Romanistik in Bewegung
Über die Freiheit zur Philologie
Julian Drews (Potsdam), Anne Kern (Potsdam), Tobias Kraft (Potsdam),
Benjamin Loy (Köln), Marie-Therese Mäder (Halle-Wittenberg)
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags und der Herausgeber/innen aus:
Romanistik in Bewegung: Aufgaben und Ziele einer Philologie im Wandel, hrsg. von Julian Drews, Anne Kern, Tobias Kraft, Benjamin Loy und Marie-Therese Mäder (Berlin: Kadmos, 2016), 304 S.
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Kaum eine geisteswissenschaftliche Disziplin hat in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten mit einer vergleichbaren Verve das Genre der Selbstbefragung kultiviert wie die Romanistik.1 So könnte man mit Kai Nonnenmacher zurecht die Frage stellen, welche Funktion vor dem Hintergrund dieser disziplinären Tradition, aber auch der generellen Tendenzen des gegenwärtigen Wissenschaftssystems „die Textsorte Quo vadis zwischen Vergangenheitskritik, Gegenwartsanalyse und Zukunftsplanung des eigenen Fachs [noch] haben [kann]“.2 Und tatsächlich ist die Fachdebatte zwischen Herkünften und Zukünften der Romanistik insofern erklärungsbedürftig, als sie auf zwei grundlegende, aporetisch anmutende und eng miteinander verbundene Eigenschaften des Fachs verweist, die Hans Ulrich Gumbrecht in seiner affektiven Wesensbestimmung der Disziplin herausgestellt hat:
[D]ie Romanistik [hat] über lange Zeit ihre so erstaunliche intellektuelle Energie aus Situationen der Sehnsucht gewonnen [...], aus Sehnsucht nach Verlorenem und aus Sehnsucht nach Unerreichbarem.3
Dieser romanistischen Sehnsucht wohnt stets eine Abwesenheit inne, eine doppelte Verschobenheit, die sowohl zeitlicher als auch räumlicher Natur ist. Geboren aus dem Geist der deutschen Romantik und vor dem konkreten historischen Hintergrund der napoleonischen Besatzung, begleitet die Institutionalisierung der Romanistik die Herausbildung des Nationalstaats. Zugleich war und ist die Perspektive des Fachs nationenüberschreitend-vergleichend angelegt. Der Ursprung (und damit dasjenige Element, das die Begrenzung dieser Perspektive begründet) liegt dabei bekanntermaßen in der lateinischen Sprache und dem europäischen Mittelalter. Aus dieser Geschichte gewinnt der Einheitsgedanke der Romanistik seine Kraft, welcher sich bis in die gegenwärtigen Debatten hinein wiederum als ein raum-zeitliches Phänomen präsentiert. Dieses ist in zweierlei Hinsicht problematisch und ruft zwei im Gegensatz zueinander stehende Interpretationslinien bezüglich der Zukunftsfähigkeit des Fachs auf: Auf der einen Seite steht die Klage um den Verlust der historischen Perspektive4 sowie die Kritik an der permanenten (kultur-)räumlichen Entgrenzung des Fachs. Für einen Teil der romanistischen Fachwelt folgt hieraus eine bis zur Auflösung hinreichende Krise der Disziplin.5 Auf der anderen, der optimistischeren Seite, wird eben diese „scheinbare konzeptuelle Unschärfe als besonders geschärftes und einzigartiges Profil, kurzum als Alleinstellungsmerkmal“ gewertet.6 Dies wird begründet durch die Vorzüge einer „Disziplin, die dank ihrer Vielsprachigkeit und der Komplexität multi-, inter- und transkultureller Beziehungen innerhalb wie außerhalb der traditionellen Grenzen der Romania besser als jede andere philologische Disziplin auf die Diskussion entscheidender Globalisierungsphänomene der vergangenen Jahrhunderte wie der Gegenwart vorbereitet ist“.7
Es kann in dieser Einleitung nicht darum gehen, die jeweiligen Positionen in ihrer Gesamtheit darzustellen, geschweige denn abschließend zu bewerten. Doch steht außer Zweifel, dass sie als ererbter Problemhorizont und Institutionengeschichte immer schon den diskursiven Hintergrund bilden, vor dem sich auch die Beiträge des vorliegenden Bandes situieren und zu dem sie sich auf die eine oder andere Weise verhalten. In diesem Sinne scheint es geboten, hier auf zwei grundlegende Punkte einzugehen, die sowohl für die fachinternen Debatten der letzten Jahre als auch die Ausrichtung der hier versammelten Aufsätze bzw. die ihnen vorausgehenden Diskussionen bedeutsam waren.
