„C’est trop bien, Marivaux“ – La vie de Marianne und La vie d’Adèle von Kechiche
Sabine Schrader
« Mais m’écarterai-je toujours? Je crois qu’oui; je ne saurais m’en empêcher: les idées me gagnent, je suis femme, et je conte mon histoire; pesez ce que je vous dis là, et vous verrez qu’en vérité je n’use presque pas des privilèges que cela me donne. Où en étais-je? A ma coiffe, que je raccommodais quelquefois dans l’intention que j’ai dite.
Parmi les jeunes gens dont j’attirais les regards, il y en eut un que je distinguai moi-même, et sur qui mes yeux tombaient plus volontiers que sur les autres.
J’aimais à le voir, sans me douter du plaisir que j’y trouvais; j’étais coquette pour les autres, et je ne l’étais pas pour lui; j’oubliais à lui plaire, et ne songeais qu’à le regarder.
Apparemment que l’amour, la première fois qu’on en prend, commence avec cette bonne foi-là, et peut-être que la douceur d’aimer interrompt le soin d’être aimable.
Ce jeune homme, à son tour, m’examinait d’une façon toute différente de celle des autres; elle était plus modeste, et pourtant plus attentive: il y avait quelque chose de plus sérieux qui se passait entre lui et moi. Les autres applaudissaient ouvertement à mes charmes, il me semblait que celui-ci les sentait; du moins, je le soupçonnais quelquefois, mais si confusément, que je n’aurais pu dire ce que je pensais de lui, non plus que ce que je pensais de moi. Tout ce que je sais, c’est que ses regards m’embrassaient, que j’hésitais de les lui rendre, et que je les lui rendais toujours; que je ne voulais pas qu’il me vît y répondre, et que je n’étais pas fâchée qu’il l’eût vu.
Enfin on sortit de l’église, et je me souviens que j’en sortis lentement, que je retardais mes pas; que je regrettais la place que je quittais; et que je m’en allais avec un cœur à qui il manquait quelque chose, et qui ne savait pas ce que c’était. Je dis qu’il ne le savait pas; c’est peut-être trop dire, car, en m’en allant, je retournais souvent la tête pour revoir encore le jeune homme que je laissais derrière moi; mais je ne croyais pas me retourner pour lui. » 1
In Abdellatif Kechiches preisgekröntem Film La vie d’Adèle (2013) sehen wir eine junge Frau namens Adèle (Adèle Exarchopoulos) an einem Regentag im Morgengrauen dem Bus zur Schule hinterherlaufen, dann, in der Nahaufnahme gefilmt, in einem Vorortzug schlafen und später in den Unterricht hetzen. Begleitet wird die visuelle Ebene durch die Geräuschkulisse der Reise/des Weges ohne musikalische Begleitung: Die ZuschauerInnen hören und sehen anfahrende Busse, das Rattern der Züge, den Regen und den Schullärm. Adèle ist noch nicht im Klassenzimmer, da vernehmen wir die deutlich artikulierende Stimme eines Mädchens, die den oben zitierten Textauszug aus dem unvollendeten Roman La vie de Marianne (1731 – 1742) von Marivaux vorzulesen beginnt. Die Kamera blendet daraufhin in der Nah- bzw. in der Großaufnahme die Gesichter der vorlesenden SchülerInnen ein. Währenddessen fängt die ruhige Kamera weiter die ProtagonistInnen in in warmen Farben gehaltenen nahen Einstellungen ein. Nach einem harten Schnitt sehen wir die Jugendlichen in der Mensa über ihre sexuellen Erfahrungen sprechen. Die Sprache Marivaux’ lässt in dieser Szene eine Insel im eher grauen Alltag entstehen, die SchülerInnen schauen bzw. hören – mit der gleichen Ernsthaftigkeit – zu, wie sie später über diese Szene diskutieren werden.
