Der Blick von Portugal und Brasilien auf Europa: Europa-Diskurse im 20. Jahrhundert

Zum Sammelband Europa im Spiegel von Migration und Exil = Europa no contexto de migração e exílio

Verena Dolle

Lydia Schmuck und Marina Corrêa, Hrsg., Europa im Spiegel von Migration und Exil: Projektionen – Imaginationen – Hybride Identitäten = Europa no contexto de migração e exílio: Projecções – Imaginações – Identidades híbridas, Romanistik 18 (Berlin: Frank & Timme, 2015), 246 S.

Der 246-seitige Band versammelt als Ergebnis der gleichnamigen Sektion des 10. Lusitanistentages, Hamburg 2013 Europa im Spiegel von Migration und Exil zehn Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen (Literatur- und Kulturwissenschaft, Geschichte, Politologie, Philosophie, davon drei auf Deutsch, sieben auf Portugiesisch), ergänzt durch eine kurze Einleitung und ein AutorInnenverzeichnis.

Der Band richtet, so die Herausgeberinnen einleitend, „den Fokus auf den portugiesischen und brasilianischen Europa-Diskurs“ (7) im Kontext von Migration und Exil. Damit evoziert er durch seinen Titel ein Thema, das in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus nicht nur der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt ist. Der Titel des Bandes klingt allgemeiner und vielversprechender, als er dann ist. Letztendlich liegt der Fokus auf solchen Europa-Bildern, die von Europäern produziert wurden, die sich als Folge von Flucht und Vertreibung durch die Salazar-Diktatur, Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg im Exil befunden haben, und zwischen den 1920er und 1970er Jahren entstanden. Genuin brasilianische Entwürfe zu Europa (die also nicht von europäischen Exilanten stammen) werden höchstens gelegentlich als Vergleich herangezogen, bilden aber nicht den Schwerpunkt der Untersuchungen, so dass der Anspruch, auch brasilianische Entwürfe zu Europa zu untersuchen, nicht eingelöst wird. Allein die Beiträge von Agnese Soffritti1, Cláudia Fernandes2, Luzia Costa Becker3 und Orlando Grossegesse4 gehen zeitlich bzw. thematisch über diesen gerade skizzierten Rahmen hinaus: Soffritti mit einem Beitrag über den Dichter António Nobre, dessen Werk aus den 1890er Jahren sie als symptomatisch für eine Krise des portugiesischen Selbstverständnisses im Verhältnis zu (Zentral-)Europa liest; Fernandes mit einem Artikel zur Positionierung gegenüber Migration innerhalb Europas im offiziellen portugiesischen Diskurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; Costa Becker mit einem Überblick über das portugiesische Selbstverständnis seiner Rolle in der Comunidade dos Países de Língua Portuguesa (CPLP) und der Frage nach dem Verhältnis zum Anderen in seiner historischen Dimension. Der Beitrag von Grossegesse widmet sich dem Werk des portugiesischen Künstlers Daniel Blaufuks aus der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, das sich mit generational vererbter Erinnerung an den Holocaust, verlorener mitteleuropäischer Heimat und Neuansiedlung in Portugal befasst und damit zwischen ursprünglicher Erinnerung der Exilanten und der Gegenwart situiert und mit dem Begriff der postmemory gefasst werden kann.

Die sogenannten „Migrationsströme“, die mehrfach evoziert werden (vgl. 7, 8, 155 passim) und auf gegenwärtige Entwicklungen zu verweisen scheinen (und deren diskursive Konstruktion auch einer Reflexion bedürfte), werden im Band letztendlich historisch verstanden als Fluchtbewegungen aus Anlass des Zweiten Weltkriegs und der Salazar-Diktatur. Nur in den Beiträgen von Fernandes und Costa Becker wird die Aktualität geänderter Migrationsbewegungen angedeutet und die Frage nach der Rolle und dem offiziellen Selbstverständnis Portugals in diesem Prozess neu gestellt.

