Spanische Identität unter der Voraussetzung des trikulturellen Mittelalters

Zu Fabian Sevillas Studie Die „Drei Kulturen“ und die spanische Identität

Jan Henrik Witthaus

Fabian Sevilla, Die „Drei Kulturen“ und die spanische Identität: ein Konflikt bei Américo Castro und in der spanischsprachigen Narrativik der Moderne, Siegener Forschungen zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft 26 (Tübingen: Stauffenburg, 2014), 372 S.

Die Studie von Fabian Sevilla beschäftigt sich anhand ausgewählter fiktionaler Erzähltexte des 19. und 20. Jahrhunderts mit der literarischen Identitätsverhandlung Spaniens. Ausgangspunkt ist dabei die These vom Verweisungszusammenhang christlicher, jüdischer und muslimischer Kulturen, deren Formulierung auf den Historiker Américo Castro zurückgeht. In einem Wort geht es also um Castro, seine Vorläufer und Nachfolger, die sich allerdings allesamt im Medium der Literatur bewegen.

Das Thema kultureller Identität ist gleichermaßen gegenwartsbezogen wie problematisch. Problematisch ist es schon deshalb, weil es sich aus zwei Begriffen zusammensetzt, die für sich genommen entweder unscharf (Kultur) oder umstritten (Identität und Kultur) sind. Dass es bei allem Problembewusstsein jedoch unumgänglich scheint, tagesaktuelle Themen mit dieser Wendung aufzugreifen, suggeriert eben ein Blick auf gegenwärtige Debatten, sodass man sich der diskursiven Gravitation, die von jenem Syntagma ausgeht, kaum zu entziehen vermag. Gelingen kann dies dennoch auf produktive Weise – als Geschichtswissenschaftler oder als Romancier oder als deren Kommentator – wie Sevillas Studie demonstriert. Américo Castro ist in die spanische Geistesgeschichte eingegangen, weil er in seinem 1938 erschienen Hauptwerk España en su historia die These entwickelte, dass man als Historiker über eine spanische Identität nur unter der Voraussetzung des sogenannten trikulturellen Mittelalters sprechen könne, das von der Koexistenz der drei Schriftreligionen – dem Islam, dem Judentum und dem Christentum – geprägt worden sei. In einer spanischen Geschichte gebe es dahinter kein zurück, womit die römische und rein christliche Herkunft der nationalen Identität zur Disposition stand und ein Historikerstreit so gut wie im Gange war, der sodann auf der gegenüberliegenden Seite von einem nicht weniger wortgewaltigen Opponenten aufgenommen und bespielt worden ist: Claudio Sánchez Albornoz.

Sevilla, der seine Dissertation 2014 publizierte, weiß um die Aktualität seines Themas, wie er im Vorwort zu erkennen gibt, wo der Leser auf Reden von José María Aznar und Barack Obama der 2000er Jahre verwiesen wird. Damit sind gleichsam politische und machttheoretische Implikationen aufgerufen, die durch methodische Bezugnahmen eingelöst werden. So versteht sich das Buch als eine Diskursgeschichte pluraler Identitätsentwürfe, die entweder – insofern die Verfasser vor Castro geschrieben haben – in diesem ihren theoretischen Sprecher oder aber – in der Nachfolge – ihren diskursiven Bezugspunkt gefunden haben. Dabei steht bei der Korpuserstellung im Vordergrund, dass in den jeweiligen literarischen Zeugnissen durch Thematisierung des plurikulturellen Mittelalters eine auf die jeweilige Gegenwart bezogene Identitätsverhandlung ausgetragen werde. Der Verfasser vermeidet es allerdings, sich im Rahmen der Debatte, die mit Castro auf dem Tisch liegt, selbst zu positionieren, also etwa „Castro Recht zu geben“ (18). Damit wird eher ein beschreibender oder beobachtender Gestus des Diskurshistorikers eingenommen, obwohl die Sympathien für Castro innerhalb dieser Diskussion wiederum auch nicht gänzlich verschwiegen werden (vgl. 20). Auf der performativen Ebene der Arbeit wird indes nur allzu deutlich, dass sie als Absage an essentialistische Identitätskonzepte verstanden werden kann und dass sie die Prozesshaftigkeit und Unabschließbarkeit von Identifikationsvorgängen affirmiert. Obschon diese Position nicht mit derjenigen Castros übereinstimmt, steht sie diesem doch weitaus näher als derjenigen Albornoz’.

