Aventures radiophoniques du Nouveau Roman

Beatrice Nickel

Tagungsbericht: Colloque international organisé par l’Université Paul-Valéry Montpellier, en partenariat avec l’Université de Stuttgart, 19–20 novembre 2015. Organisateurs: Pierre-Marie Héron, Annie Pibarot, Université Paul-Valéry Montpellier, centre de recherche Rirra21; Françoise Joly, Beatrice Nickel, Universität Stuttgart. Tagungsprogramm vgl. http://blog.romanischestudien.de/hoerspiel-und-nouveau-roman.

Nach wie vor wird die literarische Bewegung des Nouveau Roman vor allem auf das Medium des Buches festgeschrieben. Dies verstellt den Blick darauf, dass es den entsprechenden Autoren, die dem Nouveau Roman im Allgemeinen zugerechnet werden, gerade darum ging, ihre literarischen Werke in produktiver Auseinandersetzung mit anderen Künsten und Medien hervorzubringen und somit dem Prinzip der Intermedialität zu verpflichten. Die Intermedialitätsforschung im Bereich der Literatur ist bislang noch immer auf das Visuelle konzentriert. Untersucht werden mit großer Vorliebe intermediale Beziehungen zwischen Wort und Bild in den unterschiedlichsten literarischen Gattungen (von der Graphic literature bis hin zur visuellen Poesie) oder der Medientransfer vom Buch zum Film etc., jedoch finden wir in der Literatur auch zahlreiche Formen skriptural-akustischer Intermedialität. Beispiele hierfür finden sich im Bereich der Lautdichtung, die im 20. Jahrhundert einen Höhepunkt erfährt, und eben auch im Bereich des Hörspiels, bei dem es sich – in europäischer Perspektive – allerdings um eine noch vernachlässigte Gattung handelt.

Mit den im Titel der Konferenz benannten „aventures radiophoniques du Nouveau Roman“ sind jene pièces radiophoniques oder Hörspiele gemeint, die von Autoren stammen, die dem Nouveau Roman zugerechnet werden. Den Organisatoren ging es dabei darum, sich nicht nur auf die ‚Kernautoren‘ zu beschränken, sondern ein umfangreiches Panorama dieses bislang von der Forschung noch immer vernachlässigten literarischen Bereiches zu bieten – was ihnen ohne jeden Zweifel gelungen ist. So gab es Vorträge zu Neuen Hörspielen von Samuel Beckett, Michel Butor, Marguerite Duras, Claude Ollier, Robert Pinget, Nathalie Sarraute und Monique Wittig. Eingeleitet wurde das Kolloquium von methodisch-theoretisch ausgerichteten Vorträgen und solchen, die den sozio-historischen Kontext der Entstehung und Ausstrahlung der Hörspiele der Nouveaux Romanciers in England und Deutschland beleuchtet haben. Im Bereich des Hörspiels nehmen die in den 1960er Jahren vom Süddeutschen Rundfunk ausgestrahlten Hörspiele französischer Autoren des Nouveau Roman insofern eine Sonderrolle ein, als ihr Verhältnis zum konventionellen älteren Hörspiel mit demjenigen des Nouveau Roman zum (realistischen) Roman des 19. Jahrhunderts vergleichbar ist, auch wenn die Neuen Französischen Hörspiele verglichen mit den Nouveaux Romans – und auch verglichen mit zeitgleichen deutschen Hörspielen – nach wie vor ein Schattendasein führen und auch von der Forschung stiefmütterlich behandelt werden.

Das Neue Hörspiel ausschließlich als eine akustische Variante des Nouveau Roman aufzufassen, würde den Blick darauf verstellen, dass der Medientransfer vom Buch zum Rundfunk weitreichende Folgen für die inhaltliche Gestaltung hat, die darüber hinaus ebenfalls von den technischen Möglichkeiten des Rundfunks stark bestimmt wird. Hörspiele sind geradezu Paradebeispiele für Marshall McLuhans vielzitierte These „The Medium is the Message“ (1964). Denn die Ursprünge des Hörspiels sind unmittelbar und untrennbar mit dem Medium Rundfunk verknüpft: Entwickelt wurden diese ursprünglich ausschließlich für den Rundfunk und damit zugleich unter den dort vorherrschenden technischen Produktionsbedingungen und dem spezifischen Rezeptionsmodus, den dieses Medium erfordert. Beim Hörspiel handelt es sich um die erste künstlerische Ausdrucksform, die ein originäres Produkt des Rundfunks ist.

Das von Pierre-Marie Héron und Annie Pibarot veranstaltete Kolloquium zu den „aventures radiophoniques du Nouveau Roman“ stellt einen der ersten Schritte auf dem Weg zur Erforschung des Neuen Französischen Hörspiels dar und kommt damit einem dringenden Forschungsdesiderat – sowohl in Frankreich als auch in Deutschland – nach. Primäres Ziel war es dabei, ein internationales Panorama – mit den Schwerpunkten Deutschland, England und Frankreich – zu zeichnen und der école du regard des Nouveau Roman (Barthes) eine ebenso berechtigte école de l’oreille an die Seite zu stellen, um die künstlerischen Potenziale dieser Strömung überhaupt erst angemessen würdigen zu können.

