Zur historischen Aufarbeitung und medialen Vermittlung der Shoah in Italien und Deutschland
Peter Kuon
Claudia Müller, Patrick Ostermann und Karl-Siegbert Rehberg, Hrsg., Die Shoah in Geschichte und Erinnerung: Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland (Bielefeld: transcript, 2015).
Ein vergleichender Blick auf die historische Aufarbeitung der Shoah in Deutschland und Italien und ihre unterschiedliche mediale Vermittlung tut not. Der Sammelband, der aus der 2013 vom Italien-Zentrum und dem Institut für Soziologie der TU Dresden in Zusammenarbeit mit der Facoltà di Lettere der Universität Rom-La Sapienza und der Konferenz für Geschichtsdidaktik veranstalteten Tagung Formen der Holocaust-Erinnerung hervorgegangen ist, stößt daher auf uneingeschränktes Interesse.
Der Band ist in drei Hauptteile gegliedert, denen eine sorgfältige Einleitung durch die Herausgeber vorausgeht. Im ersten Teil, „Zur Pluralität der Erinnerungen an die Shoah“, zeichnen deutsche und italienische Wissenschaftler, fast ausschließlich Historiker, die Entwicklung des Gedenkens an die Shoah in Italien nach, wobei der Erinnerungsdiskurs in Deutschland vorausgesetzt wird. Ruth Nattermann zeigt, wie das lange Zeit vorherrschende Narrativ einer humanen Einstellung der italienischen Bevölkerung gegenüber den verfolgten Juden (ein Narrativ, das interessanterweise nicht zuletzt von den Erinnerungen der Shoah-Überlebenden selbst gestützt wurde) mit Beginn der 80er Jahre durch die neuere zeitgeschichtliche Forschung in Frage gestellt wurde. Michele Sarfatti, einer der Protagonisten dieser Wende, unterscheidet zwei Etappen der Judenverfolgung in Italien, zunächst – von Mitte September 1938 bis zum 25. Juli 1943 – der Entzug der Bürgerrechte durch die antijüdische Gesetzgebung und Politik des faschistischen Regimes, danach – vom 1. September 1943 bis zum 25. April 1945 – die physische Verfolgung der Juden in der Repubblica Sociale Italiana und unter deutscher Besetzung. Neu an dieser Darstellung ist, dass die Judenverfolgung in beiden Phasen als endogenes Phänomen beschrieben wird, das keinesfalls eines von Hitlerdeutschland ausgeübten Drucks bedurfte. Mario Avagliano und Patrick Ostermann stützen diese These durch zwei mentalitätsgeschichtliche Studien: Avagliano, der einen breiten Bestand unterschiedlicher Quellen auswertet, gelingt es zu zeigen, dass die Rassengesetze auf wachsende Zustimmung in der Bevölkerung stießen und antijüdische Ressentiments und Übergriffe zunahmen, so dass schon vor der deutschen Besetzung der Boden für die Internierung und Deportation der italienischen Juden unter aktiver Beteiligung der italienischen Bevölkerung und Administration bereitet war; Ostermann untersucht die Gruppe der katholischen Faschisten, einer intellektuellen Elite um den Germanisten Guido Manacorda, die die faschistische Rassengesetzung in die katholische Sittenlehre integrierte und eine zentrale Rolle bei der Indoktrinierung und Fanatisierung der Miliz spielte. Die folgenden Beiträge nehmen die Perspektive der Opfer ein. Nicht sehr aussagekräftig ist Kilian Bartikowskis Beitrag zu Karl Löwith, da die wenigen Tagebuchnotizen des 1924 nach Italien und 1936 nach Japan emigrierten jüdischen Philosophen zwar ein interessantes Stimmungsbild vermitteln, die eigentliche Ausgrenzung und Verfolgung der Juden aber nicht mehr aus eigener