Der Film La vie d’Adèle erzählt vom Erwachsenwerden Adèles, zu dem auch die Entdeckung ihres gleichgeschlechtlichen Begehrens gehört, und damit verbunden die Suche nach ihrer Identität und einem eigenen Platz in der Gesellschaft. Adèle verliebt sich in die etwas ältere Kunststudentin Emma, hat mit Vorurteilen ihrer nächsten Umgebung zu kämpfen, zieht irgendwann mit Emma zusammen; doch im Laufe der Jahre entfremden sich die beiden voneinander und trennen sich. Der Film folgt so den Gesetzen des Bildungsromans bzw., auf das Kino übertragen, denen eines Coming of Age-Films. Die Eingangsszene übernimmt dabei zwei Funktionen: Sie situiert die junge Protagonistin Adèle in ihrem Alltag in Lille, und sie lenkt den Blick auf Marivaux’ Roman La vie de Marianne bzw. konkret auf Marivaux’ Beschreibung des coup de foudre, der Liebe auf den ersten Blick. Letztlich ist die Eröffnungsszene eine Schlüsselszene, denn es geht Kechiche um die Alltäglichkeit der ersten Liebe, unabhängig von der sexuellen Orientierung. Der vorliegende Beitrag lenkt die Aufmerksamkeit auf die intermedialen Bezüge zwischen Kechiche und Marivaux und die jeweilige Inszenierung von Liebe. Dass die lesbische Liebe längst nicht so alltäglich ist, wie La vie d’Adèle sie erzählt, stellt die Rezeption des Films unter Beweis. Denn es ist vor allem die filmische Inszenierung des gleichgeschlechtlichen Begehrens, die die KritikerInnen beschäftigt. 2 Aus diesem Grunde sei zum Abschluss ein kurzer Blick auf die umstrittene Darstellung sexueller Vielfalt in der zeitgenössischen französischen Gesellschaft geworfen.
La vie de Marianne, Le bleu est une couleur chaude und La vie d’Adèle
Zwischen Marivaux’ unvollendetem Roman und dem Film von Kechiche liegen knapp 300 Jahre. Und man kann mitnichten von einem Medienwechsel (also einer Literaturverfilmung) sprechen, zu sporadisch sind die Einzeltextreferenzen in La vie d’Adèle auf La vie de Marianne. Dominanter Prätext von La vie d’Adèle ist vielmehr die bande dessinée von Julie Maroh mit dem Titel Le bleu est une couleur chaude (2010), wie auch der deutschsprachige Titel des Films lautet. Maroh erzählt die Liebesgeschichte der literaturbegeisterten Schülerin Clémentine und der Kunststudentin Emma. Die bande dessinée legt jedoch einen viel deutlicheren Fokus auf die Schwierigkeiten des Coming Outs, exemplarisch vorgeführt in der Schule und in der Familie. Clémentine wird letztlich von ihren Eltern auf die Straße gesetzt und zieht auch deshalb bei Emma ein. Nach einer Zeit des gemeinsamen Glücks scheint ihnen die Liebe verloren gegangen zu sein und sie gehen getrennte Wege. Ein erneutes Zusammentreffen offenbart zwar die gegenseitige Liebe, doch bricht Clémentine zusammen, sie ist unheilbar krank, verstirbt und hinterlässt Emma ihr Tagebuch, das die Geschichte enthält, die der Comic erzählt. Kechiche greift die Idee und die meisten Szenen von Le bleu est une couleur chaude auf, die er in seinem Film weiter ausbaut. Dankenswerterweise verzichtet er aber auf die Melodramatisierung am Ende. Doch die Entscheidung Kechiches mit einem Zitat von Marivaux zu beginnen, ist nicht so willkürlich, wie es vielleicht scheinen mag. Bei genauerem Hinsehen gibt es aufschlussreiche Unterschiede und Analogien, denen im Folgenden nachgegangen werden soll.
Die von Kechiche ausgewählte Eingangsszene ist Teil der berühmten Kirchenszene aus La vie de Marianne, die für die Forschung eine Schlüsselszene des Romans darstellt und die Eingang in französische Schulanthologien gefunden hat. 3 Es ist die Ich-Erzählerin Marianne, die von ihrem ersten Treffen mit Valville erzählt, bei dem sich die beiden ineinander verlieben, aber nie wirklich zueinander finden werden. Das Waisenkind Marianne, dessen soziale Herkunft ungewiss ist (als Baby wird sie als einzige Überlebende eines Kutschüberfalls gefunden, in dem sowohl Aristokraten als auch deren Personal sitzen), muss sich in ihrer Jugend in Paris als Wäscheverkäuferin durchschlagen. Erstmals geht sie mit einem teuren Kleid, dem Geschenk eines reichen Gönners, in die Kirche. Das Kleid wird zum Statussymbol, die Blicke der anderen bestätigen ihr erstmals ihre edle Gesinnung, die sie auch für sich zu beanspruchen glaubt. Identität wird hier zu einem Phänomen, das man entziffern 4 bzw. anders herum gewendet performativ hervorbringen kann. Es sind die Blicke der Anderen, die Marianne zu der machen, die sie sein möchte und es ist gleichzeitig „son entrée narcissique dans le jeu de regards“ 5. Dank einer Kette von Zufällen beginnt von nun an ihr sozialer Aufstieg, der in dem Roman mit dem sexuellen Erwachen enggeführt wird. Die Leerstelle im Herzen, „un cœur à qui il manquait quelque chose“ (Z. 25f. der Druckversion) kann daher doppeldeutig gelesen werden. Marivaux spielt hier auf den Makel der sozialen Unzugehörigkeit in einer Gesellschaft an, in der die Schichtzugehörigkeit die Identität bestimmt. Der Roman greift, wie Henri Coulet schreibt, das Problem auf, „comment être soi quand on n’est personne“. 6 Darüber hinaus haben wir es mit einer petrarkistischen Liebessituation zu tun: Die Blicke in der Kirche, die Liebe auf dem ersten Blick und deren Vergeblichkeit. Marivaux entwickelt aus diesem Mangel heraus das erotische Begehren Mariannes.
