Das „Dasein als Inforg“

Luciano Floridi untersucht, wie die Infosphäre unser Leben verändert

Bernhard J. Dotzler

Luciano Floridi, Die 4. Revolution: wie die Infosphäre unser Leben verändert, aus dem Englischen von Axel Walter (Berlin: Suhrkamp, 2015), 318 S.

Bin ich mein Facebook-Profil? Oder bin ich der Auftritt auf meiner dienstlichen Homepage? Sicher nicht. Ich bin nicht einmal mein Tagebuch. Selbst wenn, so ich denn eines führte, dieses vielleicht noch am meisten über mich oder von mir verriete. Aber in allen drei Fällen handelt es sich um irgendwelche Informationen über mich, kaum um mich selbst. Sicher, was andere über mich wissen, was also an Informationen über mich zirkuliert, wirkt auch zurück auf mein Selbstbild. Doch erstens sind nicht einmal mein Selbstbild und wer oder wie ich ‚wirklich bin‘ einfach dasselbe, und zweitens gilt diese Differenz a fortiori für mich und das Bild, das andere von mir haben. Deshalb unterscheidet man zwischen Identität, Selbstbild und sozialem Selbst. Letzteres steht im Blick, wenn Luciano Floridi in seinem für den Bücherherbst 2015 aus dem Englischen ins Deutsche übersetzten Buch Die 4. Revolution an die Leser gewendet erklärt: „Sie sind Ihr Facebook-Profil und auch wieder nicht“ (97).

Über die Frage der Online-Identität – einschließlich des Aspekts ihrer möglichen Vervielfältigung zu Online-Identitäten im Plural – ist viel geschrieben worden, seit es das Online-Sein gibt. Auch in Floridis Buch ist ihr ein eigenes Kapitel gewidmet. Die heutigen IKT (Informations- und Kommunikationstechnologien) seien nie dagewesene „Technologien des Selbst“ (87, 99) im Sinne Michel Foucaults, so die mit ihrem Bezug auf Foucault gleichermaßen fragwürdige wie dennoch in jüngerer Zeit kommun gewordene These hierzu; das Schlagwort, auf das Floridi sie bringt, heißt „Onlife-Erfahrung“ (120). Diese ist letztlich das Generalthema des Buchs, dessen Kernfrage – umkreist in weiteren Kapiteln zu den IKT-bedingten Veränderungen von Zeit, Raum, Politik, Privatsphäre und Umwelt – lautet, wie das, was es als „die vierte Revolution“ bezeichnet, „uns zu denken herausfordert, was wir möglicherweise sind“ (130). Auch für seine Antwort auf diese Frage, „wer wir sind und wie wir miteinander interagieren sollten“ (219), findet Floridi eine Kurzformel, wenn er von Inforgs spricht, zu denen die IKT uns mehr und mehr machen, und wenn er dafür immer wieder auch die notorischen Beispiele wie Facebook, Google und Flickr heranzieht (weit mehr als das hilflose Register am Endes des Bandes deutlich macht), ist das in zweifacher Hinsicht bezeichnend.

Zum einen tendiert das Buch im Ganzen zur reinen Netz-Affirmation. Nicht, dass die bedenklichen Momente der erkennbar werdenden „Always-On(line)“-Kultur (vgl. 68) gänzlich verleugnet würden. Allein schon als Kontrast zur prätendierten eigenen Reflektiertheit werden die IKT durchaus als Technologie angesprochen, „die eher zur praktischen Verwendung als zum kritischen Nachdenken einlädt“ (138). Ebenso finden die ‚üblichen Verdächtigen‘ keineswegs nur unkritisch Erwähnung, sondern sehr wohl auch im Hinblick auf die „Probleme“, welche die „Privacy-Politik“ von „Unternehmen wie etwa Google und Facebook“ aufwirft (163). Dennoch spricht es Bände, wenn Floridi an einer Stelle erklärt, sich „nicht weiter mit den Bedenken der Pessimisten befassen“ zu wollen, um „vielmehr die erfreulichen Aspekte in den Blick [zu] nehmen“ und anhand dieser aufzuzeigen, wie die IKT „unser Bild von uns dahingehend wandeln, dass wir uns selbst als informationelle Wesen verstehen“ (94). Man könnte die Prophezeiung, das „Dasein als Inforg“ werde eines Tages „so selbstverständlich sein, dass uns jede Unterbrechung unseres normalen Informationsflusses krank machen wird“ (134), als düster empfinden und fragen, wie sich, so zu erkranken, vermeiden ließe. Aber Floridis – cum grano salis – einzige Vermeidungsstrategie läuft auf die Befürwortung möglichst reibungsloser Informationsflüsse hinaus. Im besten Fall könnte man unterstellen, seine Überlegungen verhielten sich konstatierend, neutral gegenüber dem Umstand, dass es längst unmöglich geworden scheint oder ist, „die Verbindung unserer Welt mit den IKT zu trennen, ohne sie damit selbst abzuschalten (222), einschließlich solcher Sachverhalte wie, dass „IKT und Big Data [...] auch Waffen“ sind (256), oder etwa der „Tatsache, dass digitale IKT es heutzutage gestatten, unsere Datenspur für soziale, politische oder wirtschaftliche Zwecke aufzuzeichnen, zu verfolgen, zu bearbeiten und zu verwenden“ (164).