Neben einem Kapitel zu Castro selbst findet der Leser im zweiten Teil zunächst eine eingehende Auseinandersetzungen mit Erzähltexten des 19. Jahrhunderts von Pedro Antonio de Alarcón bzw. des frühen 20. Jahrhunderts von Benito Pérez Galdós. Es folgen Abschnitte zu weiteren Romanciers der – wenn ich so sagen darf – ‚Post-Castro-Ära‘, so die Lektüre von Erzähltexten, die auf Verfasser wie Francisco Ayala, Juan Goytisolo oder Carlos Fuentes zurückgehen. Zur Art und Weise, wie nun diese Autoren mit España en su historia in Bezug gesetzt werden, finden sich vielerlei aufschlussreiche Ansätze, die m.E. aber doch noch einige Fragen offen lassen. Wie ist beispielsweise der These Sevillas gemäß Castros Rolle als ‚Diskursbegründer‘ zu verstehen? Die Antwort des Verfassers lautet: Der Begriff referiere weniger auf die Beispiele Marx oder Freud im bekannten Aufsatz Foucaults über den Autor, sondern verstehe sich „als Urheber einer bestimmten Diskursivierung wie gleichzeitig Urheber des ‚Gegenstandes‘ selbst […].“ (26) Die schon fast juristisch anmutende Kategorie der Urheberschaft zieht aber die Frage nach sich, wie denn die postulierte „Diskursivierung“ in Folgediskurse einmündet, die aber aufgrund ihrer literarischen Faktur eigentlich konterdiskursiv sein sollen. Und wenn Castro „Urheber eines Gegenstandes “ sei, für den es dennoch so etwas wie literarische Vorläufer gebe: Was soll das dann heißen? Was heißt hier genau dann Gegenstand? Und was bedeutet die Rede vom literarischen Gegendiskurs, den der frühe Foucault in Nähe zu Philosophemen Heideggers entwickelt hatte? Zudem wird dieser exponierte Status Castros, der ja auch die Architektur der Arbeit prägt, späterhin wieder erheblich in die vorhandene Textlandschaft eingesenkt, wenn gesagt wird, „dass sich einerseits Wurzeln des castristischen Denkens der spanischen Identität als eines trikulturellen Konfliktes in der Literatur finden lassen, dass andererseits jedoch die Literatur einen eigenen Weg der Diskursivierung dieser These beschreitet, Castros Text also weder einfaches Resultat eines literarischen Diskurses noch Auslöser desselben ist, sondern gleichsam wie ein weiterer Text in einer Reihe mit den literarischen Erzeugnissen steht, und insofern genauso unverzichtbar wie vernachlässigbar ist, wie die in den Untersuchungskanon aufgenommenen oder aus Platzgründen aus ihm ausgeschlossenen Texte.“ (74) Auch wenn sich also einerseits im Eingang der Studie eine gewisse Offenheit in der theoretisch-methodischen Reflexion zu erkennen gibt, ist doch andererseits der undogmatische und pragmatische Umgang mit vielfach strapazierten Konzepten nicht unsympathisch und signalisiert die große Anschlussfähigkeit der hier entwickelten Thesen. Darüber hinaus wird bei der späteren Arbeit an den literarischen Texten vieles sehr viel deutlicher.

Neben den im engeren Sinne literarischen Vorläufern Castros, die im zweiten Teil behandelt werden, bleiben auch die Essayisten, Philosophen und Historiker nicht unerwähnt, denen Sevilla ein ganzes Unterkapitel widmet und unter denen Autoren wie Ángel Ganivet oder Miguel de Unamuno auftauchen. Dies ist zu begrüßen, im Einzelfall vielleicht auch zu diskutieren, vor allem jedoch macht sich hier m.E. ein weiteres Desiderat bemerkbar, das darin besteht, die spanische Arabistik des 19. oder auch 18. Jahrhunderts stärker noch zu erforschen. Der Kontext aus dem Alarcón und später Galdós heraus schreiben, würde dadurch womöglich noch ein wenig deutlicher werden. Ähnliches ließe sich vom Philosephardismus sagen, allerdings wäre es gänzlich ungerecht, all dies nachträglich der Studie von Sevilla aufzubürden, der ja eine andere Akzentuierung angestrebt hat. Dennoch ist anzumerken, wie der Verfasser auch zum Ende hin einräumt, dass der Schwerpunkt der Arbeit auf der arabistischen Perspektive liegt.

