Die Macht der Liebe

Stephan Leopold untersucht die Spannungen zwischen polis und eros im ancien régime

Fabian Hauner

Stephan Leopold, Liebe im Ancien Régime: ‚eros‘ und ‚polis‘ von Corneille bis Sade (Paderborn: Fink, 2014), 466 S.

Die Rolle der Literatur in der Zeit des französischen Absolutismus neu zu bestimmen, ist das Anliegen von Stephan Leopolds Studie Liebe im Ancien Régime. Grundlegend ist dabei Leopolds Überlegung, „dass sich das politische Unbehagen der Epoche vorzugsweise in erotischen Konstellationen niederschlägt“ (Klappentext). Die Interdependenzen zwischen Politik, Kunst und insbesondere Literatur auszuleuchten und dabei nach der Rolle der Sprache zu fragen, ist erklärtes Anliegen des Bandes. Konkret bedeutet dies: Wie kann im zentralisierenden System des Absolutismus, der die Deutungshoheit nicht nur im politischen, sondern auch im künstlerischen Feld anstrebt, noch Kritik an demselben geäußert werden? Für Leopold geschieht dies vorzugsweise im Modus der Allegorie, die er ausgehend von der Antike bis in die Zeiten der französischen Revolution auf ihre politischen Implikationen hin befragt. So entsteht ein Bild der Literatur des ancien régime, das geprägt ist von einem Nebeneinander aus affirmativen, legitimierenden und kritischen, subversiven Allegorien. Welchen zeitlichen Bogen der Vf. zur Beantwortung dieser Frage spannt, macht der Untertitel deutlich: „Eros und Polis von Corneille bis Sade“, also der Zeitraum von ca. 1650 bis ca. 1800.

Zu Beginn steht dabei eine theoretische Annäherung an die Literatur des ancien régime, in der historische Momente des Allegorischen entfaltet werden. Dies geschieht sowohl an der Person Marie-Antoinettes als auch an der Ludwigs XIV., die den historischen Anfang und das historische Ende des ancien régime markieren. Am Beispiel von Marie-Antoinette wird gleich zu Beginn eine zentrale Denkfigur eingeführt. Es handelt sich dabei um eine destruktive Form von Weiblichkeit, die den als maskulin imaginierten Staat usurpiert (vgl. 15–6) und die Leopold als „Krisenallegorie“ (27) bezeichnet. Bei Ludwig XIV. kommt es aufgrund des Einflusses von Mme de Maintenon zu einer gefährlichen Effeminierung des Hercules Gallicus (vgl. 26), als der er sich gerne geriert. Zweierlei ist hierbei positiv anzumerken. Zum einen der Einbezug ikonographischen Materials (zwei Stiche zu Marie-Antoinette, drei Gemälde zu Ludwig XIV.), zum anderen der Verweis auf die mittelalterliche Zwei-Körper-Lehre (vgl. 14). Dieses Nebeneinander und Ineinander von künstlerischen Artefakten und politischer Philosophie/Theologie ist charakteristisch für das gesamte Werk. Nach diesem tour d’horizon zur politischen Kultur des Absolutismus und den entsprechenden Gegendiskursen durchmisst Leopold den Raum des Allegorischen zur Zeit des Absolutismus. So macht er sich Robert Darntons Analyse des Katzenmassakers1 zu eigen, das er geschickt mit dem kulturellen Phänomen des Karnevals verbindet. Die Homogenisierungsbestrebungen unter Ludwig XIV. bedingen, dass sich die Kritik zusehends vom wilden Karneval als Medium derselben verabschiedet und „sich statt dessen […] des Diskurses der Leidenschaft bedient, um auf diese Weise ein zum normativen Hegemonialdiskurs konterdiskursives Sinnmoment freizusetzen.“ (38) In eben jenem Katzenmassaker aber entspinnt sich eine symbolisch transformierte Kritik der herrschenden Zustände, die auch wieder mit dem Zeichen des destruktiven Weiblichen operieren (vgl. 35–7). Abschließend kommt Leopold auf ein Begriffspaar zu sprechen, das ihn zu de Man führt: Blindheit und Einsicht. Jedoch übernimmt er nicht nur die zentralen Gedanken – zumal in Bezug auf sondern denkt ihn konsequent und kritisch für seine Fragestellung weiter. So ist Leopold der Auffassung, dass de Man eben nicht „die politische Frage völlig aus dem Blick geraten wäre.“ (42) Und vor allem bei der Princesse de Clèves und der Nouvelle Héloïse wird für Leopold der Zwilling aus Blindheit und Einsicht durch die Autoreflexivität der Texte in einer politischen Lesart evident. Dabei geht es darum, „eine historische Form politischer Allegorie zu bestimmen, die zeitlich weitgehend konkomitant mit dem Absolutismus ist und die sich gerade in Liebesgeschichten dingfest machen lässt.“ (46) Die Liebe ist somit „nicht […] privater Natur, sondern immer uneigentlicher Ausdruck sozialer Spannungen bzw. Aporien.“ (46)