Erzählt wird das Leben der Protagonistin von Marianne als Ich-Erzählerin. Die rhetorischen Fragen, die szenische Wiedergabe von Dialogen und die Alltäglichkeit des Erzählten und der Sprache selbst befremdete zwar die Zeitgenossen, suggeriert aber eine große Nähe zum Erlebten. Aus einem Rückblick erzählt die inzwischen zur Comtesse avancierte über 50jährige Marianne einer Freundin die Geschichte ihrer Jugend und so mischen sich die erzählten Ereignisse mit ihren Kommentaren und Reflexionen. Leo Spitzer bezeichnet die Einführung der zwei Zeitebenen als „double structure“, 7 Jean Rousset etwas anders nuanciert als „double registre“. 8 Die Kommentare haben mehrere Funktionen, wie die oben zitierte Passage zeigt:
Sie sind metafiktional, wenn Marianne ihre Schreibweise reflektiert („Mais m’écarterai-je toujours?“, Z. 1 in der Druckversion),
der Text selbst wird zum Spiegel ihrer Identität („je suis femme“, Z. 2) bzw.
das Vergangene wird kommentiert und damit auch eine Distanz zum früheren Ich geschaffen („Tout ce que je sais, c’est que ses regards m’embrassaient, que j’hésitais de les lui rendre“, Z. 21).
Das erlebende und das erzählende Ich werden also weder klar voneinander abgegrenzt, noch gleichgesetzt, so dass der Leser zur kritischen Distanz aufgefordert und der naive Egoismus ironisch gebrochen ist. 9 Was bleibt, ist die starke Subjektivierung der Perspektive, da alles Erzählte in Beziehung zur Protagonistin gesetzt wird.
„Je conte mon histoire“ – Zur Subjektivierung der Perspektive
Auch Kechiche hat eine subjektive Perspektive gewählt, auf Adèle fällt – wie auf Marianne – „le maximum de lumière […] c’est toujours sur elle-même, sur sa conduite et ses motivations“. 10 Kechiche arbeitet mit einer subjektiven Kamera, die ZuschauerInnen sehen die Welt aus Adèles Perspektive, d.h. wir sehen in der Regel Adèle in Nah- oder Großaufnahme und dann folgen wir mit der Kamera ihren abtastenden Blicken. Auch die feindlichen Reaktionen ihrer MitschülerInnen und die Kommunikationslosigkeit ihrer Familie werden aus Adèles Perspektive gezeigt, die Gefühle der Anderen sind nur dann vorhanden, wenn Adèle (und damit die ZuschauerInnen) sie hören oder sehen.
Das den Roman konstituierende ‚double registre‘ findet sich jedoch nicht in La vie d’Adèle, der Film wird strikt progressiv, wenn auch elliptisch, erzählt, die Kommentare bzw. Reflexionen fehlen. Das ist meines Erachtens den unterschiedlichen Authentizitätsfiktionen des 18. bzw. 21. Jahrhunderts geschuldet, der Marivaux und Kechiche jeweils verpflichtet sind. In der Engführung von erlebtem und erzählendem Ich gelingt Marivaux die Authentizitätsfiktion des 18. Jahrhunderts: Marianne erinnert sich in Briefen an die damalige Marianne. Die Briefe sollen laut des Herausgebers im Avertissement posthum nun der Öffentlichkeit zugeführt werden, 11 eine für das 18.Jahrhundert typische Erzählstrategie. Im Film wird die Authentizität zunächst spielerisch zum Einsatz gebracht, trägt doch die Protagonistin den Vornamen der Hauptdarstellerin, womit er sich auch von der Bande dessinée unterscheidet, in dem die Protagonistinnen Clémentine und Emma heißen. Kechiche verzichtet weitgehend auf die konventionellen Authentizitätssignale des Films, wie schwarz-weiß bzw. fehlerhafte Bilder, verwackelte Kamera oder unausgewogene Lichtsetzung, 12 dennoch feiert gerade die Filmkritik die Natürlichkeit des Films. Nicht zu Unrecht: Dafür sorgen Szenen wie die Eingangsszene, in der statt Musikuntermalung nur die alltägliche Geräuschkulisse zu hören ist. Es liegt aber auch an der oben genannten Subjektivierung der Perspektive, die zum einen dazu führt, dass die ZuschauerInnen die Welt ausschließlich aus den Augen Adèles wahrnehmen, was die Identifikation erleichtert – und zum anderen daran, dass Adèles Leben in seiner Alltäglichkeit gezeigt wird, sodass hier fast der Eindruck eines cinéma verité entstehen könnte. Die Ereignisse werden kommentarlos aneinander montiert. Die Kamera ist unter Verzicht auf ein autoritäres Voice over sehr dicht an seinen Protagonistinnen, die wir oft in der Nahe oder Großeinstellung in warmen Licht sehen, sei es in der Schule oder beim Essen der Spaghetti zuhause. Aber gerade die Inszenierung Adèles mit dauerhaft halbgeöffneten Mund und verträumten Gesicht führt meines Erachtens die in der Kritik gefeierte Natürlichkeit etwas ad absurdum, erstarrt doch in diesem wiederholten Bild die Sinnlichkeit der jungen Frau zum Klischee (vgl. Abb. 1).