Problematisch sind allerdings Aussagen in der Einleitung wie „Migration und Exil verursachen eine strikte Zäsur zwischen Vergangenheit und Zukunft“ (9) in ihrer Allgemeinheit, spricht doch die heutige Migrationssoziologie auch von Pendelmigration und dem Schaffen von transnationalen Räumen oder mediascapes5, die nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Trennung in ein Vorher und Nachher wenigstens z.T. weniger prägnant und einschneidend machen (darauf verweist auch Luzia Costa Becker in Anlehnung an Stephen Castles in ihrem fundierten Beitrag, vgl. Fn. 3).

Auch die in der Einleitung getroffene Aussage, dass politisch verfolgte Exilanten eher Pläne für die Zukunft machten, da sie die „Hoffnung auf Rückkehr meist nicht [aufgäben]“, ethnisch-kulturell Verfolgte dagegen meist schon und deren Entwürfe daher eher rückwärtsgewandt seien („Projektionen in Richtung Vergangenheit“, 9), mag vielleicht für einige der hier behandelten, als case studies deklarierten Beiträge zutreffen, ist in dieser Allgemeinheit aus meiner Sicht aber nicht zu halten. Warum in der Einleitung wiederholt von „Widerspiegelung“ und „unwillkürlichem Identitätsreflex“ gesprochen wird (8), handelt es sich doch um sprachliche bzw. künstliche Artefakte, die in der Folge behandelt werden, ist nicht nachvollziehbar. Dies wird im Beitrag von Schmuck auch relativiert und ausdifferenziert und der Spiegel als Metapher für die Gegenüberstellung zweier Welten gedeutet (vgl. 23). Lydia Schmuck macht in ihrem einleitenden Beitrag6 zudem drei für den Band relevante Verbindungslinien deutlich: zuerst die theoretischen Konzeptionen von Identität, Gedächtnis und Raum als gemeinsame Basis für die Schnittstelle zwischen European Studies und Migrationsforschung; dabei verweist sie auch auf konfliktive und überlappende, nicht mehr bipolare Raum- und Identitätskonstruktionen sowie Erinnerungsverstrickungen und -knotenpunkte (vgl. 18). Dann stellt sie Metaphern und narrative Figurationen vor, die in beiden Bereichen, Europastudien und Migrationsforschung, präsent seien (wie etwa die Seereise und das Schiff, vgl. 18–9). Schließlich geht sie auf die Verbindung zwischen Studien zu Diaspora, Nomadismus und Kosmopolitismus ein und zieht Nietzsche mit seinen Überlegungen zu „Heimatlosigkeit und Nomadismus“ als Gegenentwurf zu einem traditionellen Nationalismus heran. Physischer und geistiger Nomadismus werden auch bei Vilém Flusser aufgewertet und die „Figur des Migranten als „physische[m] und geistige[m] Nomaden mit der des Intellektuellen [verschmolzen]“ (31).

Der Beitrag von Maria de Lurdes das Neves Godinho7 zum literarischen, 1989 posthum veröffentlichten Werk der Schweizer Fotojournalistin und Schriftstellerin A. Schwarzenbach (1908–42) steht aparte, hat er mit dem in der Einleitung deklarierten Fokus des Bandes, sich portugiesischen und brasilianischen Europa-Entwürfen zu widmen, doch nichts zu tun und kann allein als literarische Verarbeitung von Exil-Situation verstanden werden.

Im Folgenden seien diejenigen drei thematischen Linien nachgezeichnet, die sich in diesem sehr heterogenen Band finden lassen:

  1. Rolle Portugals in Europa und der lusophonen Welt

  2. Publizistische Aktivitäten im Exil

  3. Verlorene Heimat/Heimatlosigkeit

1. Rolle Portugals in Europa und der lusophonen Welt

Agnese Soffritti befasst sich mit dem Gedichtband (1892) von António Nobre, seinem einzigen zu Lebzeiten publizierten Buch, geschrieben im selbstgewählten Exil in Paris. Sie deutet dieses Werk, in dem über das Verhältnis zwischen dem ländlichen, rückständigen (Nord-)Portugal und Frankreich bzw. Paris als Zentrum von Kultur und Zivilisation nachgedacht wird, als portugiesisches Schlüsselwerk des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Denn sie sieht das Individuum als Metapher für das Land, das Kollektiv; das Randständige Portugals in der Selbstsicht finde sich paradigmatisch – und mit Anschlussmöglichkeiten an die Gegenwart – in diesem Gedichtband: aus Exilsicht, von Paris aus, wird eine Heimat nostalgisch-träumerisch und unerreichbar evoziert. Sie verweist zudem darauf, dass Portugal, das seit dem Zeitalter der Entdeckungen auf ein neues Zentrum jenseits der Meere, nämlich die atlantischen und indischen Besitzungen, ausgerichtet und somit von Europa abgewandt war, im Zuge des gescheiterten Wettbewerbs um Afrika Ende des 19. Jahrhunderts in eine Identitätskrise gerate. Nobres Werk mache stellvertretend für andere Dichter Ende des 19. Jahrhunderts das Bewusstwerden über eine verzögerte bzw. nicht stattgefundene Modernisierung (vgl. 140–1) sowie die Erkenntnis deutlich, dass Portugal – obwohl geographisch zu Europa – eher zu den Kolonisierten gehöre (vgl. 143). Soffritti verweist auf die Relationalität und Relativität von räumlichen Zuordnungen wie Süden (Portugal) vs. Norden (modernisiertes, fortschrittliches Europa) und zieht Vergleiche zur Gegenwart, in der ebenfalls Differenzen zwischen Norden und Süden innerhalb Europas konstruiert werden. Rolle und Bedeutung der Literatur sei es, (Zwischen-)Räume neu zu erfinden und mit Sinn zu versehen (vgl. 148–9).

Die Überlegungen von Cláudia Fernandes lassen sich an die von Soffritti anschließen, denn wieder steht das Verhältnis zwischen Portugal und Europa im Fokus; diesmal anhand des offiziellen Diskurses und der staatlichen Emigrationspolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ausgehend von dem Befund, dass sich ab den 1950er Jahren portugiesische Emigration nicht mehr Richtung Atlantik, sondern nach Spanien und Mitteleuropa bewegt. Auch Fernandes sieht portugiesische kollektive Identität durch permanente (transatlantische) Begegnungen mit Völkern und Kulturen durch die Jahrhunderte geprägt (vgl. 154), wodurch das Volk eine hybride, fragmentierte Identität erhalten habe.

Sie fragt, wie sich Begegnungen von Kulturen durch Migration auf die jeweiligen Identitäten auswirkten – dies ist eine durchaus aktuelle Frage, die aber nicht wirklich beantwortet wird (auch kein Textkorpus o.ä. herangezogen wird). Statt dessen widmet Fernandes sich der offiziellen portugiesischen Position zur Auswanderung seit 1947 und konstatiert bis zum Ende der Diktatur eine sehr negative Haltung. So werde etwa 1972 von offizieller Seite Migration als „Krebsgeschwür“ (158) und daher offensichtlich als Bedrohung angesehen und über Versuche angedacht, „die Entnationalisierung der Emigranten“ (158) zu verhindern. Nach der Rückkehr zur Demokratie 1974 ist hingegen eine Aufwertung der Migranten zu verzeichnen: ab 1976 wird das Recht auf Auswanderung gewährt, ab 1979/80 eine staatliche portugiesische Sprachpolitik für Portugiesen im Ausland etabliert und ein Wandel des Selbstverständnisses vollzogen. Damit werde die jahrhundertealte Universalität des Portugiesischen und der portugiesischen Nation wieder aufgegriffen und auf die nun sogen. „Comunidades portuguesas“ im Ausland übertragen. Die Vf.in sieht hier die Idee einer neuen, nun friedlichen Expansion am Werk, erkenntlich in entsprechender Umbenennung der ursprünglich nur das Wort Emigration im Namen tragenden Behörde 1980: statt Bewegung aufgrund negativ konnotierter Emigration werde nun eine Einheit akzentuiert, Bewegung ausgeblendet und etwas territorial Stabileres, nämlich „comunidades“ evoziert. Damit sei eine Tendenz zu transnationalen Räumen zu erkennen, die das globale Gefühl des Imperiums der alten Herrschaftsbereiche wieder hervorrufe.

