Im Medium des Ästhetischen geopfert: zur Festschrift Ethos und Form der Tragödie

Alexander Nebrig

Niklas Bender, Max Grosse und Steffen Schneider, Hrsg., Ethos und Form der Tragödie, Für Maria Moog-Grünewald zum 65. Geburtstag, Germanisch-Romanische Monatsschrift: Beihefte 60 (Heidelberg: Winter, 2014), 518 S.

Die Ansicht, poetisch-literarische Texte seien im Unterschied zu anderen Textsorten, die sich ethischen Fragen widmen, stärker durch Sinnlichkeit der Sprache, ihrer Tropen, Figuren und Argumente markiert, ist dahingehend zu korrigieren, dass die Sinnlichkeit erst aus der Perspektive des Kritikers wahrnehmbar wird. Die Form des moralischen Gegenstandes ist nicht substanziell gegeben, sondern steht in einer relationalen Beziehung zum Betrachter, weshalb es angebrachter ist, anstatt von unpoetisch-abstrakten und poetisch-sinnlichen Ethiken zwei Zugangsweisen zur Literatur anzunehmen: eine unsinnlich-abstrakte und eine sinnlich-konkrete. Sobald etwas sinnlich erscheint, wird es ästhetisiert. Auch die Ethik von Texten ist in einer Form begründet, und der Literaturwissenschaft käme es als Disziplin zu, diese Begründungsart zu untersuchen. Grammatik, Rhetorik, Gattungszugehörigkeit und ganz allgemein die Frage, wie die Beschreibung, Inszenierung, Normierung, Performanz, Reflexion und Vermittlung des moralischen Wissens literarisch bewältigt werde, erhalten jedoch wenig Aufmerksamkeit seitens der literaturwissenschaftlichen Ethik. Sie hat es bisher versäumt, den wechselseitigen Zusammenhang von poetischer und ethischer Dimension historisch und systematisch zu untersuchen.

Daher ist man gespannt zu sehen, auf welche Weisen die hier versammelten Beiträge das Verhältnis von Ethos und Form in den Blick nehmen. Auch ist die Tragödie wie keine andere Gattung ethisch relevant, nicht nur wegen ihrer öffentlichen Wirkungsdimension und Performanz, sondern auch strukturell aufgrund der Gestaltung verschiedener ἤθη (ḗthē) in der Rede. Aristoteles, der als Diskursbegründer des literarischen Ethos gilt, hat im Nachvollzug des nachgeahmten Ethos das „Ereignis von Kunst“1 gesehen und dabei der Tragödie eine Schlüsselstellung zugesprochen. Somit ist das Anliegen des Sammelbandes von großer Relevanz. Bedingt allerdings durch den lockeren Charakter des wissenschaftlichen Mediums Festschrift,2 aber auch durch das Fehlen einer den Band erschließenden Einleitung, ist es nicht immer leicht, den Bezug der siebzehn Beiträge zur Problemstellung zu erkennen. Diese wiederum wird knapp in einem Vorwort skizziert. Ethos bezeichne zum einen „den Charakter des tragisch Handelnden“, zum anderen die „kollektiven sittlichen Konventionen“ (viii). Somit kommt in diesem Wort schon immer der tragische Grundkonflikt zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft zum Tragen. Normerfüllung und Normverletzung werden gleichermaßen als tragische Konflikte erkannt. Erst aus der Wirkungsabsicht gegenüber dem impliziten Publikum jedoch wird erkennbar, weshalb überhaupt eine ethische Spannung inszeniert wird. Denn nicht nur der tragische Held trägt den ethischen Konflikt aus, sondern das Publikum wird mit diesem Konflikt konfrontiert und zugleich normiert. Der tragische Held, der auf der Bühne im Medium des Ästhetischen geopfert wird, erhält eine ethische Vorbildfunktion. Die zweite Orientierungsgröße der Beiträge bildet das Formkonzept, dessen Wandel, so die Herausgeber, im Zusammenhang mit dem ethischen Konflikt stehe. Akzentuiert wird dabei die formalistische Annahme, dass neue Formentscheidungen neue Ausdrucksmöglichkeiten schüfen: So ergäben sich aus dem „Einsatz bestimmter formaler Mittel stets auch neue Möglichkeiten, das Ethos zu denken und darzustellen.“ (viii) Auch kämen in der Form ethische Aspekte zum Tragen, insofern ästhetische Ordnungsstrategien an moralische Konzepte geknüpft sind.

Die Skizze des Vorwortes und die weltliterarischen Beispiele, die im Band diskutiert werden, hätten das Zeug zu einer komparatistischen Geschichte der Ethos-Ästhetik im Medium der Tragödie. Doch das Potential wird aufgrund einer einheitlichen Perspektive nicht ausgeschöpft. Irritierend ist es zudem, dass sich einzelne Beiträge explizit dem in der Literaturwissenschaft populäreren Pathos-Begriff widmen.3

Zu den behandelten Gegenständen zählen Sophokles’ König Ödipus, Aristoteles’ Katharsis, die Theaterkultur der italienischen Renaissance, Tassos Tancredi, Shakespeares Affektpoetik, das Pathos-Konzept, Seneca-Rezeption, Corneilles Tragödien, Racines Britannicus und Phèdre, die Affektrhetorik des französischen Klassizismus und ihr Missverständnis durch Leo Spitzer, die Aufklärungstragödie, Manzonis Tragödientheorie, Georg Büchner, Miguel de Unamuno, die Aufhebung der Tragödie im zwanzigsten Jahrhundert, Pasolinis Edipo Re sowie Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie.