In der Folge gelingt es Sevilla der oben angemerkten begrifflichen Unschärfe zum Trotz sehr gut, die neue Qualität der Thesenführung, die Castros Studie kennzeichnet, pointiert herauszuarbeiten. Man mag sich fragen, ob España en su historia nicht eine ausführlichere Lektüre verdient gehabt hätte, aber gerade der vergleichsweise überschaubare Umfang der Ausführungen hierzu ist geradezu vorteilhaft und analytisch weiterführend. So zeigt der Verfasser erstens, dass die trikulturelle Vergangenheit von der Peripherie in das Zentrum der kulturellen Identitätsbildung gerückt werde, also in der Argumentation des Historikers eine substanzielle Bedeutung erhalte. Sodann wird zweitens gezeigt, dass die in der Folge mythisch überhöhte Vorstellung der ‚convivencia‘ bei Castro durchaus konfliktiv angelegt ist. Schließlich arbeitet Sevilla drittens heraus, in welcher Weise dem Autor von España en su historia noch ein statisches, letztlich essentialistisches Identitätskonzept vor Augen schwebt: „Dies produziert das Paradox einer identitätsauflösenden Intention auf der einen und einem Festhalten an einer starren spanischen Identität auf der anderen Seite.“ (89) Diese harmonisierende Absicht, die der Intervention Castros zugrunde liegt, stehe unverkennbar im Kontext der posguerra und werde hernach in den betrachteten literarischen Zeugnissen nicht weiter mitgeführt, vielmehr werde das hierdurch freigesetzte Potenzial an Hybridisierung und Konfliktivität weiter entfaltet und ausgespielt. Diese Ausführungen sind allesamt überzeugend und mit Blick auf den zweiten Teil äußerst zielführend. Darüber hinaus hätte sich auch die Frage angeboten, welchen Kulturbegriff denn Castro selbst zugrunde legt. Zwar sind die operativen Überlegungen zu dieser wahrlich vorbelasteten Notion in der Einleitung (vgl. 24–5) erfrischend kurz. Aber angesichts der Fragestellung könnte in etwaigen Anschlüssen noch geklärt werden, auf welche Weise Kultur und Identität bei Castro selbst begrifflich zueinander finden und wie sie sich etwa zu den Vorgaben der Generationen von 98 (Unamuno) und 14 (Ortega y Gasset) verhalten, aber vor allem ob hier nicht Voraussetzungen vorliegen, die mit der aufziehenden Postmoderne beseitigt werden.

Der zweite Teil hebt an mit der Lektüre zweier fiktiver Erzähltexte des 19. Jahrhunderts bzw. des frühen 20. Jahrhunderts. Pedro Antonio de Alarcón ist nicht zuletzt als Verfasser des Diario de un testigo de la guerra de África (1860) in die Literaturgeschichte eingegangen – ein Bericht, in dem Alarcón Rechenschaft über die Erlebnisse des Afrikakrieges (1859/60) ablegt, an dem er sich aktiv beteiligte. Sevilla jedoch macht den Leser auf einen unbekannteren kleinen Text aufmerksam, nämlich auf „Una conversación en la Alhambra“ (1859): „Es ist meinen Nachforschungen zufolge der erste moderne Text und auch der einzige Alarcóns, der eine Relation zwischen trikultureller Vergangenheit der Iberischen Halbinsel und moderner Selbstdefinition der spanischen Nation expliziert.“ (104) Im Zentrum steht die Begegnung des Erzählers mit Aben Adul, dem letzten „Abkömmling der Zegri, einem Adelsgeschlecht aus der Zeit des maurischen Reichs von Granada (1238-1492).“ (106) Diese Begegnung findet auf historischem Boden statt, nämlich in der Alhambra, und ermöglicht einen Dialog zwischen beiden Figuren. Aben Aduls Klage, in welcher er die Verbannung der Morisken Anfang des 17. Jahrhunderts thematisiert, erinnert bisweilen an jene des Morisken Ricote im zweiten Teil des Don Quijote. Aber natürlich gibt es epochenbedingte Unterschiede: In einer überraschenden Lektüre führt Sevilla zu dem von Alarcón inszenierten Zwiegespräch aus, dass die Morisken zu Identifikationsfiguren der Spanier geraten, weil ihre Ausweisung sie in einen Identitätskonflikt gestürzt habe, der mit der Marginalisierung der Spanier ihrerseits innerhalb Europas vergleichbar sei. Geschult an den Ausführungen von Susan Martin-Márquez in Disorientations (vgl. 105) wird Afrika in Sevillas minutiöser Lektüre zum Reflexionsraum der eigenen nationalkulturellen Befindlichkeit.

