(Un)Heimliche Vorreiter: die Brisanz des Avantgarde-Projekts

Zum Sammelband Avantgarde und Modernismus von Wolfgang Asholt

Friederike Reents

Wolfgang Asholt, Hrsg., Avantgarde und Modernismus: Dezentrierung, Subversion und Transformation im literarisch-künstlerischen Feld (Berlin: De Gruyter, 2014), 359 S.

Die ursprünglich auf der Tagung des Freiburg Institute für Advanced Studies (FRIAS) gestellte Frage „Was bleibt vom Avantgarde-Projekt?“ wird in dem nun vorliegenden, von Wolfgang Asholt herausgegebenen Band Avantgarde und Modernismus mit einem weitläufigen, im moderne-konstitutiven Sinne könnte man auch sagen: entgrenzenden Untertitel beantwortet: Dezentrierung, Subversion und Transformation. Mit dieser Diagnose wären die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts bzw. die sich mit ihnen befassenden Theorien zwar nicht gescheitert1 oder sogar gestorben2, ihr ureigenes Entgrenzungs-Postulat wäre mit dieser Diffusion jedoch auf eine Metaebene verschoben, von wo aus die den historischen Avantgarden zugeschriebene provokative Sprengkraft einhundert Jahre später nur noch als sanftes Nachbeben zu spüren wäre. Damit verbunden ist die sehr grundsätzliche Frage, ob nämlich, wenn von einem Projekt nur noch Ausläufer, Diffundiertes oder die Möglichkeit, dieses zu unterlaufen, übrigbleibt, man mit den Begriffen ,Avantgarde‘ und ,Modernismus‘, wie dies der Titel des Bandes vorauszusetzen scheint, überhaupt noch sinnvoll operieren kann. Die semantische Abnutzung dessen, was ehemals als Avantgarde bezeichnet wurde, zeigt sich bereits an dessen Vereinnahmung durch die Konsumgesellschaft, in der Waren wie Autos oder Parfums, Friseurläden oder Restaurants mit dem Avantgarde-Etikett versehen werden, offenbar um potentiellen Käufern oder Kunden das Gefühl zu vermitteln, bei der Produktwahl Vorreiter oder Trendsetter zu sein. Jenseits dieser Aushöhlung des ästhetischen Terminus überlegt auch Asholt in seiner Einleitung3, ob vielleicht gerade mit diesem Einzug in Werbesprache und Warenwelt „das zentrale Anliegen der Avantgarde, Kunst in Leben zurückzuführen, umfassend verwirklicht worden [ist], wenn vielleicht auch nicht im ursprünglich intendierten Sinne“. (1)

Auch Hubert van den Berg fragt in seinen „Anmerkungen zum Avantgardebegriff im frühen 21. Jahrhundert“4, ob es „heutzutage […] noch Sinn [macht], von ,Avantgarde‘ zu reden?“ (u. a. 295), und zeigt zunächst begriffsgeschichtlich auf, wieso die Bezeichnung als ,Avantgarde‘ von Beginn an „falsch und veraltet“ war (297). Denn militärisch betrachtet, sei die Avantgarde alles andere als richtungsweisend, sie habe vielmehr „die Aufgabe, gehorsamst einer angegeben Richtung zu folgen“ (297). Doch auch die Feststellung der Untauglichkeit ist, worauf van den Berg selbst verweist, keineswegs neu. So hat Hans Magnus Enzensberger schon 1962 in seinem Aufsatz „Die Aporien der Avantgarde“ darauf hingewiesen, dass „[d]as avant der Avantgarde […] seinen eigenen Widerspruch [enthält]: es kann erst a posteriori markiert werden“ (zit. n. van den Berg, 311). Dass van den Berg an den Schluss seiner Anmerkungen ausgerechnet Hofmannsthals sprachkritischen Vergleich „abstrakte[r] Worte“ (für den Avantgarde-Begriff) mit „modrige[n] Pilzen“, die „im Munde“ „zerfielen“ (für den unterstellten Konformismus, zit. n. van den Berg, 326), stellt, lässt den Autor indes selbst resignativ erscheinen, auch wenn er – vielleicht als letzten Ausweg – abschließend erwägt, ob nicht „Konformismus und Modrigkeit sogar par excellence Merkmale des Neuen“ seien (326). Ob, davon ausgehend, neologistischen Epochenbenennungen wie ,Neoavantgarde‘, ,Postavantgarde‘ oder ,Arrieregarde‘ nicht auch etwas Modriges oder Konformistisches anhaftet, sei an dieser Stelle dahingestellt.