„Je suis femme“. Das Spiel der Blicke
In La vie d’Adèle lässt der Lehrer eingangs Marivauxs Satz „je suis femme“ vergegenwärtigen und neu lesen. „Je suis femme“ ist sowohl in Marivaux als auch in Kechiche ein performativer Akt, denn sowohl in der Literatur als auch im Film wird von charakterstarken jungen Frauen erzählt, die im Laufe des Romans bzw. des Films ihre Identität entwickeln und ihre Position in der Gesellschaft behaupten. Beide Frauen kämpfen dabei gegen gesellschaftliche Normen an. Marianne ist ein armes Findelkind, das sich allein in der Großstadt zurecht finden muss und sich in einen jungen Mann verliebt, der einer höheren gesellschaftlichen Schicht angehört. Marianne ist die andere, eine Fremde in Paris und vor allem ohne Schichtzugehörigkeit in einer Zeit, in der „la naissance dicte les qualités morales qui définissent l’être“. 13 Adèle wird vor allem im ersten Drittel aufgrund ihrer sexuellen Orientierung als die ‚Andere‘ inszeniert. Zunächst fassungslos registriert sie ihr nicht heteronormatives Begehren – eine Fassungslosigkeit, die vor allem durch die Reaktionen ihrer Freundinnen verstärkt wird. Im Laufe des Filmes zeigt Kechiche ihr Leben, so wird aus ihrer Liebe und Trennung „une histoire d’amour comme toutes les autres, au-delà de tous les préjugés“. 14 Aus diesem Grunde ist es nur logisch, die Liebesgeschichte bzw. Trennung nicht wie im Bande dessinée von Maroh und wie oftmals in der Filmgeschichte bis zu den 1980er Jahren tödlich enden zu lassen. Die Trennung vollzieht sich, wie sich zahlreiche Trennungen ereignen. Ein Faktor ist in La vie d’Adèle die unterschiedliche soziale Zugehörigkeit, die sich im Laufe des Films als Problem erweist. Die kleinbürgerliche Familie Adèles steht im Gegensatz zur bürgerlichen Akademikerfamilie Emmas. Kechiche gelingt es eindrucksvoll, dies am Beispiel zweier Abendessen vorzuführen: Spaghetti gegen Austern, düsteres kleinbürgerliches Mobiliar gegen lichte Wohnung, und während Adèle Emma vor ihren Eltern verleugnet, begegnen Emmas Eltern Adèle eher kameradschaftlich. Was zunächst in der Beziehung kein Problem darstellt, erweist sich im Laufe der Zeit doch als eines. Die Leben der Kunststudentin Emma und der Vorschullehrerin Adèle driften immer weiter auseinander. La vie d’Adèle ist aus diesem Grund vor allem ein Coming-of-Age Film, und die Erfahrung des nicht heteronormativen Begehrens stellt zwar einen der Reibungspunkte auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben dar, definiert aber später nicht mehr ausschließlich die individuelle Identität.