Der hieran anschließende argumentative Teil besteht aus zwei Abschnitten: Figuren und Verlauf. Ersterer zeigt die Paradigmen, die den Rahmen des literarischen Schreibens der jeweiligen Zeit bilden, zweiter die Zusammenstellung der maßgeblichen Texte, die der Vf. als Syntagma verstanden wissen will, mittels dessen „eine historische Entwicklung“ (47) illustriert werden soll.

Nach einigen theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von eros und polis führt Leopold die erste Figur ein, mithilfe derer er dieses bestimmt: Dido aus Vergils Aeneis. Diese erscheint hier als eine blockierende Figur, die durch ihre Weiblichkeit versucht, Aeneas von seinem göttlichem fatum abzuhalten. Ebenjenes Dido-Bild zeitigte eine lebhafte Rezeption in Frankreich seit dem Mittelalter und blieb auch wirkmächtig in der Zeit Ludwigs XIII. (vgl. 73–7). Die Figur der blockierenden oder für den männlichen Tatendrang gefährlichen Frau erkennt Leopold ebenfalls in Sabine, der Frau des Horace, in Corneilles gleichnamigem Stück. Diese setzt angesichts des Stellvertreterkampfes der Horatier und Curatier „statt auf die siegreiche virtus auf eine Politik der Brüderlichkeit“ (89) und unterminiert so das Selbstbild der männlichen römischen Aristokraten, die den Staat und seine Räson über alles stellen.

Im Kapitel „Epistemologie der Liebe“ (97–140) werden verschiedene Konzepte von Liebe seit der Antike diskutiert. Als Zäsur ist dabei die Etablierung des Christentums als Staatsreligion zu sehen, da es den antiken eros durch agape ersetzt (vgl. 100). Konnte ein römischer Elegiker wie Ovid noch den nackten weiblichen Körper besingen (vgl. 99–100), ist dies für einen Trobador nicht mehr möglich. Denn unter den Trobadors vollzieht sich eine Wendung vom „direkten Objektgenuß“ hin zu einer „Fetischisierung des unerreichbaren Körpers“ (101). Anschließend zieht der Vf. hier eine Linie von den Trobadors zum französischen Schwertadel, der nach der Fronde (1648–53) seiner alten Funktion verlustig gegangen ist. So wie die Trobadors in ihrer Melancholie über unerreichbare Liebe durch ihr Phantasma Subjektivität stiften, gewinnt der Schwertadel eine neue Subjektivität in der Repräsentationskultur des königlichen Hofes. Als Heilmittel gegen die Melancholie ob des Verlusts der alten politischen Funktion entsteht infolgedessen der esprit (vgl. 115), der hierfür eine Kompensation darstellt und konstitutiv für den Höfling wird (vgl. 111). In „radikaler Alterität“ (129) wird dazu ein auf dem Diskurs der Leidenschaften ruhendes Liebeskonzept der amour-passion entworfen, das man beispielsweise in Racines Phèdre vorfindet (vgl. 38). Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Liebe im ancien régime schon so vom rationalen esprit durchdrungen ist, dass sie sich in den verschiedenen Salons, aber auch in der „geistreichen Diskursivierung“ (129) zu einer „Erotik der Öffentlichkeit“ (129) entwickelt hat. Genau gegen diese wendet sich Rousseau mit einer „Phantasmatik der Empfindsamkeit“ (127), die gegen das adlige Paradigma der Liebe ein bürgerliches errichtet, in dem „galante Floskeln“ (129) von cœur und aufrichtiger Liebe abgelöst werden (vgl. 129). Denn im Adel ist durch diese Liebe keine Individualität mehr zu haben: Es „verschwindet […] das Individuelle, ja man könnte sagen: der Mensch überhaupt.“ (129) Diesem Verschwinden des Menschen spürt Leopold sodann in Sades Philosophie dans le boudoir nach, die bereits unter den Vorzeichen der Republik entstand (1795). Schwindet unter Ludwig XIV. die alte Opposition zwischen Adel und Bürgertum zusehends, so „[stellt] im Schreiben Sades […] die Republik nicht die Aufhebung, sondern die Radikalisierung der [sozialen, F. H.] Entdifferenzierung dar.“ (140)