Der erste Punkt bezieht sich auf das bereits angesprochene Phänomen der Entgrenzung: Getrost darf wohl die Tatsache konzediert werden, dass die von Auerbachs Diktum der „Erde als philologischer Heimat“8 ausgehende Hinwendung der Philologien im Allgemeinen und der Romanistik im Besonderen zur globalisierten Welt zu einer auch institutionellen Realität geworden ist. Dass es vor diesem Hintergrund nicht nur um eine simple thematische Erweiterung der Perspektive gehen kann, sondern diese mit einer theoretischen Fundierung und einer Entwicklung adäquater Beschreibungskategorien einhergehen muss, hat die romanistische Literaturwissenschaft in den vergangenen Jahren eindrucksvoll bewiesen.9 Gleichwohl scheint aus der Anerkennung dieser grundlegenden Welthaltigkeit der Romanistik nicht automatisch eine Verabschiedung des auf dem lateinischen Ursprung fundierten Einheitsgedankens bzw. der Zentralstellung Europas als romanistischem Kerngebiet zu erfolgen.10 Jenseits der bekannten und hier nicht noch einmal aufzurufenden Konfrontationslinien hinsichtlich dieser Entgrenzungsproblematik stellt sich die Frage nach der prinzipiellen Notwendigkeit und Verfasstheit einer existenzbegründenden Genealogie des Fachs. Was spräche etwa dagegen, die ursprüngliche einheitskonstituierende Perspektive der Disziplin auf dem Grund des lateinischen Erbes etwa um eine zweite Säule zu erweitern: um jene nämlich der seit 1492 angelegten (und seither stets problematischen) Globalität der romanischen Welt? Denn während die lateinische Säule ganz offensichtlich in der Gegenwart durch die Macht des Faktischen in Form von sich verändernden Bildungsprogrammen und Welterfahrungen massiv unter Druck gerät, bietet die zweite eine neue Rechtfertigungsgrundlage der Romanistik und gibt dem Fach damit ein historisch und erkenntnistheoretisch fundiertes Alleinstellungsmerkmal an die Hand. Zur Sicherung seines Überlebens im institutionellen Kanon kann es ebenso viel beitragen wie zur Erneuerung seiner (auch affektiven) Legitimationsstrukturen.11 Könnte sich nicht eine offensiv auf ihr globales Erbe gründende Romanistik als eine selbstbewusste Disziplin neu etablieren, die sich mit einer gegenüber den Nationalphilologien völlig unstrittigen Selbstverständlichkeit befähigt sieht, in den Dialog mit anderen global orientierten Disziplinen unserer Zeit zu treten und dabei ihre romanistische Perspektive einzubringen? Es sei hier ausdrücklich betont, dass eine so verstandene Welthaltigkeit der Romanistik keineswegs den Ausschluss von Europa bedeuten kann und darf. Es gibt kein Primat der höchsten geographischen oder kulturellen Distanz. Europa ist natürlich weiterhin ein zentrales Untersuchungsfeld romanistischer Studien. Die gegenwärtigen Krisen der Idee und des politischen Modells Europa beweisen, wie dringlich jenseits der Reduktion auf ökonomische Argumente eine offensive Verfechtung und Erklärung der gemeinsamen, aber auch differenten Vorstellungen von Europa aus den divergierenden historischen und kulturellen Perspektiven des Kontinents heraus ist. Gerade deshalb ist es merkwürdig, dass die Romanistik zwar stolz ist „auf ihre kulturelle Leistung als Vermittlerin wie auch ihre Leistung im Dienst eines europäischen Gedächtnisses“,12 zum öffentlichen Diskurs der europäischen „Krise“ in den vergangenen Jahren aber kaum etwas zu sagen wusste.13 Eben hier sollte und muss die Romanistik unserer Zeit sich angesprochen fühlen und informiert Positionen beziehen können, historische Bezüge artikulieren, Debatten schärfen – und dies eben vor dem Hintergrund der gebotenen Probleme und nicht primär als Grundlage einer erneuerten Verortung der Disziplin im Sinne ihres europäischen Ursprungs.