Aita Tettauen (1905, arabisch für Krieg in Tetuán) von Benito Pérez Galdós erscheint in der Serie der Episodios nacionales. Als historischer Roman lenkt der Text den Blick auf den oben erwähnten Afrikakrieg (1859/60). Im Mittelpunkt der Handlung, in der übrigens Alarcón als literarische Figur auftaucht und die man vielleicht für den Leser ein wenig hätte aufbereiten können, steht die Figur Santiuste, der aus dem spanischen Heer desertiert und im jüdischen Viertel Tetuáns untertaucht, bevor er ins Haus von El Nasiry gelangt. Bei diesem wiederum handelt es sich um „einen Renegaten, einen vom Christentum Abgefallenen und freiwilligen Konvertiten zum Islam.“ (129) Santiuste wird zum erbitterten Kritiker des Kriegs und zum Apostel des Friedens, El Nasiry in der Folge des Romans zur Ablöse der heterodiegetischen Erzählstimme, indem er den Krieg aus marokkanischer Sicht darstellt, womit der Roman einen polyphonen Charakter annimmt. Da allerdings diese Version kommentarlos auf Spanisch und nicht auf Arabisch im Roman auftaucht, stellt Sevilla die Frage, ob „der Text vielleicht genau diese Inkonsequenz ausstellen“ möchte (145), was wiederum zu der These führt, dass „Aita Tettauen auf der Feststellung der Konstruiertheit und gegenseitigen Abhängigkeit von Selbst oder Ähnlichem und Anderem“ beruht (ebd.). Dies wiederum stehe in Verbindung mit einer allgemeinen Sprachskepsis, die Santiuste an anderer Stelle zum Ausdruck bringt, wenn er nämlich die spanische Sprache als ‚Schwert‘ bezeichnet, das ‚die maurischen Köpfe abschlägt‘ (vgl. 135). Auch wenn es sich hierbei sicherlich um einen Gemeinplatz handelt, der eher auf die rhetorische Tradition zurück- als auf die dort zitierte Sprechakttheorie vorausweist, so sind dennoch diese Zusammenhänge äußert lesenswert. Sie müssten indes noch insgesamt an den Kontext der oftmals beschriebenen Sprachskepsis des Fin de Siècle, aber auch an die Diskussion um den literarischen Realismus angebunden werden. Dies gilt im Übrigen auch für den Inhalt des Romans insgesamt, der ja 1905 im Zusammenhang der 98er Krise steht, sodass der Gedanke ebenso gerechtfertigt erscheinen könnte, hierbei markiere eher die Reflexion des Eigenen als die Metareflexion über das Fremde den Ausgangspunkt. Dass im Sinne des Verfassers die „Unverfügbarkeit alles Jenseitigen […] die Unverfügbarkeit des Diesseitigen: des Eigenen, des Ähnlichen, der spanischen Identität, der spanischen Nation“ (170) offenbare, darüber ließe sich also im Kontext der spanischen Jahrhundertwende sicherlich noch weiterräumig diskutieren, aber zweifellos liefert Sevilla mit seinen eloquent entfalteten Thesen, die weniger dem Kontext, dafür aber dem Text in seiner kompositorischen Struktur Rechnung tragen, wichtige Impulse für eine solche Diskussion.