Eine größere Einheit bilden die Beiträge zur französischen Klassik, die wiederum genealogisch mit der antiken Tragödie verbunden ist. Lobend hervorzuheben ist angesichts des Versäumnisses in vielen Beiträgen, den Bezug zur Gesamtkonzeption des Bandes deutlich zu machen, der Beitrag von Patricia Oster, der sich als einer der wenigen (neben denjenigen der Herausgeber) explizit dem Verhältnis von Ethos und Form widmet. Oster zeichnet nach, mit welcher Präzision Corneille in seiner Tragödie Horace den ethischen Konflikt zwischen politischem Opferwillen und kreatürlichem Mitleid codiert. Halbverse und Zäsuren werden ethisch besetzt. Corneilles Gespür für rhetorische Effekte ist nicht nur ein Phänomen auf Makroebene der Form, sondern auch auf ihrer Mikroebene. Solche Analysen hätte man sich durchaus mehr gewünscht in diesem Band. Dass man sowohl das Ethische als auch das formale Problem trotz mangels an Explikation dennoch instruktiv erfassen kann, sei an vier Beiträgen verdeutlicht.

Der Zusammenhang von Charakter, Handlungsform und moralischer Aussage wird im Beitrag von Arbogast Schmitt analysiert. Der Gräzist setzt eine Ödipus-Interpretation fort, die er 1988 im Rheinischen Museum begonnen hatte, und eröffnet den epistemologischen Horizont, vor welchen sich sowohl das historische als auch das gegenwärtige Publikum gestellt sieht. Der 62 Seiten starke Aufsatz, der die Handlungsentwicklung am Charakter des Protagonisten präzise nachvollzieht, lehnt zwei in der Geschichte der Kritik wiederkehrende Deutungen der Tragödie ab. Weder sei Ödipus der unschuldig Schuldige, der rechtschaffen seine kriminellen Taten aufdecken wolle, noch sei er charakterlich vom „Jähzorn“ (48) depraviert. Beide Deutungen berücksichtigten nicht, dass hier ein „eigentümliches Verhalten“ (50) dramatisch entwickelt werde. Dieses ergebe sich aus außergewöhnlichen Herausforderungen. Schmitt lenkt die Aufmerksamkeit auf die zeitgenössische Sophistik, indem er Sophokles’ Vorliebe für ‚Fehl-Urteile‘ betont (50–1). Nicht etwa stehe die Vernunft als solche in der Kritik, sondern die „logischen Defekte“ einer „Wahrscheinlichkeitslogik“, wie sie später von philosophischer Seite durch Platon und Aristoteles erkannt worden seien: „Bei Sophokles spielen diese logischen Fragen natürlich keine theoretische Rolle, er hat aber die Wirkung der sinnlichen Präsenz auf ein Denken, das sich an ihr orientiert, gut beobachtet und demonstriert, wie es Ödipus dazu (ver-)führt, sich auf das jeweils Gegebene zu fixieren“ (53). Sophokles mache seinem Publikum klar, dass es selbst den ‚Fehl-Urteilen‘ des gesunden Menschenverstandes (doxa) ausgesetzt sei, und der von ihm eingesetzte Charakter versinnbildliche genau dieses moralische Problem. Keine Hybris, kein heroisches Wissen-Wollen, sondern ein Mensch, der sich zwar von sinnlich wahrgenommenen, aber dennoch falschen Annahmen leiten lässt und so seinem Untergang entgegenschreitet. Schmitts Leistung besteht nicht nur in der genauen Rekonstruktion der mit diesem Charaktertypus verbundenen Handlungsform, sondern auch in dem Nachweis, dass Ödipus in der Forschung seit der Epoche der Aufklärung nicht mehr als ein moralisch Fehlender gilt. Am Ende des Aufsatzes zeigt er dem gegenwärtigen Publikum, wie problematisch eine solche Sichtweise ist, die emphatisch und gebetsmühlenartig von der „Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit“ (58) spricht. Gegen sie empfiehlt er: „Von Sophokles kann man lernen, daß die scheinbar vernünftige Beschränkung auf das in direkter Bekanntschaft gewonnene Wahrscheinliche eine grundsätzlich riskante Urteilsbasis ist.“ (57) Schmitts Überlegungen sind damit selbst wieder in einen moralischen Rahmen gefasst. Denn er bringt Ödipus in Stellung gegen ein Denken, das die gegenwärtige epistemische Konstellation charakterisiere: „Visualisierung jeder Art von Erkenntnisfindung und -vermittlung und der logische (oft pseudologisch assoziative) Umgang mit dem sinnlich Präsenten“ (58).