Vor dem Hintergrund der immer wieder in dem Band konstatierten begrifflichen Unbestimmtheit – Asholt spricht in seinem Beitrag „Nach Altern und Scheitern: Brauchen wir noch eine Avantgarde-Theorie?“5 vom „Gespenst in der gegenwärtigen Kunst und Literatur“ – und der „Unmöglichkeit“ „eine[r] umfassende[n] Avantgarde-Theorie“ (328) sind die Beiträge denn auch weniger Versuche, das Gespenst dingfest zu machen, sondern vielmehr Annäherungen an historische und gegenwärtige Konzeptionen von Avantgarde und Modernismus (wobei Letzterem im Band deutlich weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird). Bemerkenswert nachzulesen ist (etwa in den Beiträgen von Ottmar Ette über Roland Barthes oder William Marx über Hans-Robert Jauß6), wie Literaturtheoretiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „Theorie-Avantgarde“ den Platz der historischen Avantgarden einnehmen konnten. In Kunst und Literatur der Gegenwart hingegen sei nur festzustellen, so Asholt in seinem resümierenden Beitrag, „wie wenig vom Projekt der Avantgarde […] umgesetzt werden konnte“ (342). Wenn also nach dem Shift von den Kunstavantgarden hin zur Avantgarde-Theorie heute nur noch semantische Restbestände in der Warenwelt geblieben sind, spräche prima facie einiges dafür, das Avantgarde-Projekt in der Tat für gescheitert zu erklären und von jeglichen weiteren Beschäftigungen mit dem scheinbar überholten Konzept abzuraten. Und doch sind innerhalb und außerhalb des künstlerischen Feldes durchaus neue Betätigungsfelder für neue ,Avantgardisten‘ bemerkbar. So ist gerade heute der Anspruch, Institutionen zu überwinden, in der Geisteswelt keineswegs obsolet geworden, selbst wenn Schriftstellern kaum Grenzen gesetzt, sondern ihnen, im Gegenteil, scheinbar nur Freiräume (ästhetischer, aber auch finanzieller Art) gewährt werden. Bedenkt man etwa die gegenwärtig geführten Debatten um Urheberrechte, Open Access etc., so böten sich dabei allerhand neue Wirkungskreise für avantgardistische Szenarien. Forderte noch Marinetti, Bibliotheken abzufackeln und Bücher zu verbrennen, so übernehmen dies – folgt man der Argumentation von Roland Reuß7 – die Bibliotheken heute in gewisser Weise selbst, indem sie der Digitalisierung soweit Vorschub leisten, dass den Autoren schließlich die Lebensgrundlage entzogen wird.