Ein großer chronologischer Sprung befördert den Leser der Studie darauf in die Post-Castro-Ära, wobei die Erzählung „La cabeza del cordero“ (1949) von Francisco Ayala nicht nachweislich in irgendeinem direkten Abbildungsverhältnis mit den Thesen des Historikers steht, zumal „Ayala eine kritische Distanz [wahrte] zu den dort entwickelten Theorien Castros, insbesondere den essentialistisch anmutenden Auffassungen von ‚España‘ und ‚lo español‘.“ (173) Den Kontext der Erzählung bildet nunmehr die posguerra, es geht darum, das im Bürgerkrieg Vorgefallene nicht zu verdrängen: Ein in Philadelphia residierender Geschäftsmann spanischer Herkunft mit Namen José Torres, trifft im marokkanischen Fez mit einer Moriskenfamilie zusammen, deren Angehörige behaupten, mit ihm gemeinsame Vorfahren zu haben. Diese Begegnung bietet Anlass, die geteilte – verwandtschaftliche – Vergangenheit von Spaniern und Mauren im Zeichen der Morisken sowie die unmittelbare Geschichte des Bürgerkriegs zu thematisieren. In diesem Zusammenhang wendet sich Sevilla gegen die in der Kritik verbreitete Auffassung, „dass die Morisken als Spiegelbild der Exilsituation der Republikaner nach dem Bürgerkrieg fungieren“ (173): Vielmehr gelte es, die Bedeutung der Moriskenthematik für die Demontage eines einheitlichen „nationalen Identitätsnarrativs, das sich unter Ausschluss der Mauren (und der Juden) konstituiert“ (174), aufzuzeigen. Obwohl man hier einige Hinweise darauf vermisst, welche Rolle die ‚Mauren‘ in der franquistischen (aber auch republikanischen) Propaganda denn tatsächlich gespielt haben, gelingt es dem Verfasser vermittels scharfsinniger Lektüren und Querverweise herauspräparieren, dass das evozierte Bildfeld der Verwandtschaften nicht ausschließlich auf den Referenzrahmen des Bürgerkrieges verweist, sondern für sich genommen eine oftmals übergangene Identitätsverhandlung darstellt, deren kritischer Impuls auf in jener Epoche zirkulierende Ideologeme bezogen werden kann.

Bei Juan Goytisolos Reivindicación del Conde don Julián (1970) handelt es sich womöglich um das prominenteste Beispiel der hier nahegelegten Textserie. Der maßgebliche Intertext, mit welchem Goytisolos Roman kommuniziert, ist die Legende des Grafen Julián, wie sie nach bestimmten Quellen des Mittelalters überliefert worden ist: „Darin wird die maurische Invasion der Iberischen Halbinsel als Reaktion auf eine Tat zurückgeführt, dessen Urheber der westgotische König Rodrigo gewesen sein soll: Er vergewaltigte Florinda, die Tochter Juliáns, des westgotischen Statthalters in Ceuta. Julián, durch diese Tat zutiefst in seiner Ehre verletzt, soll daraufhin mit den Mauren paktiert und Spanien verraten haben.“ (199) Goytisolos Text erweitert dieses Verhältnis um einen Pakt mit dem Leser, dem in streckenweise experimenteller Prosa und durch die an die Aktualität angepasste Neumodellierung der Figur die Identifikation mit einem Verräter und Feind des reaktionären und ultramontanen Spaniens angeboten wird. Anhand der zum Teil recht drastischen Settings, mit denen in Goytisolos Text dem mythischen Inventar des ‚Ewigen Spaniens‘ zu Leibe gerückt wird, legt Sevilla die fundamentale kommunikative Strategie frei: „Im Leser – im Du – liegt die Möglichkeit der Diskurszerstörung, die Dekonstruktion des Diskurses der España sagrada. Der Text Reivindicación vollzieht performativ, was er inszeniert.“ Und man fühlt sich an Gilles Deleuze erinnert, wenn Sevilla weiter schreibt: „Und die Zirkularität des Textes, seine ständige Wiederholung, verweist auf die Möglichkeit der Diskursveränderung, da Wiederholung Differenz impliziert […]“ (253). Gleichsam werden die Verbindungslinien zu Castros These aufgezeigt, indem gezeigt wird, wie das ‚Andere‘ in verschiedenen Rollen – ‚das Maurische‘, Sinnlichkeit, der Verrat, die Subversion – selbst im Hoheitsgebiet der España eterna immer schon unterwegs sind. Mit Rückgriff auf die bekannten Erfolgskonzepte der dekonstruktiven, postkolonialen und funktionalistischen Theoriebildung (Differenz, Hybridisierung, Karneval) wird jedoch ebenso der Unterschied zum essentialistischen Identitätsverständnis Castros herausgearbeitet, so dass „in Reivindicación die Grenze zwischen der spanischen Identität und dem Maurischen nicht einfach so haltbar ist, dass aber auch die Entitäten Spanisches und Maurisches an sich nicht einfach so haltbar sind […], sondern dass das Spanische eine Konstruktion unter hybridem Grenzverlauf zum Maurischen ist.“ (280) Ob man allerdings nach diesem Befund noch von Castros „Ägide“ (275), unter der das Ganze stattfinden soll, sprechen kann, sei dahin gestellt.