Der zweite Punkt, welcher mit dem Phänomen der Entgrenzung eng zusammenhängt, betrifft die Frage der historischen Perspektive, bezüglich derer sich abermals die Pole von Herkunft und Zukunft der Disziplin überlagern. Die Rolle der Geschichte als Element von Begründungsdiskursen innerhalb der Fachdiskussion verdient eine gesonderte Betrachtung, und das jenseits der Debatte, inwiefern eine wahlweise als zunehmende historische Selbstvergessenheit oder notwendige Transgression bestimmter historisierender Perspektiven beschriebene Entwicklung der Romanistik ihre Zukunfts(un)fähigkeit beeinflusst. Die Relevanz dieser Frage hat jüngst noch einmal Andreas Kablitz aufgeworfen, als er mit Blick auf die Romanistik darauf verwies, dass die Klärung des Verhältnisses der Disziplin zur Geschichte wesentlich ist, „[d]enn schon ihr disziplinärer Zuschnitt, die Kombination der Untersuchung mehrerer Sprachen und Literaturen, lässt sich letztlich nur historisch begründen“.14 Für Kablitz erwächst das gegenwärtige Legitimitätsdefizit, das er den Geisteswissenschaften insgesamt bescheinigt, aus eben jenem „Systemfehler“, der mit der Verschiebung von der historischen zur systematischen Perspektive seinen Anfang nimmt, wobei letztere „ihrerseits zur dominanten theoretischen Ausrichtung philologischer Forschung [wurde]“.15 Hier wie auch in der an anderer Stelle dargelegten Kritik am Methodenpluralismus der Literaturwissenschaft werden durchaus problematische Punkte philologischen Arbeitens in der Gegenwart benannt.16 Allerdings scheint das „Verschwinden der Geschichte“ sich auf ein bestimmtes Verständnis historisch arbeitender Hermeneutik zu beziehen, die nach Kablitz „eine theoretische Perspektive mit einem Kulturmodell humaner Selbstverständigung [verband]“.17 Jedoch muss man fragen, inwiefern die Philologien in ihrer historischen Entwicklung überhaupt als modellhafte Ideenträgerinnen im Dienste eben jener humanen Selbstverständigung angesehen werden können. Genau diesen disziplinhistorisch schmerzhaften Fragen aber hat sich (auch und gerade) die romanische Philologie in den vergangenen Jahren mit Nachdruck gestellt, wenn sie, um mit Markus Messling zu sprechen, der Problematik nachgegangen ist, inwiefern „die europäischen Philologien nicht eine moralisch stark verbrauchte Wissenschaft [sind], deren Aussagekraft über die sprachlichen Grundlagen und kulturellen Formen des menschlichen Lebens nachhaltig diskreditiert ist“.18
Das Nachdenken über Geschichtskonstitution und die Geschichtlichkeit der Institution Romanistik bzw. der Philologie ist, ebenso wie die Frage nach den Modalitäten des Geschichte-Werdens von Zeitphänomenen überhaupt, also keineswegs ad acta gelegt. Sollte Philologie als akademische Praxis und Lehre noch gesellschaftlich in diesem Sinne wirken wollen, so hätte sie wenigstens die Bringschuld verbindlicher Lektüren einzulösen. Ist Literaturgeschichte – auch im Plural – nicht jenes Surrogat der Kulturgeschichte, das uns erlaubt, die Auswahl der wichtigsten oder doch wichtigeren Texte zu benennen und zu vermitteln? Tradition und Kanon aber sind Geltungs- und Orientierungsbegriffe, denen es schon lange nicht mehr gelingt, soziale und kulturelle Strahlkraft zu entfalten, auch als Folge einer Selbstentpflichtung der akademischen Philologien. Zugleich ist augenfällig, dass die verlegerische Publizistik und feuilletonistische Literaturkritik diese Lücke nicht kompensieren können. Wer anders also als die Philologien kann informiert über das sprechen, was wir heute aus den möglichen Literaturgeschichten überliefert weiterhin lesen und für unsere Zeit verständlich machen sollten? Anders gefragt: Was kommt jenseits der Feststellung einer umfassenden „stratifizierten Kanonpluralität“,19 wenn es nicht bloß die Aufgabe der ganzen Idee geteilter Lektüren und textueller Kohärenz sein soll? War der Blick in die philologisch erforschte Vergangenheit beseelt von der Idee eines ebenso umfassenden wie kritischen Verständnisses eines entfernten epistemischen und kulturellen Zusammenhangs, so hat sich die Philologie doch selbst nur unzureichend mit der Frage beschäftigt, wie denn nach der Boeckh’schen Formel das eigene vormals Erkannte zu erkennen sei.20 Das Problem der Fachgeschichte ist also weiterhin von ungebrochener Relevanz. Die Entgrenzung des romanistischen Gegenstandes kann eben nicht das Ende der fortgesetzten Frage nach den Herkünften bedeuten, muss doch die Philologie in ihrem eigenen Interesse kritische Wissenschaftsgeschichte zu einem Kernaspekt ihres Arbeitens machen.
