Zum Lexikon moderner Mythen, hrsg. von Stephanie Wodianka und Juliane Ebert

Eva Kimminich

Lexikon moderner Mythen, hrsg. von Stephanie Wodianka und Juliane Ebert (Stuttgart: Metzler, 2014).

Ein Lexikon moderner Mythen ist, wie die Herausgeberinnen im Vorwort formulieren, in der Tat eine Herausforderung, denn wie Roland Barthes in seinen Mythen des Alltags herausstellte, kann im Prinzip alles zum Mythos werden. Aber nicht alles wird zum Mythos. Leserinnen und Leser erwarten daher Kriterien für die Auswahl der in ihrem Lexikon präsentierten Mythen, um zu verstehen, warum das eine zum Mythos wurde und das andere nicht und warum bzw. wie ein Mythos das moderne Bewusstsein prägt, denn das ist das dezidierte Anliegen des Buches, das sich darüber hinaus als Nachschlagewerk an eine breitere Leserschaft wendet. Daher würden einige Leserinnen und Leser sicherlich einen wenigstens knappen Einblick in die Problematik der Definitionsvielfalt und die Problematisierung der erwähnten Diffusität des Mythos erwarten sowie eine Abgrenzung zu Begriffen wie ‚Legende‘, ‚Ikone‘, ‚Idol‘, ‚Symbol‘, ‚Metapher‘ und ‚Kult‘, zumal diese Begriffe auch in den Artikeln selbst benutzt werden. Auch eine Erläuterung des hergestellten Bezugs zwischen kollektivem Gedächtnis und Mythos würde den Leserinnen und Lesern den Einstieg erleichtern, da es dafür ja auch bereits den Begriff der Mythomotorik gibt. Diese Erwartungen kann ein dreieinhalbseitiges Vorwort nicht erfüllen. Es skizziert lediglich das Anliegen, eine repräsentative Auswahl moderner Mythen zu begründen, oft ex negativo, denn es wird darauf abgehoben, was das Lexikon nicht sein will: „eine Zusammenstellung deutscher ‚lieux de mémoire‘“ (VI) bzw. eine Beschränkung auf nationale und politische Kollektive. Der Mythos wird in diesem Lexikon, wie explizit hervorgehoben wird, auch nicht als „bürgerliches […] Bewusstsein“ (VII) verstanden wie von Barthes, obwohl Barthes als Grundlagentext benannt wird, sondern als ein „modernes Bewusstsein“ (VII). Durch das Verständnis des Mythos als ein solches, nicht näher erläutertes „modernes Bewusstsein“ soll das Lexikon den Blick auf europäische, transkulturelle und internationale Phänomene erweitern, die auch in „deutschsprachigen kulturellen Kontexten relevant geworden sind“. Mit dieser Begründung wird die Auswahl einerseits ins Unendliche erweitert, andererseits doch wieder auf einen deutschen Rahmen begrenzt. So finden sich Einträge wie „Asterix“, „Barbie“, „Willy Brandt“, „Beschleunigung“, „Michel Foucault“, „Frankenstein“, „Geheimdienste“, „Genie“, „Ozonloch/Klimawandel“, „Napoleon“, „Spanischer Bürgerkrieg“, „Titanic“, „Verdun“. Die Stichworte legen nahe, dass offensichtlich wirklich alles als Mythos betrachtet werden kann. Sie weisen aber auch eine Heterogenität auf, auf die der Leser an keiner Stelle vorbereitet wird. Popstars, Staatsmänner, Erinnerungsorte, wissenschaftliche Erkenntnisse, fiktive Gestalten oder Abstrakta finden ohne weitere Erläuterung Eingang in dieses Lexikon. Wenn Barthes’ Mythologies als grundlegender Ausgangspunkt benannt wird, scheint dies vielleicht gerechtfertigt, hat dieser sich ja ebenfalls sowohl mit dem Beefsteak, dem Gesicht der Greta Garbo oder mit Plastik auseinandergesetzt. Aber wäre es dann nicht auch naheliegend gewesen, zumindest Barthes’ Anliegen, die Dekonstruktion und Entschleierung des wenn auch nicht bürgerlichen, dann eben jenes „modernen Bewusstseins“ fortzusetzen? Das hätte geheißen, die Deutungspotentiale und den Wandel dessen, was als moderne Mythen bezeichnet wird, im Hinblick auf die Beschaffenheit dieses wie auch immer definierten modernen Bewusstseins zu analysieren. Vor diesem Hintergrund hätte sich sicherlich eine begründbare Auswahl treffen lassen können, für die sich auch ein zumindest lockerer, aber in sich schlüssiger Gesamtzusammenhang herstellen ließe.