Eingeleitet wurde das Kolloquium von einem Beitrag von Carrie Landfried, der die Zusammenarbeit der Autoren des Nouveau Roman mit der britischen Rundfunkanstalt BBC in den Blick genommen hat, und zwar sowohl unter Berücksichtigung der Produktions- als auch der Rezeptionsseite. Im Fokus standen hier u.a. die personellen Verbindungen von Robert Pinget, Marguerite Duras und Nathalie Sarraute zu Vertretern des BBC. Denn gerade die persönlichen Kontakte seien oftmals ausschlaggebend für die Ausstrahlung eines entsprechenden Hörspiels gewesen. Nicht selten sei die Empfehlung durch einen namhaften Autor ebenso entscheidend wie die Adaptationsfähigkeit eines Hörspielmanuskripts für das Radio gewesen.

Der zweite Vortrag hat das soziokulturelle Klima nachgezeichnet, aus dem die zahlreichen Produktionen Neuer Hörspiele für den SWR (damals SDR) hervorgegangen sind. Françoise Joly und Beatrice Nickel legten die Schwerpunkte ihrer Darstellung dabei auf die in den 1960er Jahren insgesamt literarischen Experimenten zugeneigte Stimmung in Stuttgart (Stuttgarter Schule/Gruppe) und die technischen sowie institutionellen Voraussetzungen für die Produktion und Ausstrahlung solcher Neuer Hörspiele (Zuse Z22, SDR/SWR). Außerdem nahmen sie die enge Verbindung in den Blick, die vor allem zwischen Mitgliedern der Stuttgarter Schule (Max Bense, Reinhard Döhl, Klaus Burkhardt, Hansjörg Mayer etc.) und zeitgenössischen französischen Autoren bestand.

Jochen Mecke hat es in seinem Vortrag zu den „techniques radiophoniques du Nouveau Roman“ unternommen, den Transfer der Methoden und Verfahren des Nouveau Roman auf die Gattung des Neuen Hörspiels aufzuzeigen, und zwar am Beispiel von Jean Thibaudeaus Reportage d’un match international de football (1961). Mecke zeichnete eine Traditionslinie vom Neuen Hörspiel („théâtre pour les aveugles“) zur dramatischen Aufführung nach und beharrte dabei auf der wichtigen Rolle des Nouveau Roman, dem er eine vermittelnde Funktion zuschrieb.

Mireille Calle-Gruber hat einen Überblick über Claude Olliers Hörspiele, die alle einem traumähnlichen Zustand gleichen, gegeben. Neben einem allgemeinen Überblick über sein Hörspielwerk hat Calle-Gruber am Beispiel zweier unveröffentlichter Hörspiele (L’attentat en direct, Régression) Olliers neues Hörspielkonzept entwickelt. Besonders wichtig war ihr dabei der Zusammenhang von Technik und Ästhetik. Wir haben es hier mit einer matière sonore zu tun, in der auch die Stille ihren festen Platz hat. Ollier hat seine Typoskripte mit zahlreichen genauen Hinweisen für die Rezitation versehen. Nicht zuletzt darin sah Calle-Gruber die intermediale typologische Nähe seiner Hörspiele zur Musik begründet. Die schriftlichen Vorlagen ähneln in diesem Sinne Partituren.

Aline Marchand hat in ihrem Vortrag Robert Pingets Weg zum Hörspiel nachgezeichnet, der vor allem von einem deutlichen Willen zur Experimentierfreudigkeit gekennzeichnet sei. Auch sie hat, wie zuvor Mecke, die Nähe des Neuen Hörpsiels zum Theaterstück betont. So sei eines von Pingets Stücken in Deutschland als Hörspiel und in Frankreich als Theaterstück aufgeführt worden. Dementsprechend stand ihrer Darstellung nach am Ende von Pingets Experimenten mit dem Medium Rundfunk eine „Nouvelle Audiodramaturgie“, in deren Zentrum die Stimme als wesentliches Identitätsprinzip fungiere.

Auch Pierre-Marie Hérons Vortrag war Pinget gewidmet, allerdings legte er seinen Schwerpunkt auf die Texte, in denen die Figur Mortin erscheint. In diesem Kontext problematisierte er zunächst die Gattungszugehörigkeit der entsprechenden Texte, z.B. von Autour de Mortin. Diese Werk identifizierte er nicht etwa als eine écriture radio, sondern als ein livre à lire, was nach Héron einen außerordentlichen Unterschied bedinge. Bemerkenswert ist, dass dieses Werk auf der Basis von Hörspielen entstanden ist, die der SDR/SWR seit 1962 ausgestrahlt hat und die mit Interview I, II etc. betitelt sind. Anzumerken hatte Héron noch, dass der Name des Protagonisten, nämlich Mortin in stillschweigender Zusammenarbeit mit Pingets Freund Alain Robbe-Grillet erfunden worden sei.