Die Geschichte der Institution Romanistik verbindet die Gegenwart des Fachs also wie ein System von (mehr oder weniger gut illuminierten) Tunneln mit der Vergangenheit. Gleichzeitig ist die Gegenwart der Institution entscheidend hinsichtlich der Rollen, welche die einzelne Wissenschaftlerin oder der einzelne Wissenschaftler21 darin spielen können. Diese Rollen bedingen auch die Möglichkeiten und Konsequenzen des eigenen Sprechens über die Disziplin. Dabei finden diese fachinternen Reflexionsprozesse, in die der vorliegende Band einen Einblick bietet, eben längst nicht mehr nur innerhalb der Fachgrenzen bzw. abgeschlossen von fach- oder theoriefremden Debatten statt, denn „[d]ie Frage nach einer zukünftigen Romanistik ist heute weniger denn je zu trennen von den ganz konkreten Handlungsmöglichkeiten, -ebenen, -instrumenten ihrer Akteure“.22 Dass es mit Blick auf diese Handlungsmöglichkeiten gerade auch hinsichtlich der jeweiligen Position innerhalb des wissenschaftlichen Feldes sehr unterschiedliche Möglichkeiten der Situierung gibt, kann ebenfalls festgehalten werden. Wenn etwa für eine „neue Nähe zwischen Geisteswissenschaft und Kunst“23 eingetreten wird oder die Erprobung einer „Verschränkung von Sinn und Sinnlichkeit einer solchen Literatur mit immer wieder neuen literarischen und wissenschaftlichen Mitteln“24 gefordert wird, so lassen sich diese Abgrenzungsversuche gegenüber bestimmten Formen philologischen Arbeitens als Entwürfe lesen, denen es auch um die Freiheit von einer bestimmten Art von Philologie geht. Dass ein derartiges romanistisches Schreiben auf einer anderen Ebene operiert als eines, bei dem über das Abfassen von Qualifikationsarbeiten zunächst einmal nach der Freiheit zur Philologie gestrebt wird, ist offensichtlich. Gleiches gilt für die Tatsache, dass auch andere damit in engem Zusammenhang stehende Aspekte der Orientierung innerhalb der Romanistik je nach Perspektive ganz unterschiedlichen Lesarten unterworfen werden können. Wenn Gumbrecht etwa fordert, „[d]ie Romanisten der Zukunft sollten sich so verhalten wie ‚die Vögel des Himmels‘ in der Parabel des Neuen Testaments und wenn sie dazu nicht bereit sind, dann sollten sie dieses Fach und seine Passionen meiden“,25 so stellt sich für den Nachwuchs als eben jenen zukünftigen Vögeln des Himmels die Frage, wie mit einer solchen Position umzugehen ist. Denn nach Matthäus säen sie bekanntlich nicht, ernten nicht und horten nichts in Scheunen, sondern lassen sich allein von Gott ernähren. Man kommt letztlich nicht umhin zu denken, dass sich diese Empfehlung aus der Perspektive eines sich melancholisch in den kalifornischen Höhenwinden wiegenden Weißkopfseeadlers doch reichlich anders ausnehmen muss als aus der eines nach ein paar Brotkrumen pickenden Sperlings in der deutschen Provinz. So drängen sich mitunter nicht wenige berechtigte Zweifel auf bezüglich der eigenen, wie sich mit Auerbach sagen ließe, „leidenschaftlichen Neigung, die nach wie vor eine zwar geringe, aber durch Begabung und Originalität ausgezeichnete Anzahl junger Menschen zur philologisch-geistesgeschichtlichen Tätigkeit treibt“.26 Möglicherweise ist die Disziplin gleichermaßen entfernt von einem Paradies der Sehnsucht wie von einem drohenden Exodus am anderen Ende des Horizonts.
