Dialog als literarische Strategie

Zum Sammelband Inszenierte Gespräche

Maximilian Gröne

Matthias Hausmann und Marita Liebermann, Hrsg., Inszenierte Gespräche: zum Dialog als Gattung und Argumentationsmodus in der Romania vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 173 (Berlin: Weidler, 2014), 273 S.

Im Rahmen des 2011 unter dem Motto „Romanistik im Dialog“ abgehaltenen Romanistentages hatten Hausmann und Liebermann es sich zur Aufgabe gemacht, der Funktionalisierung literarischer Dialoge nachzugehen. Die daraus entstandene Publikation vereint Beiträge zu unterschiedlichen literaturgeschichtlichen Epochen (vom 14. bis zum 18. Jahrhundert) und zu unterschiedlichen Nationalliteraturen (Italien, Frankreich, Spanien). Dabei steht nicht die Gattung Dialog selbst im Vordergrund, sondern der weiter gefasste Ansatz, Dialoge im Sinne „inszenierter Gespräche“ zu erfassen, die als in die Fiktion eingebetteter Argumentationsaustausch „der Erörterung von Sachfragen überindividueller Reichweite“ (8) dienen. Das Dialogische wird somit konzeptuell bewusst thematisch auf „theoretische Diskurse“ (8) eingeengt, um die landläufige Verwendung von Rede als reinem Handlungselement auszuklammern. Das Anliegen einer Vermittlung von Inhalten rückt die Dialoge in die Nähe anderer expositorisch orientierter literarischer Gattungen (Traktat, Essay, Brief), wobei die Herausgeber der dramatischen ‚Inszeniertheit‘ einen besonderen Stellenwert beimessen, bei der Figuren in fiktiven Gesprächssituationen kommunizieren um Standpunkte auszutauschen, zu belehren oder einen maieutisch geleiteten Erkenntnisprozess zu durchlaufen.

Die Reihenfolge der Beiträge ist chronologisch motiviert. Mit Caterina von Sienas Dialogo della divina provvidenza setzt sich Cornelia Wild auseinander. Erst ab der Renaissance dezidiert als ‚Dialog‘ bezeichnet, findet hier ein partielles ‚Sprechen im Namen des Anderen‘ statt: Im Zwiegespräch Caterinas mit der aus dem Seelengrund aufsteigenden göttlichen Stimme wird ein Selbstgespräch in eine dialogische Struktur aufgelöst: als ‚persona‘ wird sie die Stimme des Anderen artikulieren.

Indem zusätzlich Kommentare einer Erzählerstimme diesen Dialog unterbrechen und perspektivieren, wird Caterina selbst als Figur von einer außenstehenden Position betrachtet und Teil einer ‚Vielstimmigkeit‘, die über das Seelengespräch hinaus auf die narrative Ebene übergreift.

Die Dialektik des Seelengesprächs wird im Weiteren von Barbara Kuhn anhand der Capricci del bottaio von Giambattista Gelli betrachtet. Sie erläutert, wie die starr hierarchisierte Struktur der mittelalterlichen Körper-Seele-Dialoge und soliloquia zu einer bewusst gesetzten Dialogizität zwischen Körper und Seele aufgebrochen wird, in der keiner der beiden Persönlichkeitsbestandteile mehr alleinig dominiert, sondern beide wechselseitig aufeinander angewiesen sind.

Dialogische Strukturen sind es auch, die Jenny Haase den Gedichten des Castillo interior der Teresa von Ávila entnimmt. An einzelnen Beispielen wird dabei eine mystische Selbstvergewisserung in der Zwiesprache mit dem imaginierten göttlichen Gegenüber nachvollzogen, wofür die dialogischen Elemente in der Regel eher dezent einen Rahmen eröffnen.

Die historischen Kontexte literarischer Dialoge untersucht Katja Gvozdeva am Beispiel des Dialogo de’ giuochi von Girolamo Bargagli. So kann sie nachweisen, dass in der Akademie der Intronati zu Siena zwei unterschiedliche Zirkel als Bühne für die Gesprächsspiele fungierten, der eine exklusiv männlich zusammengesetzt, der andere mit weiblicher Beteiligung.

Unter einem intermedialen Vorzeichen betrachtet Henning Hufnagel die Integration von Emblem-Beschreibungen in den Dialogen De gli eroici furori von Giordano Bruno und Il conte overo de l’imprese von Torquato Tasso. Gerade weil in ihnen die diskutierten Emblemata nur in Form der Ekphrasis – also ohne jegliche bildliche Beifügung – vermittelt werden, können bei den beiden Autoren gänzlich unterschiedliche Textstrategien ermittelt werden: strebt Tasso nach der diskursiven Kontrolle über die eingebettete Bildlichkeit, so verweist Bruno vermittels seiner Hieroglyphen-gleichen Embleme auf ein sprachlich nicht mehr ausdrückbares Wissen jenseits des Textes.

