städte, ihre Abgründe und Konflikte aufzeigen, sei es, indem sie den aus der Kolonialzeit hervorgegangenen Synkretismen und den hybriden Charakter dieser Metropolen hervorheben oder sie, die dritte Variante, den Fokus auf die Abgründe und Konflikte dieser urbanen Zentren legen.1 Zugleich zeichne sich die literarische und mediale Ästhetisierung von Städten im postkolonialen Kontext durch die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften aus: zwischen „‚co‘ (le cosensuel-convivial-conforme-compénétré, etc.)“, „‚dis‘ (disparate-disséminé-dissonant-disjoint, etc.)“ und „‚trans‘ (transculturel-transgression-transévaluation-transposition, etc.)“.2 Auch in den Romanen La mémoire tatouée (1971) und Triptyque de Rabat (1994) des marokkanischen Autors Abdelkébir Khatibi erweist sich die Stadt als ein kulturell und historisch vielfach geschichteter Raum, ist also ‚trans-‘ im Sinne von ‚trans-culturel‘. Dieser Raum gestaltet sich in der konkreten körperlichen Erfahrung der ihn durchquerenden Subjekte ebenso lustvoll und nostalgisch – ist also ‚co-sensuel‘ – wie er gleichzeitig abgründig und verunsichernd und somit ‚dissonant‘ bzw. ‚disjoint‘ erscheint. Khatibis Stadtentwürfe erscheinen somit als aus einem poetisch verdichteten Textgewebe entstehende ‚Labyrinthe der Zeichen‘. Die vorliegende Studie spürt der Struktur des Labyrinthes als räumliche Konfiguration, Metapher und konkrete sinnliche Erfahrung des Sehens und Tastens nach.

Khatibis literarische Texte zu erkunden bedeutet für den Leser, die lineare und teleologische Bewegung auf ein bestimmtes Ziel hin zu verabschieden, und sich stattdessen auf eine Bewegung der Simultaneität einzulassen, die verschiedene Ebenen eines palimpsestischen Textes3 gleichzeitig tangiert. Khatibis Konzeption des Labyrinths unterscheidet sich deutlich von architektonischen Labyrinthen nach europäischem Verständnis: Wenn diese mit der Dialektik von Sackgasse und Ausweg spielen, so ist die Desorientierung des Passanten dort lediglich eine Etappe auf einem Weg, der auf den Ausgang als unausweichliches Ziel gerichtet ist, und der letztlich Erlösung vom Zustand der Verwirrung verspricht. Bei Khatibi hingegen dominiert die Lust an der Bewegung selbst. Die durch die poetische Dichte seiner literarischen Texte entstehende Verwirrung wird nicht etwa aufgelöst, sodass es zu einer Aufhebung des Zustands der Desorientierung käme. Vielmehr liegt der Lustgewinn bei Khatibi in der Verwirrung selbst: Durch das permanente Touchieren eines ‚Reichs der Zeichen‘ im Barthes’schen Sinne4, ein Reich, das nicht durchdrungen oder durch Sinnzuschreibung überwunden werden kann, feiern Khatibis Texte die Momenthaftigkeit des Ereignisses und attackieren somit das Symbol als ‚semantische Operation‘5. Damit bewegen sie sich eng am Textverständnis Roland Barthes‘, wie dieser es etwa in Bezug auf das Haiku6 formuliert.

Khatibis labyrinthische Texte lassen in den Romanen La mémoire tatouée und Triptyque de Rabat ihrerseits Stadtlabyrinthe entstehen, die insofern als „Zeichen-Städte“ zu bezeichnen sind, als dass sie nicht etwa auf Marrakech oder Rabat als reale Städte bezogen wären oder diese mimetisch abzubilden suchten.7 Sie sind vielmehr vertextete und poetische Versionen dieser postkolonialen Metropolen. Ganz im Sinne Lüsebrinks und Mbondaris lenken diese Zeichenstädte den Blick auf den hybriden8 und ambivalenten Charakter des postkolonialen Raums, in dem dichotomische Strategien der Zuordnung und Orientierung im Sinne von einheimisch/fremd, kolonial/autochthon, französisch/marokkanisch nicht mehr greifen. Wenn hier das Adjektiv „postkolonial“ verwendet wird, so bezieht sich dieses auf den Begriff der der „Postkolonialität“ nach Fernando de Toro. Dieser beinhaltet die Dekonstruktion der Strategien kolonialer – und neokolonialer – Epistemologien durch eine Poetik der Dichte9 und des Rhizoms10, die dichotomische Denkmuster durch eine Ästhetik der Simultaneität und Opazität transzendieren und dekonstruieren11. Eine solche Poetik, die mit Frank Jablonka und im Anschluss an Khatibis Konzeption des ‚ausweglosen Labyrinths‘ (s.u.) als eine „Poetik der errance“ bezeichnet werden kann,12 repräsentiert in ihrer Pluralität und Vielschichtigkeit einen Gegenentwurf zur vermeintlichen Stringenz cartesianischer Denkmuster.13 In ihrer Resistenz unterwandern die durch Khatibi geschaffenen textuellen und räumlichen Labyrinthe eine Topografie kolonialer Eroberung, die auf Linearität und Referenzialität ausgerichtet ist. Damit verheißen die textuellen Labyrinthe Khatibis Wagnis und Lust zugleich: Die postkolonialen Zeichen-Städte, wie sie Khatibi in La mémoire tatouée und Triptyque de Rabat entwirft, sind in ihrer Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit nicht nur fruchtbare Nährböden für die Skizzierung transkultureller Identitäten. Sie evozieren einen urbanen Raum, der ebenso verwundbar ist, wie er das ihn durchquerende Subjekt verwundbar macht: Perforiert von den Fragmenten eines durch die koloniale Vergangenheit brüchig gewordenen kulturellen Gedächtnisses, heimgesucht von den „Spektren“ – so die Worte Achille Mbembes (s.u.) – kolonialer und nachkolonialer Gewalterfahrung, konfrontiert dieser Raum mit einer sensuellen Intensität, die zuweilen eine Überforderung darstellt. Symptomatisch hierfür ist die bei Khatibi wiederkehrende Metapher von Licht und Schatten, die – wie im Folgenden gezeigt werden wird – das Subjekt zwischen Blendung und Erblindung schwanken lässt.14 Die vorliegende Studie nimmt daher vor allem die Widerständigkeit der von Khatibi durch eine metaphernreiche und bildhafte Sprache skizzierten Zeichen-Städte in den Blick. Der verwirrende, verunsichernde, und zugleich lustvolle Charakter dieser Städte soll nun vor dem Hintergrund von Khatibis eigener Theorie des Labyrinths gelesen werden, wie er sie in seinem Essay „A Colonial Labyrinth“ (1993)15 skizziert.

Khatibis Konzept des ‚kolonialen Labyrinths‘

Khatibi selbst verweist in seinem Essay „A Colonial Labyrinth“ auf die teleologische Struktur des Labyrinths okzidentaler Tradition, in dem es trotz aller Windungen und Biegungen unmöglich sei, nicht voran zu schreiten. Vielmehr erweise sich die Teleologie dort als ‚Diktat‘. Konkret bezieht sich Autor damit auf die Struktur des Labyrinths in Kreisform, das er als Allegorie eines Fortschrittsdiskurses lesbar macht, der die eigene Teleologie durch Wahl einer nicht-linearen Form zu tarnen sucht. Khatibi adressiert hiermit indirekt die List (frz.: ruse) als Strategie des kolonialen Diskurses. In einem zweiten Typ des Labyrinths, das aus sich kreuzenden Pfaden besteht und das Khatibi ausgehend von den Überlegungen Roger Caillois‘16 vom ersten Typus unterscheidet, ist hingegen die Desorientierung angesichts der immer gleich aussehenden Wegkreuzungen komplett.17