Anschauung schildern. Hingegen gibt Raffaela Di Castros Auswertung ihrer Interviews mit römischen Juden der dritten Generation einen ausgesprochen interessanten Einblick in die generationenübergreifende Erinnerung an die Judenverfolgung in der faschistischen Diktatur und unter der deutschen Besetzung. Die nach dem Krieg vorherrschende „kollektive Amnesie“ (112) machte das Gedenken zur Privatsache, was die Familien insofern überforderte, als Kinder, Eltern und Großeltern stillschweigend übereinkamen, Tabus nicht anzurühren. Mittlerweile droht der Shoah-Diskurs, die dritte Generation auf eine Pflicht zur Erinnerung festzulegen, die Traumata nicht weniger perpetuiert als vormals das Schweigen. Di Castro spricht sich daher für ein Erinnern aus, das die Shoah zu einem wesentlichen, gleichwohl nicht ausschließlichen Merkmal jüdischer Identität macht. Der erste Teil des Sammelbandes wird durch einen Beitrag von Emmanuel Droit abgeschlossen, der die unterschiedlichen nationalen Zugänge in einen europäischen Zusammenhang stellt und für eine gesamteuropäische Erinnerungskultur im Sinne der Platform of European Memory and Conscience plädiert. Dagegen ließe sich mit Ruth Nattermann einwenden, dass eine solche transnationale Vergemeinschaftung des Gedenkens den wenig wünschenswerten Effekt haben könnte, die einzelnen Nationen von der Verantwortung zur Aufarbeitung ihrer je eigenen Unterdrückungs- und Verfolgungsgeschichte zu entbinden. Gerade in Italien ist auffällig, dass der durchaus erfolgreiche Transfer neuerer fachwissenschaftlicher Erkenntnisse in Schul- und Museumpädagogik (Sarfatti) mit einer erschreckenden Rehabilitierung des Mussolini-Regimes im parteipolitischen Diskurs einhergeht.
Die Fokussierung auf die Neuinterpretation der Judenverfolgung in Italien wird im zweiten Teil des Sammelbandes, „Historisches Verstehen und Geschichtsdidaktik vor neuen Herausforderungen“ nicht fortgesetzt. Dabei wäre es ausgesprochen interessant gewesen, mehr über die Auswirkungen dieser Neuorientierung auf die Geschichtsvermittlung in Italien zu erfahren. Stattdessen folgt eine Reihe ausschließlich auf Deutschland bezogener geschichtsdidaktischer Beiträge. Alfons Kenkmann fragt sich, wie der Zeitzeuge in Öffentlichkeit und Schule gekommen ist. Seine Antwort, die die Rolle des Schülerwettbewerbs „War Opa revolutionär?“ hervorhebt, ist, ohne internationale Vergleichspunkte wenig erhellend. Zweifellos – und dies gilt über Deutschland hinaus – ist der lebensgeschichtliche Zugang zur Geschichte mittlerweile in den Lehrplänen angekommen. Die von Kenkmann angeführten Zeugnisse eines 16-jährigen jüdischen Shoah-Überlebenden, eines ungarischen Juden, der zum Arbeitsdienst verpflichtet war, und eines – ebenfalls hochbetagten – deutschen Ordnungspolizisten wirken aber ebenso beliebig wie das Ziel, im Unterricht die „Bandbreite menschlicher Erfahrungsräume“ sichtbar machen zu wollen. Systematischer ist der Ansatz von Martin Liepach, der unter Hinweis auf die Oral History-Projekte des Fritz-Bauer Instituts und auf die im Oskar und Emilie Schindler Lernzentrum des Jüdischen Museums Frankfurt verfügbaren Interviews mit rund hundert Überlebenden von Schindlers Liste aus den Beständen des Visual History Archive der Shoah Foundation, die Notwendigkeit betont, über die Arbeit mit Zeitzeugenvideos eine Gegenerzählung zu der in den Schulbüchern