Leo Spitzer hat die Frage aufgeworfen, inwiefern man bei Marianne von einer Weiterentwicklung sprechen kann. 15 Marianne durchlebt zwar zahlreiche, sie prüfende Abenteuer, die sie aber nicht unbedingt verändern. Sie fühlt sich als „aristocrate du cœur“ 16 und wie schon der Untertitel die LeserInnen wissen lässt, ist sie in den Jahren, in denen sie ihre Lebensgeschichte niederschreibt, längst eine Comtesse. Sie schreibt also aus einer sicheren Position heraus, sie ist diejenige geworden, die sie zu sein glaubte. In diesem Sinne ist Leo Spitzer zuzustimmen, dass La vie de Marianne kein Bildungsroman ist. Adèles Leben hingegen beginnt mit dem Erwachen des lesbischen Begehrens, das Adèle aus dem Strom des ‚Normativen‘ reißt, sie gegen die Homophobie kämpfen und infolgedessen reflektierter agieren lässt. Genauso wird es mit der am Ende des Films sich vollziehende Trennung sein, die ihr Leben wahrscheinlich wieder in andere Bahnen lenken wird. Chapitre 1 + 2 nennt Kechiche seinen Film – und deutet damit eine mögliche Fortsetzung an.
Abhängig ist die Identität beider Protagonistinnen von der Wahrnehmung der Anderen. Dem Sehen kommt daher in La vie de Marianne als auch in La vie d’Adèle eine große Bedeutung zu. Roman und Film führen so den Prozess der Subjektwerdung vor. Schließlich ist die Subjektivierung nicht nur eine Folge diskursiver Praktiken, sondern jedes Subjekt materialisiert sich, indem ihm die Gesellschaft seine Bedeutung verleiht. Es ist das von Althusser einst beschriebene ‚Angerufenwerden‘ („interpellation“), das entscheidend für die Identität und das individuelle praktische Verhalten ist. 17 Marianne spürt in ihrem edlen Kleid die Blicke auf sich und wird zur Aristokratin (Z. 5), Adèle, die von Emma vor der Schule abgeholt wird, wird durch die Blicke und anschließenden Kommentare der Mitschülerinnen zur Lesbe – ohne dass sie ihr Begehren und ihr Verliebtsein vorher kategorisiert hätte. Die Liebe wird im Roman und im Film – unabhängig von der sexuellen Orientierung – positiv konnotiert, motiviert sie doch die Handlung und die Identitätsbildung. Und nicht nur Mariannes Liebe beginnt mit einem Blick inmitten von Menschen, auch Adèles. Im städtischen Getümmel entdeckt Adèle Emma, in der Diskothek sieht sie erneut und folgt ihr. Der Blick in der städtischen Anonymität ruft Baudelaires A une passante in Erinnerung. Marianne und Adèle sind aber aktiv Blickende, die den coup de foudre nicht als solchen belassen, sondern danach streben, ihre Liebe zu leben (vgl. Abb. 2).
Eine Verbeugung vor der Literatur
Nach der gemeinsamen Lektüre fordert der Lehrer in der Eingangsszene von La vie d’Adèle die SchülerInnen auf, den Satz „un cœur à qui il manquait quelque chose, et qui ne savait pas ce que c’était“ zu diskutieren. (Z.26) Konkret bezieht sich der Satz auf den coup de foudre, dessen sich Marianne in dieser Situation nicht bewusst ist. Im übertragenden Sinn verbeugt sich der Regisseur vor der Literatur, führt er im Film vor, dass in den literarischen Texten etwas versprachlicht werden kann, zu dem die Jugendlichen – wie einst Marianne – erst langsam Zugang finden müssen. Deutlich wird das auch in einer anderen Szene. Die SchülerInnen lesen Antigone und beschäftigen sich mit der Tragik als Folge von moralisch gerechtfertigtem Aufbegehren. Auf der Leinwand sehen wir das nachdenkliche Gesicht Adèles, die ihre eigenen Schlüsse daraus zieht. In einer anschließenden Szene beendet sie die Beziehung mit einem jungen Mann, in der sie sich ‚falsch‘ vorgekommen ist und entkommt somit der Tragik, wenn man diese Parallele von Kechiche weiterführt. Im Gespräch mit Emma diskutiert Adèle dann auch Sartres existentialistisches Weltbild.