Khatibis eigene Konzeption des Labyrinths erweist sich als komplexer: Sie ist weder mit dem ersten noch mit dem zweiten Typus identisch, greift jedoch den Aspekt der absoluten Verwirrung als Charakteristik des zweiten Typus’ auf. Für Khatibi ist das Labyrinth in erster Linie eine kulturelle Strategie des Umgangs mit dem Raum, die sich durch Bewegung, Begegnung, Kampf („fighting18), Flucht und Verschiebung („displacement) des Körpers im Raum auszeichnet.19 Jene Bewegung des Körpers im urbanen Raum, sieht sich innerhalb der literarischen Texte Khatibis zugleich durch die Bewegung des Zeichen-Körpers in der Textur der Schrift gedoppelt. Sie folgt nicht etwa einer bestimmten Logik, sondern ist vielmehr ein ‚Gebannt-Sein‘ durch die sinnliche Erfahrung („witchcraft of senses“)20 und den vergänglichen Rhythmus‘, dem der Körper durch seine Bewegung im Raum unterworfen ist.21 Diese Bewegung ist nicht etwa auf ein konkretes Ziel gerichtet. Vielmehr handelt es sich ein spiralförmiges und zugleich fließendes Gleiten, das zwischen détour und contour schwankt.22 Mit dem französischen Begriff des détour ist die Verwirrung gemeint, welche die unvorhersehbaren Windungen des kolonialen Labyrinths mit sich bringen. Das Konzept des contour bezieht sich hingegen auf eine Strategie, die es ermöglicht, sich auf diese Windungen einzulassen: Khatibi spricht diesbezüglich von einem ‚fließenden Gang in Falten‘23, der an den Oberflächen von Häuserwänden und den Körpern der Passanten vorbeigleitet, ohne mit ihnen zusammenstoßen. Eine solche ständige Bewegung des Körpers zwischen Verwirrung und Lust ist für Khatibi in erster Linie in den labyrinthischen Räumen von Medina (die arabische Altstadt mit ihren gewundenen Gassen) und Mellah (als dem traditionell jüdischen Viertel innerhalb der Medina) gegeben, zwei Räume, die entsprechend auch in Khatibis Romanen La mémoire tatouée und Triptyque de Rabat eine zentrale Rolle spielen. Mellah und Medina, wie Khatibi sie in „A Colonial Labyrinth“ konzipiert, sind für ihn insofern ambivalente und abgründige Räume, als dass in ihnen die différance im Sinne eines Oszillierens zwischen Eigenem und Fremden sichtbar wird,24 ohne dass das eine die Oberhand über das andere gewänne. Entsprechend ist mit der Medina und der Mellah für die in ihr beheimatete jüdische Diaspora ebenso eine nostalgische Sehnsucht nach dem (verlorenen) Vergangenen verbunden wie das Bedürfnis, in der Diaspora die eigene (kulturelle) Differenz zu bewahren, und somit in der Differenz ‚heimisch‘ zu werden.

Khatibi begreift also das Labyrinth als transitorische Figur des Werdens, das den steten Entzug praktiziert: Der labyrinthische Raum entzieht sich den Arretierungen der kolonialen Kartografierung – Khatibi spricht diesbezüglich exemplarisch vom Versuch des „framing25 der Medina durch den französischen General Lyautey –, da sich der durch Labyrinth gleitende Körper im Moment seiner Wahrnehmung schon wieder anderswo befindet, und somit nicht als arretierbarer Sinn, sondern immer nur als Zeichen-Spur sichtbar ist. Daraus ergibt sich ein zugleich lichtes und opakes Bild von Mellah und Medina, das dem die Sinne überfordernden, blendenden Übergang zwischen Schatten und Licht entspricht. So ist bei Khatibi in Bezug auf die arabische, jüdische und französische Bevölkerung Marokkos auch von drei Blicken die Rede, die durch das Prinzip von Licht und Schatten generiert werden und in deren Rahmen sich die jeweilige Minderheit als perzeptuell nicht eindeutig fassbarer „blinder Fleck“ („stain“) erweist.26 Mit der visuellen Metaphorik von Schattenspiel und Fleck hebt Khatibi zugleich die Übergänglichkeit, Unentschiedenheit und Nicht-Eindeutigkeit kultureller Differenz hervor, anstatt die Grenze als unüberwindbaren Trennstrich zu konstruieren, wie es bei dichotomisch veranlagten Denkmustern kolonialer Prägung der Fall ist. Vielmehr gestaltet sich die Grenze bei Khatibi ganz ähnlich wie bei Michel de Certeau27, nämlich als ein Übergang, als eine Bewegung auf ein Anderes hin. Seine Beschaffenheit als ein „process of becoming“,28 als Raum konstanter Transformationen teilt der postkoloniale Raum des Labyrinths mit dem Gedächtnis: Auch dieses ist steten Veränderungen unterworfen, muss sich das Subjekt dort doch angesichts der Vielfalt eines durch berberische, jüdische, arabische und französische Einflüsse kulturell mehrfach kodierten Raums stetig neu zu erfinden. Spüren wir dieser Übergänglichkeit nun zunächst anhand des von Khatibis La mémoire tatouée entworfenen urbanen ‚Labyrinths der Körperzeichen‘ nach, bevor wir uns dem in Triptyque de Rabat entworfenen ambivalenten Stadtraum Rabats zuwenden, der für die Hauptfigur Idris ebenso ein Labyrinth politischer Seilschaften wie die Stadt seiner Kindheit ist.

La mémoire tatouée: Stadt als Labyrinth der Körperzeichen

Mit dem 1971 erschienenen Text La mémoire tatouée erschafft Khatibi ein den Leser desorientierendes Textgewebe, das Elemente verschiedenster Gattungen und Medien – Autobiographie, Dichtung, Theater, Bilder – in sich vereint und zugleich zu einem lustvollen Sich-Verlieren in Tiefen und Untiefen der Zeichen einlädt, seien es Körper-Zeichen, also Einschreibungen in den Körper wie Tätowierungen und Erinnerungen, Stadt-Zeichen oder die poetischen Zeichen des literarischen Schreibens, das hier mit dem Begriff der écriture29 gefasst werden soll. La mémoire tatouée ist durch eine Verquickung von Gedächtnis und Stadtraum gekennzeichnet, ist der Stadtraum dort doch nicht nur ein Ort des Erinnerns, sondern selbst ein Gedächtnis.30 Mit dem Labyrinth der Medina durchschreitet die Erzählerfigur, die einen radikalen Bruch mit dem selbstidentischen, referentiellen Subjekt der Autobiographie cartesianischer Prägung herbeiführt,31 zugleich die verschlungenen Pfade der eigenen Erinnerung: „Je traverse mon enfance dans ces petites rues tourbillonnantes, maisons de hauteur inégale, et labyrinthe qui se brise au coin de quelque présage.“32

Durch den Aspekt der Reise zwischen verschiedenen marokkanischen und globalen Metropolen33 als zentralem Topos des Romans, ist das Erzähler-Subjekt ein Nomadisches. Als solches bildet es kein homogenes, mit sich selbst identisches Subjekt, sondern eine komplexe, mehrfach gebrochene und in sich verschlungene Seinsform, die in der Bewegung verschwimmt, sich in ihr verliert und entsprechend immer neu zusammengesetzt werden muss. Entsprechend ist Khatibis Erzähler-Ich im komplexen Labyrinth des transmedialen34 Textes immer nur als Kontur35, d.h. als Oberfläche eines Zeichenkörpers sichtbar. Die verdeutlicht die viel zitierte,36 dem Kapitel „Le corps et les mots vorangestellte“ Passage des Romans: „J’ai rêvé, l’autre nuit, que mon corps était des mots.“37 Da also der Erzähler selbst keine feststehende Identität bildet, ist auch sein Verhältnis zum Anderen – dem Okzident – nicht durch scharf umrissene Trennlinien bestimmt, sondern durch ein konstantes Verwischen und Überschreiten der Grenzen zwischen Selbst und Anderem im Rahmen einer ambivalenten Erfahrung: „La fraîcheur mythique de cette rencontre avec l’Occident me ramène à la même image ondoyante de l’Autre, contradiction d’agression et d’amour.“38

Ebenso wie die Bewegung in La mémoire tatouée die Reise eines verschobenen, polyformen Zeichen-Körpers im Raum des Textes ist,39 so sind auch Khatibis Stadt-Entwürfe keine referentiellen und auf eine bestimmte Stadt bezogen. Vielmehr handelt es sich um „Zeichen-Städte“40, die ihrerseits aus einem Labyrinth aus sprachlichen Bildern und Metaphern bestehen, wodurch urbaner Raumund literarischer Text durch ihre beiderseitige Beschaffenheit als Zeichenkonstrukte ununterscheidbar werden. Ein zentraler Topos innerhalb der durchquerten Zeichen-Städte ist entsprechend der Raum der Medina als ein schützendes Labyrinth aus Allegorien. 41 Als ein solches ermöglicht die Medina dem Zeichen-Körper die Zuflucht in der poetischen Mehrdimensionalität der écriture: „J’ai alors la certitude d’être protégé, la rue m’enveloppe de si près que la médina et ses allégories se répercutent dans le labyrinthe de mes phrases.“42 Der schützende Aspekt der Medina als einem über den Text generierten Labyrinth aus komplexen literarischen Bildern besteht dabei nicht zuletzt darin, dass in ihr die semantische Mehrdeutigkeit des eines aus Zeichen bestehenden Körpers wiederhallt, den Fatima Ahnouch als „corps-texte“ bezeichnet.43 Diese Mehrdeutigkeit wird derart gesteigert, dass der „corps-texte“ schließlich in einem unendlichen Maskenspiel aus immer nur auf sich selbst verweisenden Symbolen verschwindet. Dieses Maskenspiel bietet seinerseits Schutz vor dem arretierenden Gestus des kolonialen Diskurses und seinen dichotomischen Zuschreibungen, wie z.B. kolonial vs. autochthon, dunkelhäutig vs. weiß, eigen vs. fremd. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist dieser Aspekt der Maskerade auch in Triptyque de Rabat von Bedeutung.