Die Textserie endet mit einem Ausblick nach Übersee. In „Las dos orillas“ (1993) thematisiert der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes die Rolle der Sprache bei der Eroberung von Gesellschaften und Kulturen. Der Erzähler Jerónimo de Aguilar ist als historische Figur den Chroniken der Eroberung Mexikos entlehnt. Bei einer Expedition war er in eine langjährige Gefangenschaft der Maya geraten, die dazu führte, dass er ihre Sprache erlernte. Hernán Cortés befreite ihn und macht ihn auf seinem Feldzug zu seinem Dolmetscher, zusammen mit doña Marina, genannt la Malinche. In Fuentes’ Erzählung allerdings versucht Aguilar mit seiner doppelbödigen Übersetzertätigkeit die Eroberung zu verhindern – was nicht gelingt – und heckt mit seinem Freund Gonzalo Guerrero einen Plan zur Eroberung Spaniens aus, die dann im letzten Kapitel imaginiert wird und in einer Zusammenführung der vier Religionen gipfelt, der christlichen, muslimischen, jüdischen und altamerikanischen. Der somit beschworene Aufbau eines multireligiösen Tempels aus den Steinen der zusammengestürzten Giralda wertet Sevilla als „klaren Verweis“ (294) auf Castros trikulturelles Mittelalter. Auf diese Weise kann Aguilars Gegeneroberung wie ein „mestizaje cultural“ (ebd.) erscheinen. Als Ort der Aushandlung einer kulturellen Durchmischung erscheint bei Fuentes in der Interpretation Sevillas die spanische Sprache, die nicht nur das Repressionsorgan des Imperiums gewesen sei (Nebrija ), sondern auch ein Speicher von interkulturellen Begegnungen, Kontakten, Konflikten und Akkulturationen in der Vergangenheit. Eine solcherart untreu gewordene Sprache, die nicht nur dem multikulturellen Gewordensein unterworfen ist, sondern die selbst auch stets von Neuem akkulturiert, kann als wirksames Instrument der Überschreibung von monolithisch gedachten Identitäten angesehen werden. Es ist mithin sehr erhellend und originell zugleich, vielleicht sogar ein Coup von Sevilla, uns Fuentes’ Erzählung nach einer Lektüre von Goytisolos Conde Julián – zwei Rückeroberungsphantasien – vorzulegen. Allerdings hätte man insbesondere bei Fuentes noch stärker herausarbeiten können, in welchem Verhältnis der eher retrograd anmutende Rückgriff auf Castro zu den ansonsten im postkolonialen Umfeld florierenden Transkulturalitätstheorien steht. Der Ausgangsthese vom Diskursbegründer Castro wären solche Überlegungen sicherlich zuträglich gewesen.

Für die in den Texten beobachteten Schreibstrategien und für die Denkhaltung, die sich hinter diesen verbirgt, findet Sevilla abschließend eine glückliche Wendung: „Xenographiertes Spanien“ (325). Diese Gemeinsamkeit im Anliegen bei allen Unterschieden herausgearbeitet zu haben, ist das große Verdienst der Studie, die zugleich am Ende doch für den von Castro gewiesenen Weg Stellung bezieht. Blickt man zurück, so fällt auf, dass der Verfasser dabei weitgehend gegen eine jeweilige historische und ggf. auch diskursiv unterschiedliche Einbettung optiert. Zugute kommt dies allerdings einer geduldigen Lektüre der Texte, im Zuge derer jederzeit ihre künstlerische Faktur und Kondition zur Sprache gebracht wird. Daher lesen wir als Literaturwissenschaftler Sevillas Buch mit großem Gewinn und sehen uns bestätigt in der Annahme, dass gerade literarische Texte das Expertenwissen für kulturelle Identifikationsprozesse, ihre Kontingenz, Offenheit und Sprachgebundenheit bereithalten. Insbesondere Hispanisten, denen die von Sevilla kommentierten Texte bekannt sind, werden also eintreten in einen aufschlussreichen Dialog mit der Vielzahl an bereichernden Thesen, die man in der Studie findet. Aber auch die einem breiteren romanistisch gebildeten Publikum Angehörigen werden durch Sevillas Dissertation auf literarische Texte gestoßen, die eine größere Beachtung verdient hätten und die im Einzelfall regelrechte Trouvaillen sind.





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