Steht eine Entdifferenzierungskrise bei de Sade am historischen Ende des Absolutismus, so findet man eine ähnliche Krise auch an dessen Beginn. Derjenige, der schreibend versucht, einen Ausweg aus dieser Krise zu weisen, ist Jean Bodin. Die zentrale Denkfigur dieses Abschnitts ist die Souveränität, die sich im Absolutismus in der Person des Königs konkretisiert und losgelöst von den Gesetzen gedacht wird. Außerdem werden Bossuet und Ludwig XIV. selbst in die Überlegungen mit einbezogen, so dass die politisch-philosophischen Tiefenschichten des Absolutismus sichtbar werden. Sekundiert werden diese historischen Analysen durch Vergleiche mit und Verweise auf die Literatur. So wird die Wirtschaftspolitik Ludwigs XIV., die auf eine Stärkung des Bürgertums abzielte, mit Perraults Peau d’âne kurzgeschlossen (vgl. 167–82). Abschließend kommen wieder die Antipoden Rousseau und Sade zu Wort. Diese entwerfen vor dem Hintergrund der heraufdämmernden oder schon eingetretenen Revolution ihre jeweiligen politischen Utopien in der Form von „Liebesgeschichten“ (46). Besonders hervorzuheben ist Leopolds Ineinssetzung des Libertins mit dem absolutistischen Souverän, da beide legibus soluti genießen (vgl. 194).

Wie bereits oben erwähnt, zeigt der zweite Teil am Beispiel ausgewählter Texte die Implikationen von eros und polis im Zeitalter des Absolutismus. Hierbei wird vor allem ein Bemühen um eine historische Einordnung der Texte durch die im vorhergehenden Teil etablierten Theoreme deutlich. Als Prämisse zur Lektüre lässt sich daher die Frage formulieren: Wie wird in der Literatur der absolute Souveränitätsanspruch herausgefordert?

In Corneilles Cid geschieht dies durch das Duell, das die Souveränität des Don Fernand herausfordert (vgl. 224–30). Ganz zu schweigen davon, dass das Stück in Anlage und Form gänzlich den Vorgaben und Poetiken der académie française zuwiderläuft, die im kulturellen Bereich als Sachwalterin der absoluten Monarchie agiert (432).

Anders verfährt Racine, obschon auch bei ihm eine latente Kritik an den herrschenden politischen Verhältnissen vorhanden ist. „Racines Bajazet […] [spitzt] diese Homogenisierungsbewegung [innerhalb der Kunst unter Ludwig XIV., F.H.] radikal […] [zu]“ (48). Sprachlich hintertreibt er das Stilideal der Klassik, da zentrale Wörter ambivalent sind, eine offene und ehrliche Kommunikation unmöglich und „die Sprache selbst die Trägersubstanz der Fiktion ist“ (266). Im Bereich des Chronotopos zeigt sich dieser stille Widerstand an der Wahl des „herrenlosen“ (48) Serails als Ort des Geschehens, der „als Raum der Alterität“ (48) im Gegensatz zu dem des Hofes konzipiert ist.

Eine weitere bereits oben besprochene Denkfigur, nämlich die der Entdifferenzierung und Dynamisierung der Stände, findet Leopold in Molières Don Juan. Der Don Juan erscheint als eine Figur, in der sich erotischer Exzess und monarchische Willkür zusammenfinden (vgl. 48). Außerdem antizipiert Don Juan durch sein Streben „d’aimer toute la terre“ (zit. nach Leopold, 296) den Egalitätswunsch, dem Rousseau 100 Jahre später in Form seines contrat social Ausdruck verleihen wird (vgl. 293–304).

Großen Raum widmet der Vf. der Princesse de Clèves, die in gewisser Weise „ein Gegenstück zur Traditionslinie des Don-Juan-Sujets“ (309) darstellt. Dies ist allein schon durch den Rückzug vom Hof des Königs bedingt, da sie sich so der höfischen Kommunikation entzieht und verweigert (vgl. 329). Insgesamt sieht der Vf. in dieser Erzählung de Mans Dialektik von Blindheit und Einsicht am Werk (vgl. 309). Dass dabei der Sprache ein eminent wichtiger Platz zukommt, steht außer Frage, da der Text „das Feld des Politischen als einen Raum der Sprache erkennbar werden [lässt]“ (48). So wird der Austritt aus der Welt des Hofes als „Fluchtraum“ (343) erfahrbar, der jedoch trotz allem an diese Welt gebunden bleibt „und der im Akt des in mehrfacher Hinsicht allegorischen Lesens besteht.“ (343). Zieht man mit Leopold den Schluss, dass die Princesse de Clèves der höfischen Lebenspraxis ihrer Zeit voraus war, könnte man in diesem Sinn den Text als Präfiguration der Nouvelle Héloïse lesen.