Doch nicht nur Text und Stadtraum stehen in La mémoire tatouée in einem reziproken Verhältnis, sondern auch Zeichen-Stadt, Zeichen-Körper und Gedächtnis. Dies illustriert die folgende Passage: „Je naquis dans le rythme de ma ville, porté par le vent doux et salé de l’Océan. […] Par le jeu de la dissimulation, le souvenir métamorphose la ville de notre passé en nostalgie blanche; les chemins partent et aboutissent au même nœud, les quartiers un puzzle des formes, de surfaces et de couleurs.“44 Auch hier wird der Aspekt der Maskerade in Form einer Verheimlichung („dissimulation“) thematisiert, auch hier besteht die Stadt aus Zeichen in Form von verschlungenen Straßen, von Oberflächen und Fragmenten, die nicht auch hier nicht auf eine Bedeutung festgelegt werden können, sondern im Gegenteil von einer „mémoire nomade“45 immer aufs Neue hervorgebracht werden und entsprechend wandelbar sind. In der zitierten Textpassage wird das Labyrinth in seiner dem Rhythmus der Stadt folgenden, sensuellen Dimension, in seinem Oszillieren zwischen détour („les chemins partent et aboutissent en même nœud“) und contour („un puzzle des formes, de surfaces“) thematisiert, wie es Khatibi auch in „A Colonial Labyrinth“ skizziert.

Die Dichte der hier gleichzeitig aufscheinenden Ebenen des Labyrinths mit seinem Zeichenpalimpsest aus Straßen, die ihrerseits Eindrücke von Zeichenknoten, Formen, Oberflächen und Farben hinterlassen, führt zur Blendung als einem Effekt der simultanen Erscheinungen und perzeptiven Überforderung. Zu diesem Effekt kommt es in der Wahrnehmung der Stadt durch die nostalgische Brille der Erinnerung. Hierbei wird die die changierende und komplexe Struktur des Labyrinths in das Weiß als Farbe der Trauer und der unerfüllten Sehnsucht überführt. Weiß repräsentiert hier aber auch die perzeptive Überforderung angesichts der Fülle der in der Erinnerung auf das Subjekt einstürmenden Eindrücke, ergibt doch das Aufscheinen aller Farben zugleich Weiß. Die von Khatibi beschworene „nostalgie blanche“ führt schließlich zur Tilgung aller Zeichen. Damit kommt auch der Prozess der endlos aufeinander verweisen Zeichenketten von Körper, Stadt und literarischem Text zur Ruhe.46 Wie Khatibi in „A Colonial Labyrinth“ ausführt, ist es jedoch gerade die Nostalgie, welche die dem Gedächtnis innewohnende Kraft hervorbringt: „[…] memory finds its strength in nostalgia for the past.“47

Triptyque de Rabat: die Stadt als trügerischer Raum im Spanungsfeld von nostalgischer Erinnerung und politischer Gegenwart

In Triptyque de Rabat entwirft Khatibi einen ebenfalls labyrinthischen und zugleich abgründigen Stadtraum, innerhalb dessen der eigenen Wahrnehmung nicht zu trauen ist. Hier ist die postkoloniale Stadt – im konkreten Falle Rabat – als ein Raum konzipiert, der immer wieder an das Onirische und Mythische, aber auch an das Prophetische rührt. Die räumliche Konfiguration des Labyrinths ist hier aber nicht nur eine Allegorie der postkolonialen Metropole Rabat in ihrer historischen und kulturellen Komplexität, sondern auch eine Metapher für ein undurchsichtiges Netz aus Seilschaften sowie einer vom Prinzip des Klientelismus48 dominierten politischen Landschaft. So wird die Zeichen-Stadt – im Text auch „tiroir à romans“ (s.u.) genannt – in ihrer vielschichtigen Poetisierung durch das Textgewebe der écriture scheinbar selbst zum Gegenstand des großen Lauschangriffs einer politischen Clique, die im Verborgenen ihre Intrigen spinnt, und die im Roman mit dem Begriff der der Coterie (dt.: Seil- bzw. Sippschaft) bezeichnet wird: „Il suffirait d’entendre (ou de faire entendre, sur un clavier invisible, le dessous des mots), un son lointain, étouffé et perdu au fond du labyrinthe et de ses rues, pour qu’une ville – toute ville est un tiroir à romans – soit branchée sur une table d’écoute.“49

Dieses omnipräsente Netz der Gefälligkeiten, Verpflichtungen und Überwachungen prägt nicht nur den beruflichen Alltag des Verwaltungsangestellten Idris, dem Protagonisten des Romans, sondern auch sein familiäres Umfeld: Idris’ ehrgeiziger Bruder Ali ist selbst Teil der Coterie. Wenn Idris sich im Rahmen einer Kindheitserinnerung Alis Fähigkeit ins Gedächtnis ruft, im Labyrinth der Medina des heimatlichen Viertels Si Daoui zum unsichtbaren Verfolger zu werden, um so einer feindlichen Bande von Jugendlichen aufzulauern, erweist sich Ali als „une carte portative und mobile“, die sich mit großer Zielstrebigkeit im Labyrinth der Coterie zu bewegen weiß.50 Das Labyrinth gerät hier in der Wahrnehmung Idris’ zum Jagdrevier des Spions, der sich – einem nachtaktiven Raubtier gleich – bei drohender Gefahr in die netzförmige Struktur („filets“, s.u.) der Gassen zurückziehen kann: „Ali, lui, avait vite appris les chemins du labyrinthe et l’art subtil de la filature. […] il disparaissait derrière les filets du labyrinthe, sa trame géométrique que la nuit tombante rend plus intime, désirable au partage progressif du clair et de l’obscur.“51

Wenn hier vom Licht und Schattenspiel innerhalb der abendlichen Medina die Rede ist, so verweist dies auf den von Khatibi in „A Colonial Labyrinth“ adressierten Aspekt des im kolonialen Labyrinth dominierenden Verwirrspiels zwischen blendender Helligkeit und dichtem Schatten. Dieses steht hier im Zusammenhang mit dem Labyrinth als ambivalentem Raum der Zuflucht und der Verunsicherung, ein Raum, in dessen Ambivalenz sich die historische Erfahrung der Kolonisierung spiegelt. Eben jener Aspekt wird auch in Triptyque de Rabat thematisiert, wenn Idris im Auto den ehemaligen Sitz des Generalgouverneurs Lyautey umkreist, eine Szene, die metaphorisch die differenten Topographien von Kolonisatoren und Kolonisierten aufzeigt: auf der einen Seite der in geometrische Formen und somit in die westliche Logik aufgeteilte ehemalige Machtbereich der Kolonisatoren, den Idris fahrend durchquert; auf der anderen Seite das Labyrinth der Medina mit ihrem Gewirr enger Gassen, das Idris’ Heimat ist: „Mouvement circulaire [d’Idris en voiture] circulaire, aléatoire, autour de la Résidence. C’était là le siège su Maréchal Lyautey, dans les années vingt. […] Chacun sa ville, pensa Idris […]. La sienne, il l’avait héritée de la médina, de sa forme en dédale, une forme tissée de ruelles étroites (…).“52 Interessant ist, dass hier Lyautey als schon in „A Colonial Labyrinth“ erwähnte Figur, anhand derer das koloniale framing (s.o.) beispielhaft veranschaulicht wurde, wieder auftaucht.