Mit dem Beitritt Portugals zur EU 1986 erfolgt eine markante Hinwendung zu Europa, was für Fernandes ein diskursives „upgrade“ vom Emigranten zum Vollmitglied als europäischem Bürger bedeute und der „raiz portuguesa“ – der Ausrichtung auf den Atlantik und die außereuropäische Welt – eine neue Haut bzw. europäische „Maske“ verleihe (160–1). Etwas problematisch ist jedoch, dass sie nicht explizit auf eine Theorie zu Identität und Hybridität rekurriert, sondern diese nur implizit verwendet, und auch das Verhältnis zwischen hybrider Identität und Maske – eine etwas schiefe Metapher – nicht weiter vertieft.

Orlando Grossegesse widmet sich dem künstlerischen Werk Sob céus estranhos: uma história de exílio (2007) von Daniel Blaufuks. Dessen Fotobuch und Film über das Exil seiner Großeltern ist Teil eines portugiesischen Diskurses über Europa in Zusammenhang mit Erinnerung an die Verfolgung durch die Nationalsozialisten und den Verlust der Heimat. Blaufuks’ Arbeiten sind Texte und bearbeitete, neu fotografierte Fotografien aus den Alben der Familie. Blaufuks, so Grossegesse (vgl. 50), verweist auf eine memoria, die nicht nur geografisch peripherisch und marginalisiert ist, sondern auch lange Zeit zum Schweigen gebracht wurde. Somit geht es auch um eine kritische Sicht auf die Rolle Portugals 1940 und um Repräsentationen und Kommunikation von Erinnerung an Heimat und Verortung (und die der Großeltern mit ihrer unstillbaren Sehnsucht nach Heimat und Muttersprache bis zum Tod; vgl. 56).

Der am Schluss des Bandes positionierte Beitrag der Politologin Luzia Costa Becker richtet den Blick weg vom portugiesischen Verhältnis zu Europa hin zur Selbstkonstruktion Portugals als Zentrum einer lusophonen Gemeinschaft in postkolonialen und globalisierten Zeiten und wirft in einem historischen Abriss zur Konstruktion von Alterität einen kritischen Blick auf die weiter beibehaltenen Festschreibungsstrategien des Anderen und Hierarchisierungsansprüche in der CPLP im Umgang der Hauptakteure Portugal und Brasilien mit den Staaten des afrikanischen Kontinents, die immer noch auf alten Dichotomien basieren (vgl. 205).

2. Publizistische Aktivitäten im Exil

Die journalistischen Tätigkeiten portugiesischer Intellektueller im brasilianischen Exil untersucht Heloisa Paulo8. In ihrem Beitrag geht es um Entwürfe von Europa für die Nachkriegszeit, verfasst durch die seit 1927 im Exil befindlichen Salazar-Gegner Jaime de Morais und Lúcio Pinheiro dos Santos. Die Verfasserin widmet sich deren Beiträgen in zwei führenden demokratisch ausgerichteten, diktaturkritischen Tageszeitungen in Brasilien, dem Diario Carioca und dem Correio da Manhã, aus den Jahren 1941 bis 1949. Mit dem Vorrücken der Alliierten auf europäischem Boden ab 1943 widmen sich beide den Entwürfen eines Nachkriegseuropas („Problemas de uma Europa futura“, 195). Morais sieht den Kontinent als demokratische Union, wenn Portugal und Spanien ihre Diktaturen überwunden haben, und stellt sich auch Afrika als Union vor (vgl. 196); Pinheiro dos Santos hinterfragt kritisch die von Salazar proklamierte „spirituelle europäische Einheit“ und setzt ihr einen Realitätssinn entgegen, der sich mit den aktuellen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Kräften auseinandersetzen müsse (vgl. 197–8).

Jan Kölzer9 untersucht aus politologischer Sicht die journalistischen Aktivitäten kommunistischer Salazar-Gegner im britischen Exil – ein bisher wenig erforschter Gegenstand – anhand der dort auf Englisch zwischen 1961 und 1974 erschienenen Zeitschrift Portuguese and Colonial Bulletin. Er zeigt auf, wie hier ein alternatives Portugalbild, weniger ein portugiesisches Europa-Bild entworfen und ein kritischer Gegendiskurs zum offiziellen Regime eröffnet wird, der aufgrund der traditionell guten Beziehungen zwischen Großbritannien und Portugal in den 1960er Jahren schwierig durchzusetzen war und der somit sehr wohl, anders als in der Einleitung angegeben, politische Ambitionen verfolgt.