Liest man die an sich meist informativen und lehrreichen Artikel in dieser Hinsicht, so arbeiten sie mehr oder weniger, einige teilweise auch gar nicht die Deutungspotentiale der als Mythos bezeichneten Phänomene bzw. deren Wandel und noch seltener den Einfluss auf das moderne Bewusstsein heraus. Bei manchen Artikeln wird überhaupt nicht erläutert, warum es sich bei dem behandelten Gegenstand um einen Mythos handeln soll. Aber betrachten wir zunächst einige der gelungenen Artikel, so insbesondere die zu „Asterix“, den „Beatles“, der „Französischen Revolution“ oder zu „Genie“ und „Madonna“.

Warum es sich bei Asterix, einer der bekanntesten und langlebigsten Comicfiguren, um einen Mythos handelt, erfährt der neugierige Leser gleich zu Beginn des Eintrages. Die Gallier repräsentieren im Gegensatz zu den aristokratischen Franken die Leitwerte der französischen Republik, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, weitaus glaubwürdiger und bilden daher im Rahmen der zunehmenden Suche nach dem eigenen Ursprung eine geeignete epistemologische Grundlage der Selbstwahrnehmung. Folglich wurden die Gallier in den patriotisch ausgerichteten Geschichtsbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts als Vorfahren der Franzosen gefeiert. So steht dieser die kulturelle Identität der Franzosen prägende patriotische Ursprungsgedanken nicht nur im Mittelpunkt des ersten Asterix-Bandes. Asterix wird, so argumentiert Fernand Hörner, als Chiffre für den Widerstand des Einzelnen gegenüber einer Großmacht, als Ursprungsmythos zum Nationalhelden. So kann er in verschiedene historische Gewänder schlüpfen, beispielsweise auch in die des Résistance-Helden. Der Artikel berücksichtigt darüber hinaus sowohl die Bezüge zur klassischen Mythologie, aus der sich die Figuren des Comics nähren, als auch zum postmodernen Heldentum und beleuchtet nicht zuletzt auch den ironisierenden Blick auf das Selbstbild der Franzosen.

Überzeugend wird auch beschrieben, wie die Beatles aus der Retrospektive mythisiert wurden. Zum einen aufgrund der von ihnen eingeleiteten musikalischen Innovationen und durch ihre politisierten Texte, durch die die Popmusik die Etikette der Jugendkultur und der reinen Unterhaltungsmusik verlor. Zum anderen zeigt die Analyse ihrer medialen Präsenz, wie sich schon zu ihren Lebzeiten ikonographische Details der Inszenierung herauskristallisierten, die in Verbindung mit bestimmten kulturellen Momenten den Mythos der Beatles gebaren und geeignet waren, ihn über ihren Tod hinaus am Leben zu erhalten.

Am Beispiel der Französischen Revolution wird die Analyse der mythischen Dimension eines historischen Ereignisses vorbildlich durchgeführt. Der Artikel macht deutlich, warum und wie ein Ereignis zum transkulturellen Mythos werden kann, andere aber eben nicht; denn die Französische Revolution hat „nicht nur politische Ideologien begründet, […] sondern auch kollektive Identifikationsfiguren, Rituale und Wertemuster“ (143) hervorgebracht. Der Hans-Jürgen Lüsebrink skizziert und begründet an verschiedenen Beispielen überzeugend, wie diese bereits zu Revolutionszeiten bzw. bis in die Gegenwart hinein zur Mythenbildung beitrugen und welche Metaphern dabei eine Rolle spielen, so beispielsweise die des Schauspiels oder die des Volkes, wobei letztere dadurch ihrerseits zum Mythos wurde.