Dass zwischen beiden Polen ein weites Feld liegt, das einer kontinuierlichen Kultivierung bedarf, ist offensichtlich; dass es nicht genügen wird, sich jenseits des Schlachtengetümmels auf erhoben-erhabene Positionen zurückzuziehen und sich der daraus resultierenden „erhebliche[n] Entpflichtungseffekte“ zu freuen,27 sondern vielmehr eine Steigerung der Verpflichtungseffekte notwendig ist, gehört zum Anspruch dieses Bandes; dass Wissenschaft und Romanistik etwas zu sein vermögen, das weit über die Logiken des beschleunigten und massenhaften Publizierens hinaus ein Erlebnis von Gemeinschaft, geteilten Leidenschaften und Formen fruchtbaren Streitens ist, hat das fast dreijährige Arbeiten an diesem Band hoffentlich auch für seine Leserinnen und Leser deutlich gemacht.
Zu den Beiträgen
Christoph Beck setzt sich in seinem Beitrag „Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht: Erich Auerbach und Ernst Robert Curtius“ mit zwei ‚klassischen‘ Vertretern des Fachs auseinander. Dabei geht es ihm um das Geschichtsverständnis, vor dem sich die Konzeptionen philologischen Arbeitens jeweils verorten. Schon Auerbach und Curtius stehen nicht mehr vor einer gegebenen kulturellen Einheit der Romania, Europas oder der westlichen Welt. Das vereinende Moment ist eine geschichtsphilosophische Aufgabe und muss erst erschrieben werden, womit beide in unterschiedlicher Weise den Reflexionsstand Ernst Troeltschs aufgreifen.
Nadine Zülow unternimmt in „Wahrheit in Waffen: zu Werner Krauss’ Lektüre des Moralisten Baltasar Gracián“ in ihren Überlegungen zu Werner Krauss den Versuch, die Lebensgeschichte des unter den Nationalsozialisten inhaftierten Romanisten in Bezug zu seinen Gracián-Lektüren und den daraus abgeleiteten Überlebensstrategien zu setzen. Damit hinterfragt sie zugleich kritisch jenes die gegenwärtige literaturwissenschaftliche Lektürepraxis kennzeichnende Ausschließen von Lebens- und Weltbezügen literarischer Texte.
Rike Bolte plädiert in ihrem Beitrag mit dem Titel „Hugo Friedrich neu lesen: Negativität als zu präzisierendes Prinzip moderner Poetizität“ für eine neue Lektüre von Hugo Friedrichs Klassiker Die Struktur der modernen Lyrik. Diese geht insbesondere der Frage nach, inwiefern das von Friedrich für die moderne Lyrik als konstitutiv postulierte Phänomen der Negativität vor dem Hintergrund der lyriktheoretischen Debatten des 20. Jahrhunderts zu präzisieren sei bzw. eine solche Auseinandersetzung zugleich eine mögliche Zugangsvoraussetzung für die Ausrichtung lyriktheoretischer Positionen im 21. Jahrhundert sein könnte.