Besonders fruchtbar für die Analyse des von Khatibi in Triptyque de Rabat entworfenen, ambivalenten Begriffs des Labyrinths erscheint mir Achille Mbembes Konzept des haunting53. Dieses steht im Kontext der postkolonialen Theoriebildung und wurde von kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaftlern wie Michael O’Riley etwa auf das städtische Labyrinth der Casbah von Algier in Assia Djebars Roman La disparition de la langue française angewandt.54 Das Konzept der hantise findet jedoch im Kontext postkolonialer Theoriebildung nicht nur Anwendung auf die Räume des Maghreb und der Subsahara, sondern prägt auch karibische Literaturen.55 Daher taucht es in ähnlicher Form auch in der karibischen Theoriebildung auf, etwa bei Édouard Glissant.56 Mbembe charakterisiert in seiner essayistischen Studie On the Postcolony den postkolonialen Raum als einen heimgesuchten, und zwar von der Nachhaltigkeit der Strukturen kolonialer Gewalt und deren Perpetuierung durch – oft korrupte – nachkoloniale Regime. Eben jene Thematik der Korruption bestimmt in Verbindung mit der Metapher des Labyrinths auch Khatibis Roman. Wie O’Riley ausführt, macht das Phänomen der Heimsuchung den postkolonialen Raum zu einem Nicht-Ort, wo die dort wandelnden Gestalten ihr Dasein in einem Zustand zwischen Leben und Tod fristen.57 In Analogie hierzu werden in Khatibis Roman diejenigen, die es im Angesicht der Coterie an die politische Spitze geschafft haben, als „survivant[s] en politique“ und „revenant[s]“ bezeichnet.58 Wenn hier von einer Anwendbarkeit von Mbembes in Bezug auf die Wahrnehmung postkolonialer Räume nicht unproblematischen59 Begriff der hantise auf Khatibis Text die Rede ist, so muss damit zugleich betont werden, dass Khatibis Figuren und Texte nicht etwa im ‚Heimgesucht-Werden‘ verharren.. Vielmehr verwandelt Khatibi den Topos kolonialer Gewalt und sein Nachwirken in der Gegenwart mittels der Kraft der écriture. Dies geschieht eben über die räumliche Konfiguration des Labyrinths, das ebenso ein lustvoller Raum ist, der für die Hauptfigur Idris eben auch die Heimat der Medina mit ihren vielen Erinnerungen repräsentiert. In diesem Sinne deutet O’Riley etwa Djebars Texte zu einseitig, wenn er von den dortigen Räumen als „heimgesuchten“ spricht, was diesen Räumen und den in ihnen beheimateten Subjekten eine passive, ohnmächtige Rolle zuweist. Die Stadt als Raum der Postkolonialität scheint bei Khatibi und Djebar vielmehr ein ambivalenter Raum zu sein, in dem Abgrund, Wehmut und Chance untrennbar verwoben sind60 Entsprechend erweisen sich revenant und fantôme61 als zentrale literarische Topoi in Khatibis enigmatischer und übernatürlicher Stadttopographie, die ein trügerisches Gewebe aus Zeichen und Vorzeichen bildet. In diesem Gewebe verfangen sich Idris und der Leser gleichermaßen, wenn Idris mit Hilfe seines geheimnisvollen Kontaktmannes „A.L.“ zum einen versucht, das Netz der Coterie zu durchstoßen, zum anderen aber auch in dem den bezeichnenden Namen tragenden Kapitel „Dans le labyrinthe“62 eigene Ermittlungen zum angeblichen Drogentod seiner Geliebten Nafissa aufnimmt. Spätestens dann sind die intertextuellen Anlehnung des Romans an das Genre des roman policier nicht mehr von der Hand zu weisen.

Eine zentrale Rolle nimmt in Triptyque de Rabat neben den Topoi von revenant und fantôme auch die Allegorie des Faucon magique63 ein. Dier ist zugleich das Stadtemblem der geographisch benachbarten und mythologisch verbundenen Nachbarorte Rabat und Salé, zwischen denen der Fluss Oued Bou Regreg als Grenze und Übergang verläuft. Die Sprache des Faucon magique ist im Roman eine prophetische, die sich unter anderem in Form von Naturereignissen wie Erdbeben äußert.64 Verständlich ist diese Sprache nur für den Hellsichtigen, wobei dieser Begriff im Doppelsinn zu verstehen ist: Gemeint ist mit dem Begriff des Visionnaire ebenso der hellsichtig Veranlagte wie der Hoffnungsvolle, optimistisch in die Zukunft Blickende, für den ein Leben jenseits der Machenschaften der Coterie denkbar ist: „[…] le Faucon magique […] parcourait le ciel de Rabat. […] N’est-il pas le symbole de la liberté ailée? […] Le Faucon magique veille sur le partage du jour et de la nuit, sur l’aube et l’assombrissement crépusculaire des deux rives. C’est ainsi que, porté par ses métamorphoses, il se change en allégorie. Ces signes que les habitants de Rabat regardent de loin sans vraiment les recevoir, à qui sont-ils adressés sinon au Visionnaire?“65

Im Laufe des Textes verdichten sich die Hinweise darauf, dass Idris selbst jener Visionnaire sein könnte, erweist dich Idris doch als das Subjekt einer verschobenen, schlafwandlerischen Wahrnehmung, als ein ein am Borges’ Kurzgeschichte „El Aleph“66 gemahnendes Kaleidoskop der simultanen Blicke, das die geheimnisvollen Viertel Rabats durchschreitet.67 Dabei bewegt sich Idris zwischen Verzauberung und Ernüchterung, was an die spanische Barockästhetik und ihren Gegensatz von engaño (dies meint die Täuschung im Sinne eines ‚Bezaubert-Seins‘) und desengaño (die ‚Ent-Zauberung‘ bzw. ‚Ernüchterung‘) gemahnt.68 Idris’ Ernüchterung führt dazu, dass ihm der Stadtraum zunehmend entgleitet. Die Anfänge dieses Prozesses finden sich, als Idris zu Beginn des Romans die zu diesem Zeitpunkt noch lebende Nafissa aufsucht. Während des gemeinsamen Liebesaktes beginnt sich das Haus in der Wahrnehmung Idris’ wie in einem kubistischen Gemälde zu verschieben: „La maison prit la forme d’un corps polyforme […] en cet espace désordonné, presque irréel.“69 Während er im Folgenden und nach Nafissas Tod ihren Spuren im Labyrinth der Gassen der Medina nachspürt, mündet Idris’ verschobene Raumwahrnehmung in ein Gefühl der Entfremdung70 gegenüber der Stadt selbst. Dieses Gefühl der Entfremdung bestimmt im Folgenden auch seine Sicht auf die von ihm aufgesuchten heterotopen71 Orte wie den Friedhof und den Maskenball, die bei Idris ebenso skurrile wie karnevaleske Eindrücke hinterlassen.72

Interessant ist in Bezug auf die ‚verschobene‘ Wahrnehmung Idris’, der in Khatibis Roman die Rolle eines flâneur onirique73 einnimmt, dass der Aspekt postkolonialer Heimsuchung durch die Nachwehen kolonialer Gewalt in den Seilschaften der politischen Gegenwart O’Riley zufolge wesentlich mit dem Aspekt der räumlichen Verschiebung einher geht.74 Der Raum des Politischen und der poetisierte Stadtraum in Verbindung mit einem Gewebe mythischer Vorzeichen erweisen sich in Triptyque de Rabat folglich als Elemente eines opaken und mehrschichtigen Raums der Postkolonialität, in dem simultane und unerklärliche Erscheinungen herkömmliche Formen der Wahrnehmung derart überfordern, dass sich die Perzeption den Erscheinungen anpassen muss und eben deshalb verschoben, simultan und stets trügerisch ist.

Gegen Ende des Romans erweist sich Idris’ Stadtsicht entsprechend als nur scheinbar geschärft, wenn Idris mit vermeintlich visionärer Klarsicht und in Form einer neuerlichen ‚Ernüchterung‘75 konstatiert: „Le Labyrinthe n’existe pas. C’est une illusion d’optique. Oui, une cité peut-elle vivre en sa mémoire sans l’autorité du Visionnaire.“76 Scheinbar findet hier das endlose Maskenspiel eines sich in der festen Hand der Coterie befindlichen Stadtraums Rabats ebenso sein Ende wie die trügerischen Zeichen und Vorzeichen des mythischen Raums der Medina. Beide scheinen hier zunächst durch die Autorität des Visionärs aufgehoben. Wer genau aber dieser Visionär ist und welches Labyrinth hier genau gemeint ist – das von der Coterie gesponnene Netz der Intrigen, der mythische Stadtraum Rabats, das Labyrinth der Gassen der Medina oder etwa das labyrinthische Gewebe der Zeichen und Vorzeichen um die Legende des Faucon magique – bleibt in Zuge der poetischen Ambivalenz des Textes letztlich offen. Denn am Ende des Textes erweist sich der Visionär nämlich als genau so wenig fass- und begreifbar wie die zuvor durch den Text erzeugten Labyrinthe: „Mais comment l’approcher? S’il change de nom et de figure, comment le reconnaitre entre tous dans la vérité de son être? Est-il un homme? un homme d’exception? une sorte de mutant? d’où tire-t-il son nom? De son don extraordinaire pour la clairvoyance et la divination? Est-il un architecte du temps? un artiste? un imagier? Un fabricant d’emblèmes et de symboles lumineux? Qui sait? Peut-être tout cela.“77 Wie er dies bereits in Bezug auf das Labyrinth getan hatte, stellt der literarische Text auch hier die Frage nach der Ontologie, ohne sie jedoch eindeutig zu beantworten. Auch hier liegt die mögliche Antwort in der Simultanität der Erscheinungen, also in der Ununterscheidbarkeit des Gleichzeitigen. Damit weist Khatibis Roman wiederum auf Borges’ „El Aleph“ als intertextuelle Referenz zurück, erscheinen doch auch im Aleph alle Dinge zugleich.