Beim Eintrag „Genie“ wird der historische Wandel des Begriffs dargelegt und gezeigt, wie der Geniebegriff zwar einerseits „seine Legitimation als ästhetische oder philosophische Kategorie eingebüßt hat“ (170), seine suggestive Kraft aber eine Form der Exzeptionalität hervorgebracht hat, die an eine individuelle wissenschaftliche Erkenntnis oder Erfindung einer Person geknüpft wird, durchaus auch in Verbindung mit finanziellem Gewinn. So wird gezeigt, wie das im 19. Jahrhundert noch an Originalität und Schöpfertum gebundene Kreativitätsdispositiv als Ideal des spätmodernen Kapitalismus erhalten bleibt, allerdings mit völlig anderer Akzentsetzung. So wurde Genialität in der Antike als Gabe der Götter betrachtet, mit Inspiration oder Wahnsinn assoziiert und im Sturm und Drang als aus dem Subjekt hervorgehende, authentische und originale Schöpfung gefeiert. Nietzsche und die Freud’sche Psychoanalyse entmystifizierten sie und vor dem Hintergrund der zunehmenden Individualisierung wurde sie zu einer singulären Begabung, die oft auch mit Exzentrik und gesellschaftlichem Außenseitertum verknüpft war. In der auf Leistung fokussierten kapitalistischen Gesellschaft unterlag die Genialität dann einer Umdeutung zu einer vorbildhaften, aber durch eigenes Streben und Können erwerbbaren Eigenschaft, die mit finanziellem Erfolg korrespondiert. Dabei wird auch die Rolle des besonders im 21. Jahrhundert durch Universalisierung zugespitzten Kreativitätsdispositivs mitbedacht. Durch Reflektion der Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit des Begriffs macht der Artikel abschließend den Unterschied zwischen Mythos und mythischer Dimension klar, nämlich dass das Genie selbst in der Postmoderne zwar kein Mythos mehr ist, aber der oder die als solches Bezeichnete dadurch zu einem modernen Mythos erhoben werden kann.

Besonders gelungen ist auch der Artikel über die Pop-Ikone Madonna. Einleuchtend legt Jan-Oliver Decker dar, warum es sich bei Madonna um eine mythische Figur handelt. Mit der künstlerischen Inszenierung einer facettenreichen Weiblichkeit, die sowohl den Variantenreichtum von Sexualität und Erotik als auch die Aspekte der Mutterschaft umfasst, schafft die Popkünstlerin einen zeichenhaften Projektionsraum, in dem sich individuelle Bedürfnisse, gesellschaftliche Problematiken und mythische Vorstellungswelten ineinander verschränken. Aus dieser medialen Gegenwelt geht sie selbst in immer wieder neuer Gestalt hervor, in dem sie mediale Prätexte durch Nachahmung neu erschafft. Genau dies ist der Kern des Mythos, seine Recycelbarkeit.

An Ozonloch und Klimawandel werden zwar schlüssig die mythischen Qualitäten aufgezeigt, indem vor dem Hintergrund des durch die Raumfahrt ermöglichten Blicks auf die von außen klein und fragil erscheinende „Mutter Erde“ das Ozonloch durch seine konzeptuelle Kontextualisierung mit säkularen Weltuntergangs- bzw. Weltrettungsmythen herausgestellt und dessen politische und ökonomische Instrumentalisierung nachgezeichnet wird. Die Gefahr einer solchen Betrachtungsweise ist aber, dass die durchaus existierenden, also realen vom Menschen verursachten Umweltschäden dadurch in den Dunstkreis des Mythischen und aus dem Blickfeld gerückt werden, denn ein Mythos sind diese Schäden keineswegs.

Weniger gelungen ist auch der Artikel über die seit 1959 die Mädchenzimmer bevölkernde Barbiepuppe. Es werden zwar die verschiedenen Deutungshorizonte aus der Sekundärliteratur in der jeweiligen Fachterminologie aufgeführt, aber diese werden v.a. im Hinblick auf die erstrebte breite Leserschaft nicht ausreichend erläutert. So bleibt man/frau als Leser etwas hilflos mit Sätzen zurück wie: „Sie [die Barbiepuppe] wird als Ideal der De-Essentialisierung und De-Naturalisierung von Geschlecht und Plastizität und Formbarkeit von Körper und Identitäten diskutiert […].“ (40) Auf die zu diskutierende Wirkmacht der Puppe auf das moderne Bewusstsein, beispielweise im Hinblick auf den Umgang von heranwachsenden Mädchen mit ihrem eigenen Körper oder im Hinblick auf die lebensechte Verkörperung der Puppe bzw. des von ihr in Plastik gegossenen Ideals durch die Ukrainerin Valeria~Lukyanova, wird nicht eingegangen.