Auch Pablo Valdivia Orozco führt in „Philologische Implikatur und kulturwissenschaftliche Explikation: die Frage einer Romanistik in Bewegung“ die Frage nach der kulturtheoretischen Implikatur, welche die philologische Arbeit ermöglicht, zu Curtius und Auerbach. Deren Hauptwerke liefern Modelle eines Traditionszusammenhangs, der sich einer nationalistischen Verkürzung der Geschichte verweigert und als Fusion begriffen werden will. Auf diese Konzepte lässt sich mit Autoren wie Borges, Glissant und García Márquez antworten, welche einerseits die Perspektive des Fachs auf eine Neuzeit der vielen Zentren bestätigen, andererseits aber die kolonialen Blickrichtungen der Implikatur verdeutlichen und dem spezifisch deutschen Zuschnitt des Faches Alternativen an die Seite stellen. Das Hauptaugenmerk sollte auf der Reflexion romanistischen Fragens liegen.
Vicente Bernaschina Schürmann setzt sich in seinem Beitrag „Rodolfo Lenz: unterwegs zu einer amerikanischen kritischen Philologie“ mit dem Verständnis des deutsch-chilenischen Philologen Rodolfo Lenz von Sprache als psychophysischem Phänomen und den damit einhergehenden Implikaturen für die Philologie im Allgemeinen und die Romanistik im Besonderen auseinander. Lenz’ Überzeugung folgend, dass Sprachen über die reine Formulierung von Inhaltlichem hinaus immer auch Auskunft über die Denkweisen ihrer Sprecher mitenthielten, sei ihre Erforschung nicht nur aus rein linguistischer, sondern gerade aus kultureller und sozialer Perspektive von Bedeutung – vorausgesetzt, die Forschenden seien bereit, sich selbst und ihr Arbeiten hinreichend zu reflektieren, die eigenen Affinitäten zu identifizieren und im Dienste einer nicht-hierarchischen, kollektiven und transdisziplinären Wissenschaftspraxis hintanzustellen.
Sylvester Bubel reflektiert in seinem Beitrag „Bewegungen vor der Bewegung: drei Fragen zur (Meta-)Methodologie literaturwissenschaftlicher Praxis in der Romanistik heute“ über die im Rahmen philologischen Arbeitens selten explizit gemachte Frage nach der jeweiligen Entscheidung für oder gegen bestimmte methodologische Ansätze. Dabei plädiert er im Sinne einer Überwindung bestimmter Feldmechanismen für eine dezidierte Plausibilisierung bei der Wahl von Interpretationsansätzen, welche die Auseinandersetzung mit heuristischen Potenzialen von diametral entgegengesetzten Denkschulen immer schon mit einzuschließen habe, um so zu einer größeren Anzahl an objektivierbaren und nachvollziehbaren Forschungsergebnissen zu gelangen.
Benjamin Loy richtet in seinem Beitrag „Nach den Elegien: Überlegungen zu einer kritischen Literaturwissenschaft“ den Blick auf den affektiven Gehalt der aktuellen Legitimierungs- und Theoriedebatten im Fach. Diese seien entweder gesteuert von einer Ab- oder einer besonders akzentuierten Hinwendung zur Tradition hermeneutischer Textinterpretation. Im Anschluss und in Abgrenzung zu elegischen und optimistischen Prognosen zur Zukunft der Philologie formuliert Loy im Anschluss an Peter Bürger die Grundzüge einer „kritischen Literaturwissenschaft“, die Ideologie- und Gesellschaftskritik der Sprachkunst Literatur sowie der Sprachkritik als Untersuchungsmethode als genuin philologischen Auftrag begreift und keineswegs als historisch abgeschlossen wissen will. Zum Handlungsfeld dieser Arbeit aber gehört, so Loy, die Einsicht, dass sich philologisch motiviertes Lesen und Denken nicht beliebig zweckrationalisieren und beschleunigen lässt und sich daher vor allem wehrhaft gegen eine „Bolognistik“ erweisen muss, die zunehmend zum Naturzustand des Wissenschaftssystems zu werden droht.