„C’est trop bien, Marivaux“, sagt Adèle später im Film, man könnte auch sagen, „c’est trop bien, la littérature“. Die Filme des 1960 in Tunis geborenen französischen Schauspielers und Regisseurs Kechiche sind en passant immer auch Hymnen auf die Literatur. In seinem Erstlingswerk La Faute à Voltaire (2000) muss der naive, illegale Einwanderer Jalal eine ähnliche Erfahrung machen wie einst Candide, nämlich dass die Welt nicht die beste aller Welten ist. In Kechiches Film L’esquive (2004) finden Heranwachsende der Pariser Banlieue durch die Proben von Marivauxs Komödie Le Jeu de l’amour et du hasard (1730) Zugang zur Sprache und damit auch zu ihren Gefühlen. In La vie d’Adèle verhilft die Literatur zum Erkennen der Universalität der Liebe. Die Entscheidung für den Titel wiederum, der Marivaux sehr prominent markiert, resultiert aber meines Erachtens auch aus praktischen Gründen. Der Autorenfilmer Kechiche löst sich so von dem dominanten Prätext Le bleu est une couleur chaude, um den Film stärker in sein eigenes Werk einzureihen. Literatur wird in den Filmen von Kechiche als Lebenswissen inszeniert, weil sie normative Lebenspraxis zu hinterfragen und einen Möglichkeitssinn zu entfalten und zu speichern vermag. 18
Möglichkeitssinn und sexuelle Vielfalt
Der Möglichkeitssinn wird in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften bekanntlich als eine Fähigkeit definiert, „alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ 19 Liebe wird in La vie d’Adèle nicht nur normativ, d.h. heterosexuell gedacht und erzählt, die Beziehung von Adèle und Emma ist genauso wichtig, aber auch nicht wichtiger als andere Beziehungen. In diesem Sinne kann Kechiches Film als ein Beitrag zur positiven Setzung sexueller Vielfalt verstanden werden. Anders als in zahlreichen Erzählungen oder Filmen bis in die 1980-er Jahre hinein, aber auch als im Bande dessinée von Maroh endet die Liebesgeschichte nicht mit dem Tod einer Protagonistin, um die Hoffnungslosigkeit des nicht heteronormativen Liebens zu unterstreichen. In La vie d’Adèle resultiert die Trennung aus dem Auseinanderdriften der Lebenswege und nicht aus dem Widerstand der Gesellschaft. Anders als viele Coming Out-Filme, 20 die wiederum ihren Fokus auf die Schwierigkeiten des gleichgeschlechtlichen Begehrens in der Gesellschaft richten, geht es Kechiche vorrangig um die Identitätssuche einer jungen Frau – und hier kommt der intermediale Bezug auf Marivaux zum Tragen. Bei Kechiche wird die singuläre Geschichte Adèles zu einer quasi typischen Coming of Age Erzählung, wäre nicht die Darstellung des lesbischen Begehrens mit besonderer Aufmerksamkeit von der öffentlichen Meinung beäugt worden.
Der Regisseur Kechiche und seine beiden Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos gewinnen bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2013 die Goldene Palme. Die Auszeichnung des Films ist auch eine politische Entscheidung, die von Anfang an als solche verstanden wird. Steven Spielberg, Präsident der Jury von 2013, erinnert an die traditionelle, liberale Haltung des Frankreichs, 21 die die Filmwelt mit der Preisverleihung im Jahre 2013 feiert. 22 Es ist, so Thomas Sotinel in Le Monde, eine „palme du courage“.23
Das französische Parlament hatte nahezu zeitgleich zu den Filmfestspielen in Cannes am 18. Mai 2013 die familienrechtliche Gleichstellung homosexueller mit heterosexuellen Menschen verabschiedet, die unter anderem die Reformierung des Adoptionsrechts mit sich bringt. Gegen dieses Gesetz sind Monate lang teils gewalttätige Massendemonstrationen Sturm gelaufen. Im Zuge dessen wird dann auch die Entscheidung der Jury in Cannes kritisiert. Homosexualität sei laut der Vorsitzenden des Parti chrétien-démocrate (PCD) Christine Boutin doch nichts anderes als eine nicht unterstützenswerte Mode und sie fühle sich von den gays gar umzingelt. 