Eine bewusste Verschleierungstaktik betreibt Galileo Galileis Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, wie Marita Liebermann in ihrem Beitrag nachweist. Unter Rückgriff auf eine gezielte Metaphorik des Theaters inszeniert Galilei Doppel- und Mehrsinnigkeiten, die sich dem Redeverbot der Inquisition entgegenstellen. Die dramatische Inszenierung konkurrierender Stimmen dient dabei nicht nur der Verhüllung der eigenen kopernikanischen Überzeugung, sie kann mit Liebermann zugleich als Ausdruck eines neuen Wissenschaftsideals gedeutet werden, das auf einer kritischen Dialogizität im Dienste der Wahrheitsfindung gründet.

Mit unmittelbar dramatischen Dialogen befasst sich Dorothea Kraus im Rahmen der comedia de santos. Hier wird die gegenreformatorische Instrumentalisierung der Wechselrede an der Rollenverteilung zwischen dem Teufel und dem späteren Heiligen greifbar. Am Beispiel von Calderóns El mágico prodigioso kann neben der einseitigen Argumentationsstrategie des Versuchers auch ein ‚echter‘, da offener Dialog betrachtet werden, in dem der angehende Märtyrer Cipriano aus dem Gespräch mit einer Leidensgenossin heraus den Glauben als Form der Freiheit erfährt.

Das kritische Potential der Aufklärung entfaltet sich in Fontenelles Nouveaux Dialogues des Morts, die Christina Rohwetter in den Blick nimmt. Während die Toten jeglicher Entwicklung enthoben sind und folglich auf ewig unveränderliche Standpunkte vertreten, kann der Leser als „lector in orco“ zu einer aktiv-reflektierenden Rolle angeregt werden. Bei den Gesprächen selbst wiederum tritt ein systematisches renversement als Strukturprinzip in Erscheinung, das alle Wertmaßstäbe einer kritischen Revision unterzieht, an der die Leserschaft sodann ihre Urteilskraft schulen kann.

Matthias Hausmann widmet seinen Beitrag den Visiones y visitas von Diego de Torres Villarroel. Dieser tritt in der Fiktion mit seinem Vorbild Francisco Quevedo in einen imaginierten Dialog und betrachtet bei einem Spaziergang das Madrid der 1720er Jahre. Nicht aufklärerische Intentionen stehen indes im Vordergrund, sondern die Selbstrechtfertigung Torres’, der sich in Quevedo sein großes Vorbild an die Seite stellt. In der Übereinstimmung mit dieser Autorität sichert er sein eigenes Künstlertum ab, das er gleichzeitig jedoch durch bewusst autonome Beschreibungstechniken dem Idol gegenüber emanzipiert – eines der eindrücklichsten Beispiele jenes self-fashioning, das an diversen Stellen von den BeiträgerInnen des Sammelbands aufgegriffen wird.

Barbara Ventarola geht zu Beginn ihrer Ausführungen von einer Opposition zwischen Aufklärungsoptimismus und Skepsis aus, die sie sodann vermittels einer Analyse unterschiedlicher Schriften Voltaires zu relativieren sucht. Anhand der Lettres philosophiques, von Micromégas und des Dictionnaire philosophique kann sie über die Schaffensphasen Voltaires hinweg dialogische Strukturen nachweisen, die den Leser zu kritischer Reflektion animieren, indem sie Dogmatisierungen in Frage stellen und auf eine Relativierung der Werte abzielen. Im Ergebnis erzeugt Voltaire mit seinen Textstrategien eine kritische Offenheit beim Leser, die der Kernintention der Aufklärungsepoche entspricht.

Den Band beschließt ein Beitrag Konstanze Barons zu den Petits dialogues philosophiques von Nicolas Chamfort. Die Verankerung dieser pointierten Miniatur-Gespräche in der klassischen Moralistik eines La Rochefoucauld oder eines La Bruyère leitet die Vf. aus deren die Dialogizität vorbereitenden Antithetik ab. Letztere entfaltet sich bei Chamfort in der Selbstentlarvung oder Selbstreflexion der Sprechenden, wobei die über den dialogischen Charakter evozierte Mehrstimmigkeit die höfische Gesellschaft selbst in Erscheinung treten lässt und es nicht mehr eines distanziert-moralisierenden Beobachterstandpunkts wie etwa in der Maxime bedarf.

Über die durchaus unterschiedlich ausgerichteten Beiträge hinweg bietet der Sammelband ein repräsentatives Spektrum dialogischer Gattungen und Erzähltechniken. Grundsätzlich können dabei weniger bekannte Texte ins Bewusstsein gebracht und kann andererseits Bekanntes neu perspektiviert werden. Darüber hinaus aber gelingt es in der Gesamtschau, das Prinzip des Dialogischen näher zu ergründen und über die Epochen und Literaturen hinweg Konstanten auszuweisen. Die Tendenz des Dialogs zur kritischen Hinterfragung, seine dialektische Prozessualität oder gar sein Verunsicherungspotential stehen für eine zuvor in Teilen nur unzureichend von der Forschung berücksichtigte literarische Strategie, die nicht allein der oberflächlichen Verlebendigung dient, sondern der geschickt inszenierten Vermittlung von Wissensständen. Damit wird die dialogisierende Literatur zu einem wichtigen Bindeglied zwischen darzustellendem Substrat und fiktionaler Repräsentation; und sie führt zurück zu der ungebrochen aktuellen Frage, was Literatur bis heute lesenswert macht.





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