Außerhalb des Kunstsystems lebt die Tradition der Avantgarde heute jedoch am deutlichsten und vielleicht auch wirkungsvollsten in politisch-sozialen Milieus fort, wie etwa bei den globalisierungskritischen Bewegungen Clandestine Insurgent Clown Army und Occupy Wallstreet, auch wenn sich deren Vertreter dezidiert gegen eine solche Bezeichnung stellen. So hat Ingrid Gilcher-Holtey in ihrem lesenswerten Beitrag8 entsprechendes Material auf „idealtypische“ (181) avantgardistische Kriterien hin untersucht und gezeigt, wie diese „künstlerische Strategien ein[setzen], um radikale, die bestehende Ordnung transzendierende Forderungen zu lancieren und lebendig zu machen“ (197). Auch Walter Fähnders hebt in seinem Aufsatz9 über den avantgardistischen Künstler hervor, dass heute „die Avantgarde bzw. ein Avantgarde-Künstler […] gar nicht mehr nötig“ seien, um bestimmte „Prozesse in Gang zu bringen“ (217). Unter Bezugnahme auf den Kulturwissenschaftler Peter Alheit stellt er die politisch hochbrisante Frage, ob die Avantgarde inzwischen eine „[v]erborgene, heimliche, unsichtbare, anonyme, latente“ (215) sei. Alheit hatte festgestellt, dass [a]n die Stelle personalisierter Vorreiter und Genies […] soziale Bewegungen getreten“ seien, die „wichtige Hebammen des Modernismus“ oder „tragende Geflechte für innovative Aufbrüche“ (zit. n. Fähnders, 216) seien. Gerade das Verborgene, Heimliche und Anonyme zeichnet jedoch inzwischen nicht nur die westlichen sozialen Bewegungen aus, sondern auf deutlich gewaltsamere Weise etwa auch den Vormarsch islamistischer Terrorgruppen, deren in der Regel anonyme Vorreiter die westliche (aber auch die eigene) Kultur und deren Werte zerstören wollen. Inwieweit deren Selbstermächtigung und Selbstdarstellung als Adaption ,avantgardistischer‘ Darstellungsweisen zur Durchsetzung ihrer krypto-religiösen Ziele betrachtet werden könnten, kann an dieser Stelle nur als Anregung für eine augenscheinlich hochaktuelle Avantgarde-Forschung in den Raum gestellt werden. Ausgehend von Gilcher-Holteys „drei idealtypische[n] Kriterien“ – Avantgarde ist erstens „eine Bewegung der Manifeste“10, zweitens gekennzeichnet durch „kognitive Subversion“ à la Bourdieu sowie drittens durch eine „Konstruktion des sozial Imaginären“11 (181–2) – sind Manifeste (meistens, auch als Videobotschaften, im Internet veröffentlicht) allgegenwärtiges Mittel zur Darstellung der Forderungen und Ziele der Terroristen (i. S. v. Punkt 1), die eine andere Welt-Ordnung imaginieren (Punkt 3). Und schließlich kann man die Art der Dokumentation und Vervielfältigung etwa von Tötungsakten im Bourdieu’schen Sinne als „Politik der Wahrnehmung“ bezeichnen (Punkt 2), „die darauf abzielt, durch Verändern oder Konservieren der Kategorien [hier: die westlichen Werte], vermittels deren die Ordnung der Dinge wahrgenommen werden, und der Worte, in denen sie ausgedrückt wird [hier etwa: „Allahu Akbar“], diese Ordnung selbst zu erhalten oder umzustürzen.“ (zit. n. Gilcher-Holtey, 182)

Das Destruktive war jedenfalls auch für die Kunst-Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts charakteristisch, allerdings wollten diese nur die traditionelle Kunstauffassung (als Institution) zerstören und verwendeten dabei zum Teil vergleichsweise harmlos klingendes destruktives Vokabular („Ohrfeige“, „Faustschlag“, allerdings auch Preisung des „Kriegs“, des „Militarismus“ als „die einzige Hygiene der Welt“, so Marinetti im „Manifest des Futurismus“), drohten kulturelle Institutionen (wie Bibliotheken) abzubrennen, Museen zu fluten oder philiströse Städte („Podagra“, „Paralysia“, so Marinetti in „Tod dem Mondschein“) zu bombardieren. Doch schon damals blieb es nicht bei der Kunstrevolution, man erkannte (früher oder später), dass für eine Erneuerung der Gesellschaft eine Politisierung der Bewegung erforderlich ist. Nur wenige von ihnen nahmen Abstand von der politisierten Ausrichtung und wandten sich stattdessen, wie im Fall von Hugo Ball, der Religion zu. Die Vorreiter islamistischer Terrorgruppen sind aber gerade aufgrund der Verquickung von religiösem Fundamentalismus und ihrem kunstfernen Auftrag, gesellschaftliche Umwälzungen anzustoßen, die bislang gefährlichste Form weltpolitischer Avantgarde, die sich dabei paradoxer- oder vielleicht eher zynischerweise dezidiert moderner Mittel (wie etwa der neuen Medien) bedienen, um ihre Aktionen entsprechend publik zu machen.