Damit erweist sich der in Triptyque de Rabat initiierte Prozess der Täuschungen und Enttäuschungen letztlich als unendlich, als ein Spiegel, in dem nur wieder ein weiteres Spiegelbild erscheint etc. So tritt auch letzten Abschnitt des Romans an die Stelle der onirischen Wahrnehmung des Erzählers nicht etwa eine realistische, die das zuvor Erlebte als Illusion offenbaren und damit zur Erleichterung des Lesers auflösen würde. Im Gegenteil dominiert hier wieder das Enigma der Prophezeiung. Gleichzeitig erreicht der Grad der poetischen Verdichtung und symbolischen Kodierung des literarischen Textes seinen Höhepunkt, wenn sich am Ende des Romans die allwissende Vogelperspektive des gottgleichen Faucon magique mit einer transmedialen Montage78 aus Satellitendaten, Überblendungen von flirrendem Licht- und Schattenspiel79 und textuellem Metadiskurs überlagert. Am Ende kollabiert auch die Möglichkeit der Unterscheidung von labyrinthischem Stadtraum und poetisch verdichteten Textraum, wenn hinter der Maske der Figur Idris jener opake Spiegel erscheint, in der sich der Leser in Form eines blinden Flecks letztlich selbst erblickt:80 Auch hier verweist der Roman wieder auf das Essay „A Colonial Labyrinth“, wo ja von den jeweiligen Minderheiten des Maghreb als einem „stain“ (s.o.) die Rede war. Khatibi konfrontiert uns also am Ende seines labyrinthischen Stadtromans wiederum mit einer Annullierung dichotomischer Ordnungsmuster, wenn Ich und Anderer dadurch ununterscheidbar sind, dass die Grenzen zwischen dem urbanen Raum der Fiktion und dem Raum des Lesers überschritten werden. Erneut erweist sich Grenze hier also nicht als Trennstrich, sondern als verunsichernder und zugleich neue Möglichkeiten eröffnender Raum des Kontakts.

Fazit

In Triptyque de Rabat überlagern sich politische Netzwerke, ein die Wahrnehmung entgrenzender Stadtraum und der poetisch dichte Raum des literarischen Textes. Dadurch entsteht ein Palimpsest, das Leser und Protagonist abwechselnd täuscht und ernüchtert, dass beide aber nie abschließend durchdringen und erklären können. Auch La mémoire tatouée ist durch eine strukturelle Verflechtung von Stadtraum und literarischem Text geprägt, wobei der literarische Text als Raum der Erinnerung fungiert, während das städtische Labyrinth Allegorie um Allegorie bildet, und es somit die vertextete Stadt selbst ist, welche die poetische Dichte des Textes generiert. Wenn eine die Wahrnehmung überfordernde Simultanität in Triptyque de Rabat also durch die palimpsestische Überlagerung Stadtraum und Textraum entsteht, so geschieht dies in La mémoire tatouée durch eine chiastische Verschränkung, innerhalb derer der Stadtraum die poetischen Codes des literarischen Textes, der literarische Text hingegen die mnemonische Funktion des Stadtraums übernimmt Hort historischer und individueller Erinnerung zu sein.

Beiden Texten sind gleichermaßen durch die ambivalente Funktion des Labyrinths gekennzeichnet, ebenso als Zufluchtsstätte wie als Raum des Unheimlichen und Verunsichernden zu fungieren, ist der schützende Raum des Verstecks doch zugleich auch ein die Figuren und den Leser heimsuchender Raum, in dem Selbstentfremdung und Selbstverlust drohen. Die Besonderheit der Texte Khatibis besteht darin, dass sie aber eben nicht in dieser Heimsuchung verharren, sondern den Verlust einer feststehenden Identität stets dafür fruchtbar zu machen, das teleologische und homogene Identitätskonzept kolonialer und okzidentaler Prägung aufzubrechen und es durch simultane, transmediale Entwürfe von Raum und Subjekt und ersetzen. In Khatibis Texten sind beide, Subjekt und Raum, in sich verschlungen oder – mit Elisabeth Bronfen zu gesprochen –, „verknotet“,81 da sie auf sich selbst als Zeichen zurückgeworfen werden. Damit führen die Erzählerfiguren den Leser immer wieder in die Irre, ja überlassen ihn dem von Khatibi in „A Colonial Labyrinth“ thematisierten, lustvollen Sich-Verlieren in einem Labyrinth der Zeichen, in dem Text und Stadt Bestandteil ein- und desselben Geflechts aus Allegorien, Wahrnehmungen, Konturen und Erinnerungen sind.


  1. Hans-Jürgen Lüsebrink und Sylvère Mbondobari, „Introduction générale“ in Villes coloniales/Métropoles postcoloniales: représentations littéraires, images médiatiques et regards croisés (Tübingen: Narr, 2015), 7–21, hier 12.

  2. Lüsebrink und Mbondobari, „Introduction générale“, 18.

  3. Den Begriff des „Palimpsestes“ verwenden in Bezug auf Khatibi ebenso Mohamed Kamara wie Alfonso de Toro. Vgl. Alfonso de Toro, „Le ‚plurilinguisme de l’autre‘: performativité et transversalité de la langue“, Expressions maghrébines 12, Nr. 1 (2013): 85–101, hier 91f. sowie Alfonso de Toro, „Le Maghreb Writes Back I: Abdelkébir Khatibi ou les stratégies hybrides de la construction de l’autre. Pensée fondatrice et l’introduction d’un nouveau paradigme culturel“, in Le Maghreb Writes Back: figures de l’hybridité dans la culture et la littérature maghrébines, hrsg. von Alfonso de Toro und Charles Bonn (Hildesheim: Olms, 2009), 153–75, hier 155 sowie Mohamed Kamara, „The Use of Palimpsest in Abdelkébir Khatibis ‚La mémoire tatouée‘“, in African Diasporas: Ancestors, Migrations and Borders, hrsg. von Robert Cancel und Winifred Woodhull (Trenton/New Jersey: Africa World Press, 2008), 332–46. Das Palimpsest ist ein wiederkehrender Topos maghrebinischer Literaturen, so auch bei dem ebenfalls marokkanischen Autor Tahar Ben Jelloun oder der algerischen Autorinnen Assia Djebar und Leïla Sebbar. Zur Stadt als Palimpsest bei Jelloun vgl. u.a. Roland Spiller, „Mouvements dans le palimpseste: Barcelone, ville de l’imaginaire chez Eduardo Mendoza, Manuel Vázquez Montalbán und Tahar Ben Jelloun“, in Villes, vies, visions, hrsg. von Beïda Chikhi und Anne Douaire-Banny (Paris: L’Harmattan, 2012), 231–52. Zum Palimpsest bei Djebar und Sebbar vgl. u.a. Anne Donadey, Polyphonic and Palimpsestic Discourse in the Works of Assia Djebar and Leïla Sebbar (Ann Arbor: University Microfilms International, 1993).

  4. Am Beispiel des Haiku zeigt Roland Barthes das Scheitern der Sinngebung durch die literarische Interpretation, kommt diese japanische Gedichtform doch ganz ohne Metaphern oder ‚Lektionen‘ aus, und feiert stattdessen die Flüchtigkeit des sensorischen Augenblicks. Vgl. hierzu Roland Barthes, „L’empire de signes“ (1970), in Œuvres complètes, Bd. 2, hrsg. von Eric Marti (Paris: Seuil, 1994), 793–824, hier 795f. Einen Bezug zwischen Khatibi und Barthes stellt auch Alfonso de Toro her, wenn er im Kontext von Khatibis Thematisierung der Homosexualität in Amour bilingue (1992) eine Analogie zwischen Khatibis Körperkonzept und dem von Roland Barthes’ in Le plaisir du texte (1973) entworfenen Verständnis des Körpers herstellt. Vgl. de Toro: „Le ‚plurilinguisme de l’autre‘“, 9.