Marie-Therese Mäder untersucht in ihrem Beitrag „Bewegung in der Romanistik: zwischen Re-Philologisierung und kulturwissenschaftlicher Öffnung“ die wechselvolle Geschichte im Für und Wider einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Romanistik als Universitätsfach und als Disziplin. Dabei diagnostiziert sie zwei Tendenzen: Sehr wohl haben sich kulturwissenschaftliche Forschungsthemen und Lehrangebote in der ganzen Breite des Faches durchgesetzt. Zugleich stehen die theoretischen Prämissen der heterogenen Angebote kulturwissenschaftlicher Vordenker aber in der Kritik, Systematik gegen begriffliche Beliebigkeit einzulösen und scheitern als Anspruch an das Fach an den Widerständen der Verbände und ihrer organisierten Fachdiskussion. Sehr wohl zeigen die jüngeren Diskussionen im Fach aber auch, dass Philologie nicht anstatt sondern vielmehr als Kulturwissenschaft entwickelt werden. Im Sinne eines Ausblicks plädiert Mäder schließlich für eine relational verstandene „Romanistik als Fremdkulturwissenschaft“ und die Rehabilitierung differenzbewusster Begrifflichkeiten.
Sandra Hettmann widmet sich in „Gender – theoretische Paradigmen und queer-feministische Perspektiven“ den „‚leaking pipelines‘ feministischer und genderkritischer Herangehensweisen“ innerhalb der Romanistik. Zwar habe die Disziplin längst einschlägige Analysekategorien aus der queer-feministischen Theoriebildung der vergangenen vierzig Jahre für sich vereinnahmt, dabei aber häufig „auf eine feministisch-emanzipatorische Rückkopplung verzichtet“. Der Beitrag zeichnet kritisch eine Theoriehistorie des gender-Begriffs nach mit dem erklärten Ziel, die Romanistik für mannigfaltige geschlechtertheoretische Ansätze und deren Einsatzprämissen zu sensibilisieren und sie als Reflexionskategorien im Zentrum romanistischen literatur- wie kulturwissenschaftlichen Arbeitens zu etablieren.
Tobias Kraft untersucht in seinem Beitrag „Digitale Philologie und digitale Romanistik“, wie die Konzeption und Erstellung digitaler wissenschaftlicher Editionen philologische Schlüsselfragen unserer Zeit berührt und Denk- und Handlungsoptionen für eine innovative und zukunftssichere Philologie eröffnet. Sie verändere zugleich das philologische Tun und erlaube den Ausblick auf Tätigkeiten und Probleme einer digitalen Philologie, die gerade erst entsteht. Eine solcherart digital konstituierte Philologie sei auf Projekt- und Personenebene auch bereits Teil jener Akteure der Romanistik, die sich den Fragestellungen des digitalen Wandels öffnen.
Fanny Romoth vollzieht in ihrem Beitrag „Bewegungsforschung in der Literaturwissenschaft: Entstehung, Entwicklung und Perspektiven eines aktuellen Forschungsparadigmas und die Rolle der Romanistik“ die Entwicklung der literaturwissenschaftlichen Bewegungsforschung seit den 2000er Jahren in den drei wesentlichen Forschungslinien nach: der Erforschung von Raumdynamiken, der thematisch-formalen und der literaturwissenschaftlich orientierten Bewegungsforschung. Nicht nur, so Romoth, sei aus den Reihen der Romanistik die Initialzündung für einen „turn to movement“ in den Literaturwissenschaften gekommen. Auch vermöge sie entscheidend diesen weiter voranzutreiben in Auseinandersetzung mit ihrem spezifischen Literaturkorpus einerseits und andererseits dank ihrer sprachlichen Kompetenz, die ein in literaturwissenschaftlichen Disziplinen noch wenig bestelltes Feld von Bewegungstheorien aus dem romanischen Sprachraum aufschließen kann.
Gesine Müller untersucht in ihrem Beitrag mit dem Titel „Dennoch für eine Histoire croisée: die literaturwissenschaftliche Karibikforschung als Modellfall“ das „koloniale Kaleidoskop“ der karibischen Inselwelt. Gerade die Schwellensituation des 19. Jahrhunderts bringt dort literarisch transareale Dynamiken hervor, deren Lektüre für das Verständnis der Gegenwart relevant bleibt. Aus der Perspektive einer Histoire croisée lassen sich diese Literaturen auch im Sinne postkolonialer Theoriebildung stark machen.