Auch die Anlage der Orte weist in diese Richtung. Ist nicht zuletzt Clarens, ebenso wie das Kloster, „Teil einer Fiktion, die von der Problematik des Lesens“ (349) und damit auch des Verstehens handelt? Auch hier können eros und polis nicht zueinander finden. So ist es zuerst die Blindheit der Leidenschaft Julies zu Saint-Preux, die durch Einsicht überwunden wird. Diese Einsicht wiederum kippt dann aber in die Blindheit religiöser Eiferei (vgl. 372). Leopold spricht hier von einem „Agon von phantasmatischem und rationalem Modell“ (373). Potenziert wird dieses Schwanken aus Blindheit und Einsicht durch die jeweilige Standeszugehörigkeit der Protagonisten, die verarmtem Adel – Julie – oder dem Bürgertum – Saint-Preux – angehören. Julie kann daher „als ein Gründungsopfer im Sinne Girards“ gelesen werden, weil ihr „Körper zum Austragungsort der sozialen Entdifferenzierungen“ (389) ihrer Zeit wird. Ein Äquivalent zu diesem „Gründungsopfer“ Julies erkennt Leopold in Marie-Antoinettes Hinrichtung, deren Opfer notwendig ist, da die Republik es dadurch vermag, „sich ihrer Männlichkeit zu versichern“ (390).

Der letzte Text, Les liaisons dangereuses, setzt ebenfalls einen „Kampf der Geschlechter und der Stände“ (48) in Szene. Gleichwohl unterscheidet sich der Roman durch den Zeitpunkt seiner Entstehung (1782) von den anderen dadurch, dass er tatsächlich am Beginn der Sattelzeit verfasst wurde. In ihm ist bereits jene „ideologische Krise, die zugleich eine Krise der symbolischen Ordnung, der Sprache und der Referenz ist“ (394), virulent, die schließlich zum Ausbruch der Revolution führen wird. Die Liaisons dangereuses sind daher auch in Bezug zu Rousseau zu setzen. Es existiert ein „basale[s] Modell wechselseitiger Entsprechung“ (399), das dazu führt, dass „die finale Katastrophe […] in beiden Fällen ein nicht zu rationalisierender Exzeß ist“ (399). Valmont ist willens, aufgrund seiner empfindsamen Liebe den rationalen Diskurs des Libertins zu verabschieden und noch dazu eine standesübergreifende Liaison – mithin eine Transgression – zu vollziehen. Chiastisch verkehrt begegnet diese Figur der Transgression nun auf der Ebene des Geschlechts in der Person der Mme de Merteuil, die, wiederum auf Standesnorm bedacht, doch die ihrem Geschlecht zugedachte Norm überschreitet. Beide gefährden die Ordnung und müssen daher eliminiert werden. Allerdings bleibt auch die restaurierte Ordnung ironisch gebrochen, da sie „zutiefst korrupt ist“ (417). Bedeutsam ist ferner, dass in der Lektüre Leopolds die Stelle des Vaters/Königs vakant bleibt. Keiner der Protagonisten vermag den phallus als „Archisignifikanten“ (425) der Souveränität zu vereinnahmen – bis auf Prévan. Doch auch wenn durch den Erzibertin Prévan zuletzt die Effeminierung des als männlich imaginierten politischen Körpers wieder rückgängig gemacht wird, so impliziert dies gerade nicht, dass die Ordnung deshalb schon „gut“ (428) wäre. Auf die Geschichte bezogen bedeutet dies, dass die Republik des beständigen Frauenopfers bedarf, um sich ihrer selbst und ihrer Männlichkeit zu vergewissern (vgl. 429).

Leopold ist mit der vorliegenden Monographie eine neue und sehr anregende Lektüre der Literatur (vor allem der kanonischen Texte) des ancien régime gelungen. Weiterhin erwähnenswert ist ein enges Netz aus Rück- und Querverweisen, sowie kurze und prägnante Zusammenfassungen am Ende der jeweiligen Kapitel. Diese gewährleisten eine transparente und nachvollziehbare Lektüre, die außerdem durch einen schönen und ansprechenden Stil unterlegt ist. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass Leopold seine hochgesteckten Ansprüche erfüllt und ein in jeder Hinsicht lesenswertes Buch vorgelegt hat.


  1. Diese anecdote typographique schildert die Zustände im Pariser Druckereigewerbe um 1740. Ein Lehrling und andere Arbeiter einer Druckerei werden beauftragt, alle Katzen des Viertels zu töten, bis auf „la chatte de Madame [Besitzerin der Druckerei, F.H.]“ (zit. nach Leopold, 33). Die Analyse geht nun dahin, dass in jenem Wortspiel sexueller und revolutionärer Sinn zusammenfallen: „Ces mauvais ne peuvent tuer les Maîtres, ils ont tué ma chatte […]“ (zit. nach Leopold, 33).





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