  5. Roland Barthes, „L’empire des signes“, 798 (meine Übersetzung).

  6. Auf das Haiku verweist auch der hier im Folgenden zitierte Andreas Mahler, wenn er in Bezug auf seine These von der „Stadt als Text“ (s.u.) auf Ezra Pounds Gedicht „In A Station of a Metro“ zu sprechen kommt. Andreas Mahler, „Stadttexte – Textstädte: Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in Stadt-Bilder: Allegorie, Mimesis, Imagination, hrsg. von Andreas Mahler (Heidelberg: Winter, 1999), 11–36, hier 13.

  7. Vgl. hierzu auch Bougdal Lahsen: „La ville dans ‚La mémoire tatouée‘ d’Abdelkébir Khatibi: l’organisation subjective d’un site historique“, Francofonía 8 (1999): 249–65, hier 251.

  8. Ich verstehe Hybridität hier in Anlehnung an Bhabhas Konzept des „Ort[es] der Hybridität“ als einen Raum, „der ein politisches Objekt konstruiert“, das „weder das eine noch das andere ist“ und sich somit durch seine Unentschiedenheit auszeichnet. Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur (Tübingen: Stauffenburg, 2000), 38. Vgl. auch Bhabha, Die Verortung der Kultur, 42: Der „transformatorische Wert“ des „hybriden Moments“ liegt „in der Neuartikulierung […] von Elementen, die weder das Eine […] noch das Andere […], sondern etwas weiteres neben ihnen“ sind.

  9. Zu einer Poetik der Dichte in La mémoire tatouée vgl. de Toro, „Le Maghreb Writes Back“, 154.

  10. Dass sich der ursprünglich von Deleuze und Guattari geprägte Begriff des Rhizoms, wie ihn auch Édouard Glissant für die karibische Kultur geprägt hat, nicht nur auf die Karibik anwenden lässt, zeigt de Toro, „Le Maghreb Writes Back“, 79. Vgl. auch Gilles Deleuze und Félix Guattari, Rhizome (Paris: Minuit, 1976).

  11. Eine solche Ästhetik findet sich in ähnlicher Form auch in karibischen Literaturen, so etwa bei Édouard Glissant, der seinerseits den Begriff der „Opazität“ als Strategie gegen eine Vereinnahmung durch koloniale Denkmuster geprägt hat. Vgl. Édouard Glissant, Introduction à une poétique du divers (Paris: Gallimard, 1996).

  12. Frank Jablonka, „Langage du corps et corps du langage dans l’œuvre d’Abdelkébir Khatibi. Analyse de sociosémiotique du contact“, PhiN: Philologie im Netz 52 (2010): 1–17, hier 4.

  13. Vgl. Fernando de Toro: „Explorations on Post-Theory: New Times“, in Explorations on Post-Theory: Toward a Third Space, hrsg. von Fernando de Toro (Berlin: Vervuert 1999), 9–21, hier 10ff.

  14. Das Spiel von Licht und Schatten als verwirrende Sinneserfahrung innerhalb des städtischen Raums findet sich auch bei anderen maghrebinischen Autoren, etwa in Assia Djebars Roman La disparition de la langue française (Paris: Bordas, 2003) in Bezug auf den Stadtraum von Algier. Vgl. hierzu das Kapitel „‚La disparition de la langue française‘: zwischen Geschichts- und Politikvermittlung“ in Beatrice Schuchardt, Schreiben auf der Grenze: postkoloniale Geschichtsbilder bei Assia Djebar (Köln: Böhlau, 2006), 283–335, hier 288ff. sowie Beatrice Schuchardt, „Manifestations de l’interstice dans ‚La disparition de la langue française‘ d’Assia Djebar“, in Assia Djebar, littérature et transmission, Colloque de Cerisy, 23–30 juin 2008, hrsg. von Wolfgang Asholt, Dominique Combe und Mireille Calle-Gruber (Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2010), 365–382.

  15. Abdelkébir Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, Yale French Studies, 83, Nr. 2 (1993): 5–11.

  16. Khatibi selbst gibt in seinem Essay nicht an, auf welche der zahlreichen Arbeiten Roger Caillois’ er sich genau bezieht. Zur Konzeption des Labyrinths bei Caillois vgl. Stéphane Massonet, Les Labyrinthes de l’imaginaire dans l’œuvre de Roger Caillois (Paris: L’Harmattan, 1998).

  17. Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, 6: „In one instance, the itinerary is endless and tortuous, but compulsory. Hesitation is impossible. […] In the first type of labyrinth, it is impossible for some progress not to be achieved.“

  18. Ich beziehe mich bei den Angaben in Klammern jeweils auf die Begriffe aus dem englischen Originaltext.

  19. Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, 8.

  20. Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, 8.

  21. Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, 8.

  22. Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, 9.

  23. Im englischen Text hat die Übersetzerin zum besseren Verständnis den französischen Begriff „drapé“ (dt.: Faltenwurf) belassen. Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, 9.

  24. Khatibi selbst spricht hier von einer „minority, that had to preserve and protect its difference“. Vgl. Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, 9. Ich verwende hier Derridas Begriff der différance, weil dieser das Hin- und Hergerissen-Sein der jüdischen Diaspora Marokkos zwischen alter und neuer Heimat als einen unabschließbaren Prozess der Sinnfindung und des ‚Sich-Unterscheidens‘ treffend zu fassen vermag. Auch Alfonso de Toro wendet den Terminus der différance auf Khatibi an. Vgl. de Toro, „Le Maghreb Writes Back“, 95. Den Begriff der différance formuliert Derrida in Jacques Derrida, Positions (Paris, Minuit 1972), 37ff. Er bezeichnet damit eine Kette von Zeichen, die unendlich aufeinander verweisen, sich gegenseitig bedingen und somit ein freies, autoreferentielles Spiel der Zeichen entfalten. Besonders fruchtbar ist das Konzept der différance in Bezug auf das ‚gebrochene‘ Konzept der Zeit im postkolonialen Kontext. Vgl. hierzu Schuchardt, Schreiben auf der Grenze, 20: „Die Gegenwart ist – in Anlehnung an Derridas’ Konzept der différance – als Differenz markiert, und zwar als Kluft zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Dieser Aspekt der Differenz ist […] für den postkolonialen Geschichts- und Kulturbegriff grundlegend […]. Denn die durch den Kulturkontakt entstehenden Kreuzungen, Verknotungen und hybriden Identitäten implizieren weder die Leugnung noch die Annullierung von Differenz – hier wurden die postkolonialen Theorien oft missverstanden –, sondern eben deren Verwendung außerhalb einer zentralistisch gedachten Hierarchie“.

  25. Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, 6.

  26. Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, 6.

  27. Vgl. Michel de Certeau, L’invention du quotidien, Bd. 1: Arts de faire (Paris: Gallimard, 1990), 200ff.

  28. Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, 11: „[…] space, like memory, is in the process of becoming“.

  29. Der Begriff der écriture verstehe ich mit Vittoria Borsò und ausgehend von dem durch Roland Barthes und Jacques Derrida als einen „Raum“, der genau dann entsteht, wenn die „phatische Funktion der Zeichen“ als Träger sozialer Symbolik vor der „poetischen Verdichtung“ zurücktritt und die mediale Vermittlung durch das Medium Literatur dergestalt sichtbar wird, dass sie sich in eine subjektive leibliche Erfahrung wandelt. Vgl. Vittoria Borsò, „Der Körper und die Schrift des Körpers: Transpositionen des Liebesdiskurses in europäischer und lateinamerikanischer Literatur“, in Schriftgedächtnis – Schriftkulturen, hrsg. von Gertrude Cepl-Kaufmann et al. (Stuttgart: Metzler, 2002), 323–42, hier 325ff. sowie Roland Barthes, „De la parole à l’écriture“, La quinzaine littéraire (1974): 9–13 und Jacques Derrida, La voix et le phénomène (Paris: P.U.F., 1967).