Dem Beitrag „Romanistik in Bewegung Oder Für eine transareale Literaturwissenschaft“ von Ottmar Ette liegt die These zugrunde, dass Globalisierung kein rezentes Phänomen ist, sondern ein langanhaltender, sich über mehrere Jahrhunderte erstreckender Prozess, der sich in vier Phasen beschleunigter Globalisierung unterteilen lässt, angefangen bei der Frühen Neuzeit bis hin zur Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Die Literaturen der Welt, so Ette, würden dem Menschen mit ihrem einzigartigen Wissen eine neue Perspektive auf die viellogische Verfasstheit weltumspannenden Zusammenlebens eröffnen.
Bibliographie
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Reichlich Anschauungsmaterial dieser ausufernden Debatten bieten neben verschiedenen Themenheften in einschlägigen romanistischen Zeitschriften auch, um nur einige zu nennen: Estelmann, Krügel und Müller, Hrsg., Traditionen der Entgrenzung; Lieber und Wentzlaff-Eggebert, Hrsg., Deutschsprachige Romanistik – für wen? sowie im eher hagiographisch gehaltenen Stil Ertler, Hrsg., Romanistik als Passion und Gumbrecht, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten.↩
Nonnenmacher, „Neuestes Systemprogramm der Deutschen Romanistik“, 316.↩
Gumbrecht, „Ins Exil geboren“, 262.↩
Schon Auerbach beklagt diesen Umstand in seinen Überlegungen zur Philologie der Weltliteratur, vgl. Auerbach, „Philologie der Weltliteratur“. Ein Beispiel aus der jüngsten Gegenwart bietet neben Gumbrecht, „Ins Exil geboren“, auch Kablitz, „Der Systemfehler der Geisteswissenschaften“, auf dessen Ausführungen noch einzugehen sein wird.↩
Vgl. Gumbrecht, „Ins Exil geboren“, 268.↩
Mecke, „Kleine Apologie der Romanistik“, 359.↩
Ette, „Romanistik als Archipel-Wissenschaft“, 124.↩
Auerbach, „Philologie“, 96.↩
Stellvertretend sei an dieser Stelle auf die Vielzahl der Arbeiten Ottmar Ettes verwiesen, die von Literatur in Bewegung bis TransArea – eine literarische Globalisierungsgeschichte entscheidende Anstöße zu dieser theoretischen Arbeit gegeben haben.↩
Vgl. symptomatisch hierfür die Ausführungen bei Stierle, „Romanistik als Passion“.↩
Zur Relevanz von Affekt und Philologie vgl. auch Ette, ÜberLebenswissen und Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik.↩
Stierle, „Romanistik als Passion“.↩
Eine äußerst bemerkenswerte Ausnahme zu diesem auffälligen Schweigen des Fachs ist der Band von Hofmann und Messling, Hrsg., Leeres Zentrum.↩
Kablitz, „Systemfehler“.↩
Kablitz, „Systemfehler“.↩
Siehe dazu Kablitz, „Theorie der Literatur und Kunst der Interpretation“.↩
Kablitz, „Systemfehler“.↩
Messling, „Disziplinäres (Über-)Lebenswissen“, 103. Vgl. zum gleichen Thema auch die im Rahmen der Emmy-Noether-Gruppe „Philologie und Rassismus“ an der Universität Potsdam zwischen 2012 und 2014 entstandenen Arbeiten sowie Messling und Ette, Hrsg., Wort Macht Stamm. Zur Aufarbeitung der Geschichte der Romanistik im Dritten Reich vgl. die einschlägige Publikation von Hausmann, ‚Vom Strudel der Ereignisse verschlungen‘ sowie jüngst zum Fall Hans Robert Jauß’ die Untersuchung von Westemeier, Hans Robert Jauß.↩
Lüsebrink und Berger, „Kanonbildung in systematischer Sicht“, 4–5.↩
Vgl. Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, 10–1.↩
Alle Beiträge dieses Bandes folgen ihren eigenen Auffassungen bezüglich gendersensibler Sprache.↩
Nonnenmacher, „Neuestes Systemprogramm“, 316.↩
Gumbrecht, Präsenz, 116.↩
Ette, ÜberLebenswissen, 96.↩
Gumbrecht, „Ins Exil geboren“, 265.↩
Auerbach, „Philologie“, 85.↩
Gumbrecht, „Ins Exil geboren“, 264.↩
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