24 Nun soll dieser Artikel nicht mit einer Ansammlung von Kuriositäten enden, die Reaktionen auf den Film zeigen vielmehr die ambivalente Haltung in der französischen Öffentlichkeit in Hinblick auf nicht normative Lebensentwürfe, zumal die GegnerInnen längst nicht mehr nur dem äußerst rechten politischen Lager zugerechnet werden können. Die Auseinandersetzung um die sexuelle Vielfalt in der Gesellschaft hat seit einem guten Jahrzehnt auch einen Reflex auf die Schule. Die curriculare Aufnahme von Büchern oder Filmen, die nicht heteronormativer Lebensentwürfe zum Thema haben, führen bisweilen zu einem zunehmend erbitterten Widerstand dagegen. Dazu gehört in Frankreich die Petition gegen die Vorführung von Tomboy in den Schulen (2011, R.: Céline Sciamma). 25 Tomboy wird im Rahmen der nationalen Programme École et cinéma und Collège au cinéma (unterstützt vom Ministère de l’Éducation nationale und des Ministère de la Culture) zur Schulung von Medienkompetenz empfohlen. 26 Der behutsame, ruhige Film erzählt aus der Perspektive der 10-jährigen Laure von der Performanz von Geschlecht. Laure nutzt nach einem Wohnortwechsel den Neuanfang, um sich als Junge auszugeben, hat sie doch lieber kurze Haare, trägt Hosen und spielt Fußball. Aus dieser für Laure neuen Genderidentität heraus resultiert dann auch ein vorsichtiger Kuss mit einem Mädchen. Da der Film zu den beliebtesten Filmen an den französischen Schulen gehört, ist er trotz der Proteste im Lehrprogramm geblieben. Ähnlicher Widerstand regt sich seit kurzem auch in Deutschland gegen die Verankerung der Thematisierung von sexueller Vielfalt in den Baden-Württembergischen Lehrplänen. 27 In einer Online-Petition rief ein Realschullehrer zum Widerstand gegen die Änderung des Bildungsplans auf. 28 Die Argumente sind jenseits und diesseits des Rheins ähnlich, zum einen wird das nicht heteronormative Begehren wie einst schon im 19. Jahrhundert pathologisiert (die Petition nennt beispielsweise als Manko des homosexuellen Lebens eine geringere Lebenserwartung, Suizidgefährdung und setzt auf ihre Therapierbarkeit), zum anderen wird sich auf ein alt bekanntes Gleichnis berufen, nämlich dass Phänomene nicht existieren, wenn über sie geschwiegen würde. Die Thematisierung von Vielfalt wird jedoch als Propaganda für nicht heteronormatives Verhalten wahrgenommen. Schaut man auf die Vehemenz und Polemik der GegnerInnen mutet es fast so an als ob in unserer schnelllebigen, globalisierten Zeit für einige Menschen gerade die heteronormative Performanz von Geschlecht die letzte Sicherheit zu bieten scheint. Kechiche aber versucht einfach eine Liebesgeschichte zu erzählen (vgl. Abb. 3).
Filmographie
À cause d’un garçon (2002, R.: Fabrice Cazeneuve)
La Faute à Voltaire (2000, R.: Abdellatif Kechiche)
L’esquive (2004, R.: Abdellatif Kechiche)
La vie d’Adèle (2013, R.: Abdellatif Kechiche)
Tomboy (2011, R.: Céline Sciamma)
Marivaux, La vie de Marianne (Paris: Gallimard, 1997), 117–118.↩
Vgl. z.B.: Frank Nouchi, „‚La Vie d’Adèle‘: deux femmes s’aiment, corps et âme“, Le Monde, 8. Oktober 2013, http://www.lemonde.fr/culture/article/2013/10/08/la-vie-d-adele-place-au-film-et-quel-film_3491671_3246.html.↩
Vgl. u.a.: Anne Deneys-Tunney, Ecritures du corps: de Descartes à Laclos, Paris: PUF, 1992; Patrick Coleman, „The Intelligence of Mind and Heart: Reconnaissance in ‚La Vie de Marianne‘“, Eighteenth-Century Fiction 18, Nr. 1 (2005): 27–47.↩
Deneys-Tunney, Ecritures du corps, 107.↩
Rudolf Behrens, „Imagination, désir, narration“, Littératures classiques 69 (2009): 125–139, hier: 134.↩
Henri Coulet, Marivaux romancier: essai sur l’esprit et le cœur dans les romans de Marivaux (Paris: Colin, 1975), 223f.↩
Leo Spitzer, „A propos de ‚La vie de Marianne‘: Lettre à M. Georges Poulet“, in Romanische Literaturstudien (Tübingen: Niemeyer, 1959), 248–276.↩
Jean Rousset, „Marivaux et la structure du double registre“ (1962), in ders., Forme et signification: essai sur les structures littéraires de Corneille à Claudel (Paris: José Corti, 1989).↩
Wilhelm Graeber, „Subjektive Welterfahrung und perspektivisches Erzählen: Marivaux, ‚La Vie de Marianne‘“, in Erlebte Rede und impressionistischer Stil: Europäische Erzählprosa im Vergleich mit ihren deutschen Übersetzungen, hrsg. von Dorothea Kullmann (Göttingen: Wallstein, 1995), 71–87, hier: 77f.↩
Jean Rousset, Narcisse romancier: étude sur la première personne dans le roman (Paris: Corti, 1973), 111.↩
Marivaux, La vie de Marianne, 57–58.↩