nach wie vor dominanten täterorientierten NS-Geschichte zu entwickeln. Seinem Plädoyer für einen reflektierten Umgang mit Videointerviews, die, analog zu Textquellen, objektiviert, verglichen, kontextualisiert und in ihrer sprachlichen – narrativen – Verfasstheit interpretiert werden müssen, ist vorbehaltlos zuzustimmen. Thomas Lutz hebt die Bedeutung der Gedenkstätten für eine reflektierte historische Bildungsarbeit an den „authentischen“ Orten des Geschehens hervor. Sein vergleichender Blick auf die Entwicklung der Erinnerungspolitik in verschiedenen europäischen Länder lässt den Versuch der Durchsetzung eines transnationalen Geschichtsbildes im Sinne der International Task Force for Holocaust Education Remembrance and Research als einen Irrweg erscheinen. Vielmehr gelte es, in einen kritischen Diskurs über ein „buntes Mosaik“ (194) nationaler Geschichtsbilder einzutreten. In Deutschland stelle sich mehr und mehr die Aufgabe, vielfältigere Bildungsangebote auszuarbeiten, um die NS-Geschichte zielgruppenspezifischer zu vermitteln. Ein Beispiel hierfür ist die multimediale und interaktive Ausstellung Anne Frank: ein Mädchen aus Deutschland in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, deren Konzeption Gottfried Kößler und Meron Mendel vorstellen. Am Beispiel von Anne Frank sollen Jugendliche, häufig Schülergruppen, durch die Leitfragen „Wer bin ich?“, „Was geschieht mit mir?“ und „Was ist mir wichtig?“ einen Zugang zum Holocaust finden, der das Thema nicht musealisiert, sondern auf aktuelle Phänomene von Verfolgung, Rassismus und Antisemitismus öffnet. Ein Gegenbeispiel ist die Kriegsgräberstätte Herbrum/Aschendorfermoor, die – wie andere Gedenkstätten im Elmsland – durch überregionale Akteure gegen regionale Verdrängungsmechanismen erstritten, dann aber vernachlässigt wurde, so dass es sich, wie Ann Katrin Düben ernüchtert feststellt, mittlerweile um einen „erkalteten Erinnerungsort“ handelt. Der didaktische Teil wird mit einem Beitrag von Juliane Wetzel abgeschlossen, die Möglichkeiten aufzeigt, das Internet als „Quellenfundus“ für pädagogische Arbeit zum Holocaust zu nutzen, aber auch die allgegenwärtigen (antisemitischen) Fallstricke benennt, denen nur durch eine bessere Medienkompetenz zu begegnen ist.
Im dritten Teil, „Perspektiven ästhetischer Vermittlung“, nimmt der Sammelband das Thema der Judenverfolgung in Italien und Deutschland wieder auf. Im wesentlichen handelt es sich um Fallstudien zu Felix Nussbaum, zu Bruno Canova, zu Giorgio Bassani und zu Lorenza Mazzetti. Thorsten Heese, Historiker und Kurator des Felix-Nussbaum-Hauses in Osnabrück, zeichnet in seinem Beitrag die Lebenswege des Künstlerpaares Felix Nussbaum, Villa Massimo-Stipendiat 1932, und Felka Platek nach, die im belgischen Exil denunziert, nach Auschwitz deportiert und im August 1944 ermordet wurden, und stellt dann das Osnabrücker Felix-Nussbaum-Haus und seine museumspädagogischen Angebote vor. Man ist überrascht, dass der Autor auf jede eingehende Bildinterpretation (beispielsweise der tagebuchartig datierten Bilder der letzten Monate vor der Deportation) verzichtet. Wirklich sprachlos hat mich aber der folgende Hinweis auf ein Manko im Œuvre des ermordeten Künstlers gemacht: „Nussbaum hat den Tod in den Gaskammern nicht direkt gemalt, da er bereits vor seiner Deportation mit dem Malen aufhörte“ (239). Immerhin, so räumt der Autor ein, sei der Tod in den Gaskammern in „seinen Gemälden […] dennoch präsent, weil Nussbaum wusste, wovon er in seinen Bildern sprach bzw. berichten musste.