  30. Zur Konzeption des Stadtraums als ein Gedächtnis vgl. Spiller, „Mouvements dans le palimpseste“, 232: „D’un côté, les villes deviennent au fil du temps des palimpsestes de pierre où se superposent les couches architectoniques mais aussi les mémoires […].“

  31. Vgl. hierzu Lucy Stone McNeece, „Decolonizing the Sign: Language and Identity in Khatibi’s ‚La mémoire tatouée‘“, Yale French Studies 83, Nr. 2 (1993): 12–29, hier 12 und 17. Vorarbeiten zu McNeeces Artikel finden sich u.a. bei Ronnie Scharfman, „Maghrebian Autobiography or Autoportraiture? Khatibi’s La mémoire tatouée“, CELFAN 8, Nr. 1–3 (1988): 5–9 und Guy Dugas, „Le traitement de l’autobiographie dans ‚La mémoire tatouée‘ d’Abdelkébir Khatibi“, CELFAN 2, Nr. 3 (1983): 26–29. Das in sich gebrochene autobiographische Subjekt bei Khatibi bezeichnet Dugas als typisch für maghrebinische Literaturen. Autobiographischem Schreiben bei Khatibi widmen sich auch Ulrike Jamin-Mehl, Zwischen oraler Erzähltradition und modernem Schreiben: autoreflexive Elemente im marokkanischen Roman französischer Sprache (Frankfurt/Main: IKO, 2003) sowie, in sehr differenzierter Art und Weise, Hassan Wahbi, „L’auteur double: la représentations du moi-écrivain dans trois récits d’Abdelkébir Khatibi“, Dalhousie French Studies 70 (2005): 9–20.

  32. Khatibi, Abdelkébir, La mémoire tatouée, in Œuvres de Abdelkébir Khatibi, Bd. 1: romans et récits (Paris: Éditions de la Différence 2008), 11–113, hier 25.

  33. Vgl. die im Folgenden genannten Seiten aus Khatibi, La mémoire tatouée. Die im Roman skizzierten marokkanischen Städte sind: El Jadida (31ff.), Essaouira (35ff.), Marrakech (45ff.) und Casablanca (69ff.); die genannten internationalen urbanen Räume: Paris (u.a. 73ff.; 103f.), Stockholm (u.a. 86), London (94ff.), Sofia (95f.), Córdoba (96f.), Havanna (200), Neu Delhi (101) und Berlin (102).

  34. Den Begriff der Transmedialität als ästhetische Technik eines Dialogs zwischen verschiedenen Medien, der mit einem grenzüberschreitenden, transkulturellen Verständnis von Kultur einhergeht, hat Alfonso de Toro geprägt. Vgl. u.a. de Toro, „La pensée hybride, culture des diasporas et culture planétaire: Le Maghreb (Abdelkébir Khatibi – Assia Djebar)“, in Le Maghreb Writes Back, 69–122, hier. 88f.: „[…] il s’agit de processus et de stratégies esthétiques qui ne mènent pas à une synthèse, mais bien au contraire à un processus riche en dissonances. Nous pouvons toujours parler de ‚transmédialité‘ quand différents systèmes de médias entrent en concurrence esthétiques entre eux […].“ ‚Transmedial’ ist Khatibis Text deshalb, weil in ihm neben verschiedenen literarischen Genreaspekten wie dem Autobiographischen, dem Theatralen und dem Poetischen auch die Dimension des Bildlichen eine zentrale Stellung einnimmt, und dieser Roman somit differente Medien ineinander verschränkt. So gliedert sich beispielsweise das letzte Kapitel in eine „Image première“ und eine „Image seconde“. Vgl. Khatibi, La mémoire tatouée, 107ff. Vgl. auch Khatibi, La mémoire tatouée, 13: „Mon nom me retient à la naissance entre le parfum de Dieu et le signe étoilé. Je suis serviteur et j’ai le vertige; moi-même raturé en images, je me range à ma question égarée entre les lettres.“ Vgl. auch Khatibi, La mémoire tatouée, 53: „La poésie fit le reste. […] De jour en jour, d’image en image, milles vies de croisaient, ça grouillait de partout, j’en sortais la tête heureuse et folle.“

  35. Entsprechend operabel erscheint mir für die von Khatibi in La mémoire tatouée entworfene Form autobiographischen Schreibens der Begriff des auto-contour. Vgl. Beatrice Schuchardt, „‚La mémoire tatouée‘ d’Abdelkébir Khatibi comme auto-contour: signes nomades du corps et écriture autobiographique“, Expressions maghrébines 10, Nr. 1 (2011): 65–82.

  36. Jablonka verweist in Bezug auf diese Passage und mit Referenz auf Fatima Ahnouch, Abdelkébir Khatibi: la langue, la mémoire et le corps (Paris: L’Harmattan), 217 auf den Begriff des „corps-texte“, da sich der Körper bei Khatibi erst über die Sprache manifestiere und entsprechend, so Ahnouch, einen „espace écrit“ bilde. Vgl. Jablonka, Langage, 11. Jablonka betont überdies unter Rückbezug auf Ruth Louise Gaertner, „Prelude to a Text. The Autobiography of Abdelkébir Khatibi“ (PhD diss., Louisiana State University, 2002), 145 die Verquickung von Körperlichkeit und Textualität bei Khatibi und spricht daher vom „corps du logos“. Vgl. Jablonka, Langage, 8.

  37. Khatibi, La mémoire tatouée, 53.

  38. Khatibi, La mémoire tatouée, 17.

  39. Erhellend ist in Bezug auf das Konzept des Raums in La mémoire tatouée die von Jean-Frédéric Hennuy in Bezug auf Khatibis Roman Un été à Stockholm (1990) getroffene Unterscheidung von „lieu“ und „espace“, die Hennuy auf der Basis von de Certeau vornimmt: „[…] le lieu est synonyme de ‚stabilité‘. […] à l’opposé, Michel de Certeau définit l’espace comme état animé par l’ensemble des mouvements qui s’y déploient, […] synonyme de plurivocité et d’instabilité que gère un dialogue entre conflits et contrats.“ Jean-Frédéric Hennuy, „Examen d’identité: voyageur professionnel et identification diasporique chez Jean-Philippe Toussaint et Abdelkébir Khatibi“, French Studies 60, Nr. 3 (2006): 347–63, hier 352.

  40. Ausgehend von Roland Barthes Essay „Semiologie und Stadtplanung“, in Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer, trans. Dieter Hornig (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1988), 199–209, hier 202 und seiner These von der Stadt als Diskurs, prägt Andreas Mahler die Begriffe von „Stadttext“ (als einem Text über die Stadt) und „Textstadt“ (als dem Resultat des Entstehung einer imaginären Stadt aus dem Imaginären des Textes). Mahler zufolge ist jede Stadt als Text mit einer ihm eigenen Semantik lesbar. Vgl. Andreas Mahler, „Stadttexte“, 11f. Wenn ich hier von „Zeichen-Städten“ spreche, so geschieht dies auf der Grundlage von Mahlers Begriff der „Textstadt“. Ich präferiere hier jedoch den Begriff des „Zeichens“ vor dem des „Textes“, weil dieser meines Erachtens dem transmedialen Charakter von Khatibis Werk eher gerecht wird, in dem Körper, Stadt, Text, Bilder und écriture gleicher Maßen als Zeichen fungieren. Einen entscheidenden Beitrag zur Konzeption der Stadt als Text leistet noch vor Mahler Volker Klotz, Die erzählte Stadt: ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin (München: Hanser, 1969), auch zitiert in Spiller, „Mouvements dans le palimpseste“, 231f.

  41. Textstädte, die „von einer sekundären Semantik derart überbordet“ wird, „daß das Stadtthema selbst in Kippen gerät“, bezeichnet Mahler als „Städte des Allegorischen“. Khatibis Stadtentwürfe weisen aber auch Eigenschaften von „Städten des Imaginären“ nach Mahler auf, da „ihr Konstruktcharakter offen ausgewiesen“ wird. Vgl. Mahler, „Stadttexte“, 25. Zur Medina insbesondere von Essaouira als mythischem und weiblich konnotierten Raum des Schutzes vgl. Lahsen, „La ville dans ‚La mémoire tatouée‘ Abdelkébir Khatibi“, 261ff.

  42. Khatibi, La mémoire tatouée, 33.

  43. Ahnouch, „Abdelkébir Khatibi“, 217, s.o.

  44. Khatibi, La mémoire tatouée, 29.

  45. Khatibi, La mémoire tatouée, 29.

  46. Zur Bedeutung der Farbe Weiß, insbesondere der weißen Seite im Werk Khatibis, vgl. auch Eric Sellin, „Obsession with the White Page, the Inability to communicate, and Surface Aesthetics in the Development of Contemporary Maghrebian Fiction: The ‚Mal de la page blanche‘ in Khatibi, Farès and Meddeb“, International Journal of Middle East Studies 20, Nr. 2 (1988): 165–73.