Nur, dass die erwähnten Zwecke selber nie neutral sind, vergisst Floridi mit zu erinnern. Für ihn „erinnert uns“ die besagte Tatsache „nachdrücklich daran, dass wir unserer Natur nach Wesen aus Information sind“ (164). Und bezogen auf diese unsere „Natur“ oder diese unsere „Wesenheit“ prolongiert sein Buch zum anderen die übliche Verkennung. Für die Millionen Mitglieder, die ihres täglichen Narzissmus auf Facebook frönen, hält es zwar offenmütig die schlechte Nachricht bereit, dass wenig Grund zu dergleichen Stolz besteht. Aber zugleich vernebelt es die Tragweite genau dieser Einsicht einmal mehr.

Wie nämlich ist der Buchtitel zu verstehen? Gemeint ist nicht eine vierte industrielle Revolution nach der dritten, als welche der Siegeszug der Mikroelektronik schon in den 1970ern ausgerufen wurde, und welcher ja – zumindest laut Jeremy Rifkins jüngeren Einlassungen – noch das Internet zu subsumieren wäre. Vielmehr handelt es sich um eine Anspielung auf Kopernikus, Darwin und Freud in jenem Sinn, den letztgenannter dieser Namenreihe einst beilegte (in seinem dafür berühmt gewordenen Aufsatz „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“, 1917). Kopernikus beraubte den Menschen seiner zentralen Stellung im Universum. Darwin stieß ihn vom Sockel seiner Sonderstellung über dem Tierreich. Freud entthronte das Bewusstsein des Menschen, das Ich, durch die Einsicht, dass es „nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“, in welchem stattdessen das Unbewusste regiert. Und nun, so Floridi, gelte es eine vierte Entmächtigung zu begreifen, nämlich die, dass der Mensch auch in puncto Intelligenz seine „Ausnahmestellung“ (126) eingebüßt hat, indem, was Floridi dennoch als „unsere“ IKT bezeichnet, sich „regelmäßig als smarter und leistungsstärker als wir“ erweist (131): „Wir sind nicht mehr die Herren der Infosphäre“ (128).

So weit, so richtig. Einzuwenden ist dennoch, dass Freud nicht von Revolutionen, sondern davon sprach, „daß der allgemeine Narzißmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt drei schwere Kränkungen von seiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren hat“. Aber Die 4. Kränkung wollte Floridi sein Buch wohl doch nicht nennen. Im Gegenteil, über jede Verletzung, die sein Gegenstand für die Eigenliebe menschlicher Leser bedeuten könnte, räsoniert er grundsätzlich wohlgemut, gelegentlich wichtigtuerisch, punktuell auch mit durchaus bedenkenswerten Beobachtungen und Argumenten hinweg, am deutlichsten wohl ausgerechnet, wo er sich der Frage der künstlichen Intelligenz der IKT ausführlicher widmet. Just hier spendet er nachgerade Trost, wenn er versichert: „Zwischen uns und unseren Maschinen liegt eine semantische Schwelle“ (184), die diese hindert, ‚echte‘ Intelligenz zu erlangen, indem es bei allem ‚echt‘ „intelligente[n] Verhalten auf das Verstehen von Bedeutungen ankommt, mehr als auf den syntaktischen Umgang mit Symbolen“ (185), auf den alle IKT – von Shannon bis zum heutigen, nur als Etikettenschwindel sogenannten, Semantic Web – beschränkt sind. Mit anderen Worten, die Ängste vor einer dem Menschen alsbald überlegenen maschinellen Superintelligenz, wie sie die KI einst schürte, die „starke KI“ der ersten Computerjahrzehnte, sollen unbegründet sein. Die „vierte Revolution“ wäre ‚nur‘ die Machtergreifung der „leichten KI“ in Form der Smartheit lernender Suchmaschinen, RFID-gesteuerter Services oder selbstfahrender bzw. unbemannter Vehikel aller Art. Auch das ist keineswegs falsch gesehen. Aber zu sagen, diese Systeme seien „genauso dumm wir Ihr alter Kühlschrank“ (181), in ihnen stecke nicht mehr als die „Intelligenz von Toastern“ (187) oder „eines Weckers“ (202), grenzt denn doch ebenso eher an (menschliche) Dümmlichkeit, wie nur ein wenig mehr Freud-, ergänzt um Lacan-Lektüre genügt hätte, die Potenz reiner Signifikantenketten (Syntagmen) einerseits wie andererseits das (Semantik-‚gestützte‘) Denkvermögen, auf das sich der Mensch so viel einbildet, klüger einzuschätzen.

So erweist sich Die 4. Revolution, alles in allem, als ein womöglich durch seine Ambivalenz für die aktuelle Reflexion der technologischen Welt ‚unumgänglicher‘ Traktat. Neben einer Fülle „brauchbare[r] Zahlen“ (203), beginnend mit dem „Anwachsen von Big Data“ von 180 Exabyte im Jahr 2006 auf 1600 Exabyte (1,6 Zettabyte) im Jahr 2011 (30-1), enthält er – sei dahingestellt ob aus lobbyistischem Kalkül oder Philosophenüberheblichkeit – ein ebenso gerüttelt Maß an Verkennung, auch und gerade, was seine let’s face it-Attitüde gegenüber der Welt-Macht der IKT betrifft.





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