3. Verlorene Heimat/Heimatlosigkeit

Giorgia Sogos10 widmet sich Stefan Zweigs Überlegungen zu Europa aus dem brasilianischen Exil heraus. Auffällig ist die Projektionsdynamik, mit der Zweig Hoffnung auf Brasilien als neues Europa setzt und ein sehr positives und exotisches Brasilienbild entwirft (vgl. 123, 125, 127). Eine Idealgesellschaft wird in Brasilien verortet und als friedlich konzipiert, die „Rassenmischung“ (mestiçagem) als positiv, der Zustand des aktuellen Europa als negativ gezeichnet. Zweig sieht Brasilien als Utopie, aber zugleich zieht er immer wieder Parallelen zum vergangenen Europa, das er als perfekte Gesellschaft charakterisiert. Die Vf.in macht deutlich, dass Zweig als vom Vargas-Regime hofierter Schriftsteller eine gewisse politische Naivität an den Tag legt, der in seiner Rolle als unpolitischer Kosmopolit verharrt (vgl. 129–30) und die diktatorische Realität des Estado novo unter Getúlio Vargas nicht erfasst habe.

Clemens van Loyen11 widmet sich ausgewählten Werken eines weiteren europäischen Exilanten in Brasilien: Vilém Flusser, Prager Jude, ging nach Brasilien auf Flucht vor den Nationalsozialisten, dann Anfang der 1970er Jahre zurück nach Europa/Frankreich aufgrund von Diskrepanzen mit der brasilianischen Militärregierung. Nach seiner Rückkehr nach Europa entwickelt Flusser seine stark rezipierte Medientheorie sowie seine Exil-Theorie. In letztgenannter erfolgt eine positive Gewichtung und Umdeutung von Exil (vgl. 107–8): der Heimatlose sei als zukünftige Avantgarde zu sehen und erhalte seine Kreativität durch Nicht-Beschränkung auf nationale Territorien und die Notwendigkeit zum ständigen Lernen und Hinterfragen tradierter Positionen. In seiner História do Diabo (geschrieben in den 1950er Jahren) fragt er nach den Gründen für die Existenz des Diabolischen, das er nicht christlich religiös, sondern als Metapher für eine zerstörerische historische Kraft sieht, wie sie sich etwa in Europa und Vietnam manifestiert. In diesem Werk, das sowohl brasilianische als auch europäische Einflüsse aufweist – von Guimarães Rosa, Benjamin, Goethe, dem europäischen Existentialismus, Heidegger und Sartre –, unternimmt Flusser eine kritische Bestandsaufnahme von Europa und stellt dem einen positiven Entwurf Brasiliens gegenüber: dieses sieht er als mögliche Wiege einer neuen Zivilisation. Van Loyen stellt heraus, dass letztgenannter Terminus im brasilianischen Kontext immer mit dem Begriff des Fortschritts, der als nationale Aufgabe gesehen werde, verbunden werden müsse. Da aber Flusser aufgrund seiner Erfahrung in Europa immer skeptisch gegenüber dem Nationalen, das er als Götzen ansieht (vgl. 99), und der Vereinnahmung durch (Fortschritts-)Ideologien gewesen sei, seien sowohl História do Diabo als auch weitere Texte als Warnung an die Brasilianer zu verstehen, nicht diesem Nationalen anheimzufallen.

In Fenomenologia do brasileiro fasst Flusser seine Vision des Brasilianischen zusammen: eurozentrische Denkvorstellungen passen für die multiplen, in Zeit und Raum verschobenen brasilianischen Realitäten nicht. Daher sei es besser, von Phänomenen auf Konzepte zu schließen. Van Loyen verweist auf Flussers Nähe zu Ideen des brasilianischen Modernismus (vgl. 107) und der Anthropophagie-Bewegung der 1920er Jahre, die das Einverleiben fremder Ideen propagiert hat, hebt aber zugleich hervor, dass Flussers Denken lebenslang Mitteleuropa, seinen „moldes e tradições“ verhaftet geblieben sei (vgl. 89), auch wenn die topographische Verortung verloren gegangen sei. Leider wird diese Behauptung weder belegt noch weiter – über den Verweis auf die Existenz in einem Zwischen-Raum hinaus –, präzisiert.