Marion Costes Vortrag war einer weiteren Dimension der Intermedialität gewidmet, nämlich einer Besonderheit von Michel Butors pièces radiophoniques: Diese wurden sowohl als gedruckte Texte als auch als Hörspiele veröffentlicht. Insofern herrscht hier eine enge intermediale Verknüpfung zwischen Oralität und Visualität vor. Dies gilt allerdings auch schon für die gedruckten Texte, denn auch hier kommt der akustischen Dimension eine bedeutende Rolle zu. Am ehesten vergleichen ließe sich Butors Vorgehen möglicherweise mit der optophonetischen Poesie eines Raoul Hausmann.

Der nächste Vortrag von Sarah-Anaïs Crevier-Goulet war einer Autorin von Hörspielen gewidmet, die nicht zum eigentlichen Kern der Nouveaux Romanciers zählt, nämlich Monique Wittig. Am Beispiel von Jules (1967) und Récréation (1967) konnte sie aufzeigen, welch wichtige Rolle dem weiblichen Körper in Wittigs pièces radiophoniques zukommt. Es handele sich gewissermaßen um eine poétique du corps féminin. Anders als in den Nouveaux Romans komme der Primat hier nun nicht dem Blick, sondern dem Tastsinn zu. Nach der Darstellung Crevier-Goulets präsentiere Wittig ihren Zuhörern den weiblichen Körper in seiner Materialität und Klangdimension, und dies oftmals auf hochgradig homoerotische Weise.

Suk Hee Joo hat es in ihrem Vortrag unternommen, anhand eines Vergleiches der gedruckten Fassung von Marguerite Duras’ L’Après-midi de Monsieur Andesmas und dem gleichnamigen Hörspiel die Eigenheiten der Bearbeitung für die Rundfunkausstrahlung herauszuarbeiten, die im Wesentlichen selbstverständlich auf den Aspekt der „performance sonore“ (siehe Vortragstitel) hinausläuft.

Auch Annie Pibarots Vortrag war den Hörspielen von Marguerite Duras gewidmet. Sie hat Suk Hee Joos Ausführungen insofern äußerst sinnvoll ergänzt, als sie ein Panorama von Adaptionen für unterschiedliche Medien und Formate von Werken aus der Feder von Marguerite Duras gezeichnet hat. Sie hat aufgezeigt, dass der mediale Transfer hier ganz unterschiedlich gestaltet sein kann: vom Roman zum Hörspiel und danach zum Theaterstück (z.B. Un barrage contre le Pacifique) oder von der Erzählung zum Theaterstück und Film und erst danach zum Hörspiel (z.B. L’Après-midi de Monsieur Andesmas) etc.

Joëlle Chambons Vortrag war den Hörspielen Nathalie Sarrautes gewidmet. Diese Autorin des Nouveau Roman hat nur drei Stücke ausschließlich für das Radio geschrieben. Die Zurückhaltung und später auch die Abwendung Sarrautes vom Medium Radio hat Chambon mit den speziellen Schwierigkeiten einer Adaption der charakteristischen Schreibweisen Sarrautes für den Rundfunk erklärt.

Das zentrale Thema des von Marie-Claude Hubert in ihrer Abwesenheit vorgetragenen Beitrags war die Frage, welche Rolle die Stimme in Samuel Becketts Hörspielen zukommt. Einander gegenübergestellt wurden hier zwei ganz unterschiedliche Konzeptionen: Während die Stimme in Becketts Theaterstücken im Raum präsent sei, sei sie in seinen Hörspielen dieser Möglichkeit beraubt und könne sich ausschließlich in der Zeit entfalten.

Charlotte Richard hat sich in ihren Vortrag einem konkreten Hörspiel von Samuel Beckett zugewandt, nämlich Pochade radiophonique. Dieses Hörspiel zeuge von einer generellen Tendenz des Autors, und zwar der Skepsis gegenüber der verbalen Sprache und der Abwendung von ihr. Für das Hörspiel habe dies zur Folge, dass Beckett sich hier vornehmlich einer non-verbalen Sprache, der Sprache des menschlichen Körpers (Schreie, Schläge u.ä.), bediene.

Das von Pierre-Marie Héron und Annie Pibarot veranstaltete internationale Kolloquium zu den „aventures radiophoniques du Nouveau Roman“ war ein wesentlicher Schritt in Richtung einer systematischen Erfassung der Geschichte des Neuen Französischen Hörspiels. Eine weitere Tagung, die vor allem die Hörspielproduktionen des SDR/SWR in den Blick nehmen wird und an der Universität Stuttgart stattfinden soll, ist bereits in Planung.





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