“ (239) Dann ist ja alles gut, auch wenn in den Gaskammern Leinwand, Pinsel und Farben nicht vorgesehen waren. Die sich anschließenden Beiträge sind zum Glück sensibler. Der Kunsthistoriker Lorenzo Canova stellt zwei Werkzyklen, „L’arte della guerra“ (Anfang 1960er bis Anfang 1970er Jahre) und „La strage degli innocenti“ (Ende 1970er bis Ende 1990er Jahre) seines Vaters Bruno vor, der 1944 in ein NS-Arbeitslager im Sudetenland deportiert wurde und später Verfolgung, Krieg und Shoah in einer avantgardistischen Mischung von Malerei und Collage künstlerisch reflektierte. Der Kultursoziologie Karl-Siegbert Rehberg führt in die Ausstellung „Album di famiglia – Tagebuch eines Mädchens während des Faschismus“ ein, die 2013 während der Tagung, aus der der Sammelband hervorging, in Dresden gezeigt wurde. Es handelt sich um eine Serie von bewusst naiv gehaltenen Gemälden, in denen Lorenza Mazzetti die in ihrem autobiographischen Roman Il cielo cade (1961) geschilderten traumatischen Kriegserinnerungen (um die Ermordung ihrer jüdischen Gastfamilie Einstein durch deutsche Soldaten) nachträglich bildnerisch verarbeitet. Die Literaturwissenschaftlerin Sonia Gentili untersucht eines der Hauptwerke zur Shoah in Italien: Die Gärten der Finzi-Contini. Leider verliert sie sich in der gewiss reizvollen Intertextualität des Werks (Ugo Foscolo, Emily Dickinson, Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé) und vernachlässigt Giorgio Bassanis überaus differenzierte literarische Darstellung der Judenverfolgung in Ferrara. Im einzigen allgemeinen Beitrag zum Themenbereich der ästhetischen Vermittlung geht Ralph Buchenhorst unterschiedlichen medialen Ausdrucksformen des Shoah-Gedenkens nach, von Lanzmanns Shoah-Film über Gerz’ Harburger Säule und Sims Judenhass-Comic bis zu Luries Pin-Up-Girls auf Leichenbergen und Libskers Dokumentarfilm über Shoah-Pornographie. Ob der „Befremdungseffekt“ (295), den die gegenwärtig beobachtbaren medialen Verarbeitungen der Shoah erzeugen, in jedem Falle „Anteil an einer Erhöhung der Komplexität und Reflexivität im Umgang mit Vergangenheit und Geschichte“ (295) hat, bleibe dahin gestellt.
Trotz vieler interessanter Beiträge lässt der Sammelband insgesamt eine klare Linie vermissen. Während die Thematik Judenverfolgung in Italien (mit einem flüchtigen Seitenblick auf Deutschland) historisch kompetent und systematisch dargestellt wird, beschränkt sich der zweite – geschichtsdidaktische – Teil ausschließlich auf Deutschland. Ausgesprochen ärgerlich ist der dritte Teil, der auf jede Systematik verzichtet und „Kunstwerke als Medium für Erinnerungskultur und Geschichtsdidaktik“ (22), d.h. als bloßes Beiwerk eines historiographischen Diskurses betrachtet. Bezeichnenderweise sind an diesem Teil auch nur ein Kunsthistoriker und eine (nicht gerade als Bassani-Expertin ausgewiesene) Literaturwissenschaftlerin beteiligt. Interdisziplinarität bedeutet aber nicht, dass Historikerinnen und Historiker alles selbst machen, sondern dass sie in einen fruchtbaren Dialog mit anderen Disziplinen eintreten, die sich ebenfalls (und aus gleichem Recht) mit Shoah-Gedenken befassen.
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