Jenseits der im Band reichlich untersuchten dezentrierten Avantgarden (etwa in Ost-Europa nach 1945, im spanisch-sprachigen Kulturraum bzw. in Lateinamerika und in Ozeanien; in den Beiträgen von Eva Forgacs, Hanno Ehrlicher, Marco Thomas Bosshard und Gesine Müller12) müsste demnach eine weitere räumliche Avantgarde-Konzeption hinzugefügt werden, die dezidiert eurozentristisches bzw. westliches Denken attackiert. Das von Hans Ulrich Gumbrecht 1998 entworfene ,Kaskadenmodell der Modernisierung‘, auf das auch Asholt verweist (vgl. 334–5), das zwischen frühmodern, epistemologisch modern, hochmodern und postmodern unterscheidet, müsste somit durch eine fünfte „Modernisierungs“-Phase ergänzt werden, wobei zu untersuchen wäre, inwieweit der Avantgarde-Transfer und die damit verbundenen Transformationen sich nicht mehr auf Kategorien wie „De-Temporalisierung, De-Subjektivierung und De-Referentalisierung“ (335) beziehen lassen, sie also weniger subvertiert als vielmehr pervertiert werden. Die Kluft zwischen künstlerischer und politischer Avantgarde ist heute vielleicht so groß wie nie zuvor. Ihrer religiös radikalisierten Form ist jedenfalls nicht an einer Überführung von Kunst in Lebenspraxis gelegen, sondern an einer auf Schockwirkung angelegten Zerstörung von Leben und Kultur. Anders als bei den historischen Avantgarden, wo die Bezeichnung als solche eigentlich falsch und untauglich war, ist sie nun durch ihre realpolitische Rückbindung ans (Para-)Militärische auf fatale Weise richtig geworden, haben doch die Dschihaddisten gerade die angeblich gottgegebene Aufgabe, „gehorsamst einer angegeben Richtung zu folgen“ (297).


  1. So Peter Bürger, Theorie der Avantgarde (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974).

  2. So Paul Mann, The Theory-Death of the Avant-Garde (Bloomington u. a.: Indiana University Press, 1991).

  3. Wolfgang Asholt, „Einleitung“, 1–7.

  4. Hubert van den Berg, „Die Avantgardetradition dem Konformismus abgewinnen, der sie längst überwältigt hat? Einige Anmerkungen zum Avantgardebegriff im frühen 21. Jahrhundert“, 295–326.

  5. Wolfgang Asholt, „Nach Altern und Scheitern: Brauchen wir noch eine Avantgarde-Theorie?“, 327–45.

  6. Ottmar Ette, „Nanotheorie: Von Lasten, Listen und Lüsten der Avantgarden nach der Avantgarde“, 47–79; William Marx, „L’avant-gardisme est-il caduc? D’une double palinodie de Hans Robert Jauss“, 35–46.

  7. Vgl. Roland Reuß, „Eine Kriegserklärung an das Buch“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Oktober 2015; vgl. www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/roland-reuss-ueber-autoren-und-urheberrechte-13852733.html und auch www.textkritik.de.

  8. Ingrid Gilcher-Holtey, „In der Tradition der Avantgarden? Die globalisierungskritischen Bewegungen“, 181–98.

  9. Walter Fähnders, „Der avantgardistische Künstler“, 201–20.

  10. Gilcher-Holtey verweist hier auf Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–38), hrsg. von Wolfgang Asholt undWalter Fähnders (Stuttgart: Metzler 1995), XV.

  11. Vgl. dazu auch Sascha Bru, „The Phantom League:the Centennial Debate on the Avant-Garde and Politics“, in The Invention of Politics in the European Avantgarde (1906-1940), hrsg. von Sascha Bru und Gunther Martens (Amsterdam/New York: Brill, 2006), 9–34.

  12. Eva Forgacs, „The Political Implications of the Avant-Gardes of Eastern Europe since 1945“, 109–26; Hanno Ehrlicher, „Mode, Modernismo und Avantgarde: Maskeraden der ästhetischen Moderne im spanischsprachigen Kulturraum“, 127–45; Marco Thomas Bosshard, „Die Reterritorialisierung des Menschlichen in den historischen Avantgarden Lateinamerikas: für ein multipolares Theoriemodell“, 147–68; Gesine Müller, „J.-M. G. Le Clézio, Édouard Glissant, Epeli Hau’Ofa: Avantgarden in Ozeanien“, 169–80.





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