Dass die Psychoanalyse das Unbewusste mit mythischen Figuren besiedelt und dieselben zur Traumdeutung heranzieht, ist bekannt, ebenso wie die Ausdeutung des Ödipusmythos und die psychoanalytische Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit. Warum aber die Psychoanalyse selbst ein Mythos sein soll, wird nicht erläutert. Die Einträge zu drei bedeutenden deutschen Staatsmännern bleiben ebenfalls eine klare Argumentation schuldig, warum es sich bei diesen Politikern um Mythen handeln soll; politische Legenden sind sie alle drei allemal. Dass Willy Brandt nach der Definition des Schweizer Historikers Jakob Burkhardt eine „historische Größe“ (61) war, dem wird jeder zustimmen, auch dass seine persönliche und Emotionen zulassende Politik hohe Symbolkraft entfaltete. Warum aber markante Gesichtszüge und „sein […] bedächtig-knorriger Habitus“ (61) Merkmale für Mythizität sein sollen, ist schwer nachzuvollziehen. Dass es sich auch bei Helmut Schmidt um einen außergewöhnlichen Staatsmann handelt, dem werden ebenso sicherlich viele sofort zustimmen, aber warum sein Charisma mythisch sein soll, wird gleichfalls nicht erläutert. Dasselbe gilt für das mythische Potential Helmut Kohls; auch bei ihm handelt es sich wie bei vielen, aber eben nicht allen Politkern, um einen Staatsmann, der seine Entscheidungen in historisch außergewöhnlichen Momenten treffen musste, so dass diese folglich von besonderer Tragweite waren. So mag Kohl für manche sicherlich eine Art Held der jüngsten Geschichte sein, aber was ihn zu einer mythischen Figur machen soll, erschließt der Text nicht. Dass auf den Eintrag Foucault gleich Frankenstein folgt, ist zwar dem Alphabet geschuldet, aber auch symptomatisch für die Beliebigkeit der Auswahl der Stichwörter. Dass es sich bei Frankenstein um einen populären, sich an Prometheus inspirierenden Mythos handelt, der es durch vielschichtige Umdeutungen bis in die Gegenwart hinein erlaubt „Ängste, Faszinationen und Obsessionen […] zu inszenieren und zu reflektieren“ (142), dem wird sicherlich jeder beipflichten. Auch dass Michel Foucault unter den intellektuellen Frankreichs den Status eines Popstars erreichte und mit seinem in Deutschland zunächst abgelehnten Oeuvre eine Neuorientierung der Geisteswissenschaften einleitete, sei unbenommen. Das gilt aber auch für andere Wissenschaftler, ebenso die sehr unterschiedliche Rezeption ihrer Werke. Dass manche Rezipienten Foucault eine mythische Weltdeutung unterlegen, macht diesen aber nicht selbst zum Mythos, zumal andere ihn als scharfen Analytiker der abendländischen Episteme sehen.

Insgesamt betrachtet handelt es sich beim Lexikon moderner Mythen um ein teilweise durchaus lehrreiches Nachschlagewerk, das eine Auswahl von bedeutsamen oder interessanten Ereignissen, Errungenschaften, gesellschaftlichen Entwicklungen, Orten, Personen und Figuren präsentiert, die Bestandteil des deutschen kollektiven Gedächtnisses sein könnten und teilweise wohl auch das (deutsche) moderne Bewusstsein prägen, auch wenn nicht allzu oft erläutert wird, in welcher Weise dies geschieht. Ob die präsentierten Phänomene als Mythen zu betrachten sind, müssen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden, denn nicht alle Artikel treffen dazu eine klar nachvollziehbare Aussage. Vor allem aber würden sich bei einer 2. Auflage sicherlich viele Leserinnen und Leser eine ausführliche Erläuterung und Begründung der Auswahlkriterien, des Mythenkonzepts und des Wirkungspotentials von Mythen wünschen, denn auch wenn es keine inhaltlichen Grenzen für das Entstehen eines Mythos gibt, so lassen sich durchaus formale Merkmale und auch psychosoziale Funktionen und Instrumentalisierungen benennen und analysieren, zumal dazu zahlreiche philosophische und kulturwissenschaftliche Reflektionen und Modelle vorliegen, deren resümierende Vorstellung und Auswertung einen differenzierenden Einstieg in diesen für die Gegenwart zweifelsohne wichtigen Themenbereich bieten würden.





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