  47. Khatibi, „A Colonial Labyrinth“, 10.

  48. Werner Herzog charakterisiert das System des „Klientelismus“ am Beispiel Algeriens wie folgt: „Personen oder Gruppen von Personen, die aus politischen und geschichtlichen Gründen oder wegen ihres technischen Wissens Macht ausüben, bilden um sich und unter sich ein Gefüge von Unterstützern und Anhängern, um so ihre Position zu halten und zu stärken, indem sie Privilegien verteilen.“ Werner Herzog, Algerien: zwischen Demokratie und Gottesstaat (München: Beck, 1995), 122.

  49. Abdelkébir Khatibi: Triptyque de Rabat, in: Œuvres 2008, 382–469, hier 393.

  50. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 392.

  51. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 392.

  52. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 437.

  53. Vgl. Achille Mbembe, On the Postcolony (Berkeley: UC Press, 2000), 68ff.

  54. Vgl. Michael O’Riley, Postcolonial Haunting and Victimization (New York: Peter Lang, 2007), 83–100.

  55. Beispielsweise in dem Roman Le livre d’Emma der quebecoisen Autorin Marie-Célie Agnant, die selbst haitianische Wurzeln hat, und entsprechend die Migration von Haiti nach Französisch-Kanada thematisiert. Vgl. Marie Célie Agnant, Le livre d’Emma (La roque D’Anthéron: Vents d’ailleurs, 2001). Zum Topos der hantise bei Agnant, vgl. Beatrice Schuchardt, „Räume der Heimsuchung – Räume der Vertreibung im Werk Marie-Célie Agnants“, in Raumdiskurse in frankophonen Literaturen: postkoloniale Forschungsansätze in der Romanistik, hrsg. von Gesine Müller und Susanne Stemmler (Tübingen: Narr, 2009), 165–80.

  56. Vgl. Édouard Glissant, Le discours antillais (Paris: Gallimard Folio, 1997).

  57. Vgl. Mbembe, On the Postcolony, 197 sowie O’Riley, Postcolonial Haunting, 87, der im englischen Originaltext von einem Zustand des „half-death“ spricht.

  58. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 413: „Posture habituelle des survivants en politique: devenir une statue, une poupée, un jeu d’ombres, un revenant de la nuit dans le jour. Nous allions le voir sur plusieurs arrêts d’image, au cours de cette histoire.“ Hier wird die Figur des revenant zugleich mit dem Medium der Fotografie verknüpft, auf deren gespenstischen Charakter Roland Barthes in La chambre claire hingewiesen hatte, wenn dort von jenem spectrum die Rede ist, zu dem jeder Porträtierte in der Pose unweigerlich wird. Vgl. Roland Barthes, La chambre claire (Paris: Gallimard, 1980), 30.

  59. Denn das Konzept der hantise weist den ‚heimgesuchten‘ postkolonialen Subjekten eine passive Rolle zu, können sie dem Zustand des ‚Heimgesucht-Werdens‘ doch kaum entrinnen.

  60. Vgl. Schuchardt, „Manifestations de l’interstice dans ‚La disparition de la langue française d’Assia Djebar‘“.

  61. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 412: „Matérielle ou immatérielle, surmorale et sans scrupule, la Coterie serait-elle la figure du Double et du Fantôme?“ Augenfällig ist hierbei die Großschreibung der Begriffe „Coterie“, „Double“ und „Fantôme“, die in Bezug auf die Bezeichnung „La Coterie“ den gesamten Roman durchzieht, was die Machtposition dieser Seilschaft und ihre Bedeutung unterstreicht.

  62. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 401ff.

  63. Dieser tritt im Roman erstmalig im gleichnamigen Kapitel „Le Faucon Magique“ auf, vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 417ff. Zur Legende des Faucon magique vgl. auch Khatibi, Triptyque de Rabat, 419 sowie zur allegorischen Funktion dieser Figur: Lucy Stone McNeece, „Rescripting Modernity: Abdelkébir Khatibi and the Archaeology of Signs“, in Maghrebian Mosaic: A Literature in Transition, hrsg. von Mildred Mortimer (Boulder/Colorado: Lynne Rienner Publishing, 2001), 81–100, hier 92ff.

  64. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 417: „Personne ne devina ce qui allait et devait se passer, pendant cette nuit surnaturelle. Le Monstre apparut dans la ville, lors d’un tremblement de terre mémorable.“

  65. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 469.

  66. Analogien des Romans zu Borges konstatiert in Bezug auf Triptyque auch McNeece, „Rescripting Modernity“, 92.

  67. Von diesen Vierteln spielen vor allem Chellah als „un des endroits les plus mystérieux de Rabat“ und Agdal mit seinen „lieux hantés“ eine Rolle. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 431ff. Diese Viertel repräsentieren ihrerseits Miniaturversionen einer Stadt. Vgl Khatibi, Triptyque de Rabat, 397: „Car chaque quartier – digne de ce nom – est une ville en miniature, ramifiée dans le cœur de chaque habitant.“

  68. Besonders deutlich wird jene zwischen engaño und desengaño oszillierende Wahrnehmung in der Begegnung mit der Figur Élise, einer Diplomatengattin. Ist in Bezug auf Élise zunächst von einer „volupté désorientée“ die Rede, so empfindet Idris bald ein „désenchantement progressif“. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 448ff.

  69. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 388.

  70. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 401: „Idris avait l’impression que chaque minute l’accrochait, le retardant, le faisant basculer dans une autre ville, qu’il ne connaissait pas, et dont il n’avait aucun clef magique.“ Vgl. auch Khatibi, Triptyque de Rabat, 424: „Il [Idris] se mit à observer avec méfiance sa ville natale […] Sa ville avait un nouveau masque qui ne correspondait ni à son expérience, ni à sa mémoire des lieux qu’il aimait et revoyait dans ses rêves.“

  71. Ich beziehe mich hierbei auf den von Michel Foucault geprägten Begriff der Heterotopie. Vgl. Michel Foucault, „Des espaces autres“, in Dits et écrits 1954–1988, Bd. 4 (Paris: Gallimard, 1984), 752–62. Foucault unterscheidet hierbei so genannte „Krisenheteroropien“ wie den Friedhof oder andere verbotene bzw. heilige Orte wie z.B. die Kirche, von so genannten „Abweichungsheterotopien“, wie etwa die Psychiatrie oder das Gefängnis. Vgl. Foucault, „Des espaces autres“, 756ff.

  72. Diesbezüglich ist insbesondere Idris’ skurrile Begegnung mit dem Friedhofsaufseher zu nennen. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 426ff. Zu nennen wäre diesbezüglich aber auch Idris’ erste Begegnung mit Élise während eines an Bachtins Begriff des Karnevalesken erinnernden Maskenballs. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 447ff. und Michael Bachtin, Literatur und Karneval: zur Romantheorie und Lachkultur, trans. Alexander Kämpfe (München: Hanser 1969). Während des Maskenballs wird auch die schlafwandlerische Wahrnehmung des Protagonisten Idris angesprochen. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 451.

  73. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 447: „Idris aimait flâner selon le principe onirique du promeneur.“

  74. Vgl. Michael O’ Riley, „Victimes, héros et spectres du passé colonial dans ‚La disparition de la langue française‘ d’Assia Djebar“, Nouvelles études francophones 21, Nr. 1 (2006): 153–67, hier 154.

  75. Gemeint ist hier wiederum die ‚Ernüchterung‘ im barocken Verständnis, also im Sinne des desengaño, s.o.

  76. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 469.

  77. Khatibi, Triptyque de Rabat, 469.

  78. Zum Begriff der Montage als eine Technik, welche die Maßstäbe der Ordnung und der Hierarchie außer Kraft setzt, vgl. Alfonso de Toro, „Frida Kahlo y las vanguardias europeas: Transpictoralidad – Transmedialidad“, Aisthesis 42 (2008): 101–31.

  79. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 469: „images volantes, croisées entre elles“

  80. Vgl. Khatibi, Triptyque de Rabat, 469: „Idris est une tache, une image, dans cette carte. Saura-t-il- déchiffrer cette histoire où ce sont les lecteurs qui sont pris pour personnages?“

  81. Den Begriff des „verknoteten Subjekts“ hat Elisabeth Bronfen geprägt und meint damit eine Mehrfachkodierung von Identität., die heute in den postkolonialen Studien gemeinhin mit dem Begriff der „Hybridität“ gefasst wird. Vgl. Elisabeth Bronfen, „Hybride Kulturen: Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte“, in Hybride Kulturen: Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, hrsg. von Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius und Therese Steffen (Tübingen: Stauffenburg, 1997), 1–29, hier 3. Das z.T. recht vage und auf verschiedenste Phänomene angewandte Konzept der Hybridität hat u.a. Alfonso de Toro einer begrifflichen Schärfung unterzogen. Vgl. de Toro, „La pensée hybride“.





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