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Abschließend ist festzuhalten, dass die gut gemeinten Ansätze und der vielversprechende Ausgangspunkt, dass zu Europabildern in der Migrationsforschung bislang wenig geforscht wurde, nur zum Teil umgesetzt werden – die einzelnen Beiträge fügen sich nicht zu einem stimmigen Ganzen zusammen, sondern bleiben durchaus interessante Puzzleteile. Hinzu kommt, dass einleitend Definitionen von Migration und Exil (etwa zum Begriff der „freiwilligen“ oder „erzwungenen“ Migration) und Verweise auf die aktuelle Forschung zur Migrationssoziologie fehlen (vgl. 23). Auch die Bezüge zum „American Dream“, der ja nicht nur territorial auf die USA bezogen, sondern aus europäischer Sicht für ganz Amerika wirkmächtig ist und sich damit gerade bei den Exilanten in Brasilien einspielt, sowie die Frage, inwieweit sich als Konkurrenz dazu gerade für die jüngste Zeit ein „European Dream“ herausbildet, hätten fruchtbare, weiterzuverfolgende Aspekte sein können. Aus formaler Sicht ist anzumerken, dass eine gründlichere Lektorierung und redaktionelle Bearbeitung dem Band gut getan hätten: Stilistische Wendungen und Satzkonstruktionen sind des Öfteren etwas schief geraten, v.a. in der Einleitung (vgl. 8–13; z.B. „Flüchtlinge Portugals“, 8); gelegentliche inhaltliche Unstimmigkeiten zwischen Einleitung und Beiträgen (vgl. 12 zu Kölzer und Paulo) führen zu Irritationen bei der Lektüre; darüber hinaus finden sich einige Fehler in Rechtschreibung (etwa durchgängig „zweiter [sic] Weltkrieg“) und Zeichensetzung (vgl. z.B. 23). Schließlich noch eine Anregung: Wenn der Verlag schon eine herkömmliche Buchpublikation präsentiert, wären benutzerfreundliche Schriftgrößen in Haupt- und Fußnotentext mit Sicht auf die traditionelle Leserschaft wirklich wünschenswert.


  1. Agnese Soffritti, „Viajando no Sud-Express do século xix para o século xxi: ou dos legados da literatura para repensar de forma crítica as configurações geopolíticas“, 135–52.

  2. Cláudia Fernandes, „A máscara europeia do emigrante português: Política e memória “, 153–70.

  3. Luzia Costa Becker, „Globalização – Migração – Lusofonia: Novas dimensões na construção da alteridade“, 203–35.

  4. Orlando Grossegesse, „Uma estética da pós-memória: ‚Sob céus estranhos: uma história de exílio‘ de Daniel Blaufuks“, 37–60.

  5. Vgl. Arjun Appadurai, „Disjuncture and difference in the global cultural economy“, Theory, Culture and Society 7 (1990): 295–310.

  6. Lydia Schmuck, „Migration – Exil – Europa. Eine theoretische Annäherung“, 15–36.

  7. Maria de Lurdes das Neves Godinho, „Da identidade do exilado durante o Nazismo na Europa: o ‘transcender de pátrias’ e o ‘nomadismo’. Espaço e memória híbridos em Annemarie Schwarzenbach“, 61–88.

  8. Heloisa Paulo, „A Europa dos exilados (1944–1947)“, 187–202.

  9. Jan Kölzer, „Portuguese and Colonial Bulletin. Ein Mitteilungsblatt portugiesischer Salazar-Gegner im britischen Exil (1961–1974)“, 171–85.

  10. Giorgia Sogos, „Ein Europäer in Brasilien zwischen Vergangenheit und Zukunft: utopische Projektionen des Exilanten Stefan Zweig“, 115–34.

  11. Clemens van Loyen, „O exílio de Flusser no entre-lugar de história e não-história“, 89–114.





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