Nils Borstnar, Eckhard Pabst und Hans-Jürgen Wulff, Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft (Stuttgart: UTB, 2002), 32f.↩
Jean Parrish, „Illusion et realité dans les romans de Marivaux“, Modern Language Notes 80 (1965): 301–306, hier: 302.↩
Editorial, „‚La Vie d’Adèle‘, la beauté au-delà de la polémique“, Le Monde (8. Oktober 2013), www.lemonde.fr/idees/article/2013/10/08/la-vie-d-adele-la-beaute-au-dela-de-la-polemique_3491956_3232.html.↩
Spitzer, „A propos de ‚La vie de Marianne‘“, 255.↩
Spitzer, „A propos de ‚La vie de Marianne‘“, 252.↩
Louis Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, in Ideologie und ideologische Staatsapparate (1970) (Hamburg: VSA, 1977), 108–153, hier: 140. Die Anrufung ähnelt dem performativen Akt der Benennung, wie dies in den Gender Studies beispielsweise Judith Butler thematisiert hat.↩
Ottmar Ette, „Über Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, Perspektiven einer anhebenden Debatte“, in Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, Perspektiven einer anheben Debatte, hrsg. von Wolfgang Asholt und Ottmar Ette (Tübingen: Narr 2010), 137–144.↩
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1987), 16.↩
Vgl. beispielsweise den französischen Fernsehfilm À cause d’un garçon (2002, R.: Fabrice Cazeneuve).↩
Sotinel, „Cannes 2013: Spielberg et ses jurés osent ‚La Vie d’Adèle‘“, Le Monde, 26. Mai 2013, www.lemonde.fr/festival-de-cannes/article/2013/05/26/cannes-2013-une-palme-d-or-pour-abdellatif-kechiche-et-ses-deux-actrices_3417750_766360.html. Vgl. zur Geschichte von Homosexualität und Literatur in Frankreich: Naguschewski/Schrader, „Homosexualität – ein Thema der französischen Literatur und ihrer Wissenschaft“; Rees-Roberts, French queer cinema; zu den Queer Studies in Frankreich: Schrader. „L’exception française… Gender, Men’s und Queer Studies in Frankreich.“↩
Vgl. z.B.: Editorial, „‚La Vie d’Adèle‘ gewinnt Goldene Palme“, Zeit Online, 26. Mai 2013, www.zeit.de/kultur/film/2013-05/cannes-goldene-palme-adele.↩
Sotinel, „Cannes 2013“.↩
David Perrotin, „Mariage homosexuel: Christine Boutin dérape encore“, Metronews, 27. Mai 2013, www.metronews.fr; Julie Reynié, „Christine Boutin: ‚On est envahi de gays‘“, RTL, 27. Mai 2013, www.rtl.fr/actu/politique/christine-boutin-on-est-envahis-de-gays-7761755106.↩
Vgl. u.a. Clarisse Fabre, „Une pétition s’oppose à la projection de ‚Tomboy‘ dans les écoles“, Le Monde, 21. Dezember 2013, www.lemonde.fr/culture/article/2013/12/21/une-petition-s-oppose-a-la-projection-de-tomboy-dans-les-ecoles_4338625_3246.html; Mathilde Doiezie, „Tomboy: sa projection controversée dans les écoles“, Le Figaro, 24. Dezember 2013, http://www.lefigaro.fr/cinema/2013/12/24/03002-20131224ARTFIG00339--tomboy-sa-projection-controversee-dans-les-ecoles.php.↩
Centre national du cinéma et de l’image animée, „Ecole et cinema“, www.cnc.fr/web/fr/ecole-et-cinema; Centre national du cinéma et de l’image animée, „College au cinema“, www.cnc.fr/web/fr/college-au-cinema.↩
Vgl. dazu: Lena Müssigmann, „Homosexualität an Schulen in Baden-Württemberg“, Die Tageszeitung, 24. Januar 2014, www.taz.de/!131589/; Johanna Bruckner und Kathrin Haimerl, „Wir haben keinen Bekehrungsauftrag“, Süddeutsche Zeitung, 13. Januar 2014, www.sueddeutsche.de/bildung/sexuelle-vielfalt-als-schulthema-wir-haben-keinen-bekehrungsauftrag-1.1861948; Rüdiger Soldt, „Landesschülerbeirat gegen Panikmache über ‚sexuelle Vielfalt‘“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Januar 2014, www.faz.net/aktuell/politik/inland/lehrplaene-in-baden-wuerttemberg-landesschuelerbeirat-gegen-panikmache-ueber-sexuelle-vielfalt-12745678.html.↩
Open Petition, „Zukunft – Verantwortung – Lernen, Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“, zugegr. am 16.10.2014, www.openpetition.de/petition/online/zukunft-verantwortung-lernen-kein-bildungsplan-2015-unter-der-ideologie-des-regenbogens. Vgl. auch die aktuellen Artikel, z.B. Martin Voigt, „Aufklärung oder Anleitung zum Sex“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Oktober 2014, und die daran anschließenden Leserbriefe in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Oktober 2014.↩
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