Die Überlegung, dass die rein affektrhetorische Konzeption der Tragödie so nicht von Aristoteles gemeint gewesen sein kann, bildet den Anlass für Karlheinz Stierle, einen „Webfehler“ (65) in der aristotelischen Tragödienpoetik zu erörtern. In der Tat muss man sich fragen, wozu es der komplexen sprachlichen Form und des Handlungszusammenhanges (praxis) bedürfe, wenn es nur darum ginge, Emotionen freizusetzen und in welche Richtung auch immer zu kanalisieren. Eine „öffentliche Hinrichtung“ (65) könne ebenso phobos und eleos hervorrufen. Dazu müsse man nicht Tragödien schreiben. Für Stierle ist es geradezu skandalös, dass der Rezipient der Gattung nicht als ästhetischer, sondern rein rhetorischer Mensch gedacht ist. Die Tragödienform vereinige „emotive Nähe und ästhetische Distanz“ (82), was einem „Besserwisser“ und „Pedant“ (70) wie Lessing entgangen sei, was aber dagegen die von ihm kritisierten Franzosen, vor allem Racine erkannt hätten. Das „Vergnügen an der ästhetischen Rationalität des Werks“ (77) sei ein Vergnügen, das Aristoteles mitgedacht, aber nicht ausdrücklich artikuliert habe und das schließlich in der historischen Form der tragédie classique zum Tragen gekommen sei. Über Lessings „Theorie ästhetischer Aufmerksamkeit“ erschließt Stierle nicht nur die Katharsisproblematik, sondern auch „die Formproblematik der Tragödie des französischen Klassizismus“ (73). Aristoteles habe stillschweigend zugrunde gelegt, dass die Tragödie auf eine „Reinigung durch Form, nicht Reinigung als Mäßigung der Emotion durch sich selbst“ (73) abziele.

Die Nähe des Bandthemas zum Gebiet der literarischen Ethik lassen mehrere Beiträge erkennen. So widmet sich Rudolf Behrens dem Zusammenhang von Politik und Ästhetik bei Racine. Deutlich wird dabei, wie Britannicus am bösen antiken Beispiel die gute absolutistische Herrschaft Ludwigs XIV. nicht nur feiert, sondern für die Akteure seines politischen Systems Verhaltensmuster liefert und somit ihr Ethos konditioniert. Einmal mehr zeigt sich, dass das Ästhetische in dieser Epoche kein autonomer Bereich ist oder allein als Mittel der Unterhaltung oder der Affekterregung dient, sondern integraler Teil der Machtordnung ist.

Joachim Küpper fragt nach den Glücksansprüchen in Racines Phèdre und stellt sich damit ins Zentrum der literarischen Ethik. Die Protagonistin der Tragödie wird in ihrem Verblendungszusammenhang als Nachfahrin Don Quijotes und als Vorgängerin Emma Bovarys gelesen: „Die drei Figuren vereint die Essenz des Moderne-Syndroms, der absolute, auf die Gegebenheit nicht reflektierende Glücksanspruch.“ (312)

Der Band ist so angelegt, dass die Themenvorgabe Ethos und Form eher als Rahmen fungiert, in welchem die Beiträge zu lesen sind. Die Herausforderung besteht darin, den Bezug beider Kategorien jeweils selbst zu schaffen. Das Sachregister, das an sich hilfreich ist und sowohl das hohe Niveau als auch die begriffliche Differenziertheit der versammelten Autorinnen und Autoren spiegelt und das jedem als Impulsgeber empfohlen sei, der sich komparatistisch mit der Tragödie befassen will, bringt die Nichtbeachtung der Fragestellung des Bandes zum Ausdruck. Von den beiden Haupttermini findet nur der Ethos-Begriff Eingang, aber außer im erwähnten Beitrag von P. Oster wird er nicht strukturbildend verwendet. Auch erscheint er im Vergleich zu pathos, eleos, prodesse, phobos, Rhetorik, Zuschauer eher marginal zu sein (obgleich er implizit die Texte bisweilen organisiert). Das Fehlen der ‚Form‘ im index rerum wiederum mag daran liegen, dass sie ubiquitär ist. Alles ist eine Frage der Form, und die Genauigkeit der Beiträge resultiert eben auch aus einer Sensibilität für das Formale.


  1. Anton Sergl, Literarisches Ethos: Implikationen von Literarizität am Beispiel des konservativen Publizisten V. V. Rozanov. Mit einem abschließenden Exkurs zu A. P. Čechov (München: Sagner, 1994), 14.

  2. Hierzu kritisch Ernst Osterkamp, „Medien der Germanistik: Anspruch und Praxis literaturwissenschaftlichen Publizierens. Vorbemerkungen zu einer Diskussion“, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 45 (2001): 1–7.

  3. Vgl. Cornelia Zumbusch, Hrsg., Pathos: zur Geschichte einer problematischen Kategorie (Berlin: Akademie-Verlag, 2010).





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