Untergangsphantasien/-diskurse: Goll, Céline, Gracq, Houellebecq
Franziska Sick
Zum aktuellen Kontext
Europa, sagt man, muss sich zusammenschließen, um in der globalisierten Welt wirtschaftlich bestehen zu können. Andererseits führt die Verschmelzung von Hartwährungsländern mit Weichwährungsländern zu beträchtlichen ökonomischen Verwerfungen – aber auch zu ideologischen. Wie europaweit zu besichtigen ist: Im Gefolge der Währungsunion und neuerdings der Flüchtlingskrise sind sowohl am linken wie am rechten Rand nicht unerhebliche Tendenzen zur Renationalisierung zu verzeichnen. Sie verleiten selbst Intellektuelle zu so provokanten wie eben deshalb parteilichen und unausgewogenen Einlassungen.
So bringt Agamben gegen die Austeritätspolitik Merkels Kojèves Forderung nach einem lateinischen Reich ins Spiel.1 Kojève sagte nach dem Zweiten Weltkrieg das Wiedererstarken Deutschlands voraus; er unterstellte ferner, dass Deutschland sich am angelsächsischen Raum orientieren werde und Frankreich damit in eine Satellitenrolle abgedrängt werde. Um dem vorzubeugen, sollten sich Frankreich, Italien und Spanien zu einem lateinischen Reich zusammenschließen.2 In mehr oder weniger loser Anlehnung an Kojève spielt Agamben mit dieser Idee eines lateinischen Reichs. Nur so könne man dem Ökonomismus des protestantischen Nordens entkommen, der die romanische, vom Katholizismus geprägte Lebensart zerstöre.3
Obwohl das nicht meine argumentative Hauptstoßrichtung ist: Fragwürdig ist Agambens Vortrag bereits in wirtschaftspolitischer/-historischer Hinsicht: Vor der Währungsunion hat wohl keine deutsche Regierung den romanischen Ländern in ihre Wirtschafts- und Lebensart hineingeredet, und richtig ist wohl auch, dass die Initiativen für eine Währungsunion eher von Frankreich als von Deutschland ausgingen.4 Unabhängig davon: Eine gemeinsame Währung erfordert – um ökonomische Verwerfungen zu vermeiden – eine Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sowie weiterer volkswirtschaftlicher Eckdaten. Das hat nichts mit dem katholischen Geist hier und dem protestantischen dort zu tun. Es sind vorrangig die volkswirtschaftlichen Bedingungen einer Währungsunion, die hierbei in Anschlag zu bringen sind. Wenn das von Agamben propopagierte lateinische Reich weniger ökonomisch orientiert und deshalb dauerhaft weniger wirtschaftlich-leistungsfähig sein sollte, führt das unter der Voraussetzung einer gemeinsamen Währung dazu, dass entweder der Norden den Süden alimentieren (Stichwort: Transfer- oder Inflationsunion) oder das „lateinische Reich“ die Kosten seiner Lebensart in Form von u.a. Lohnverzicht oder einer erhöhten Arbeitslosenquote selbst tragen müsste.
Agamben äußert sich zu solchen finanzwirtschaftlichen Zusammenhängen nicht. Er zieht es stattdessen vor, die kulturelle Hegemonie des Südens unter der Führung Frankreichs zu fordern. Gegenüber den Deutschen hört sich das dann das so an:
[…] imposer à la majorité des plus pauvres les intérêts de la minorité des plus riches, qui coïncident la plupart du temps avec ceux d’une seule nation, que rien ne permet, dans l’histoire récente, de considérer comme exemplaire.5
Man muss sich an dieser Stelle schon fragen, wen Agamben mit den Reichsten meint: die Aldi-Erben und die griechischen Reeder – oder nicht doch die Deutschen, also die Aldi-Erben und die Hartz IV-Empfänger?6 Fragwürdig ist nicht zuletzt sein Quellenbezug: Kojève schlug, die wirtschaftliche Schwäche des lateinischen Reiches vorhersehend vor, diese durch eine gemeinsame Ausbeutung der Kolonien zu kompensieren. Die Frage, wie das lateinische Reich nach Wegfall der Kolonien seine wirtschaftliche Schwäche ausgleichen könne, stellt sich Agamben nicht; stattdessen weicht er in ein interkulturelles Diskursschema aus:
Non seulement il n’y a aucun sens à demander à un Grec ou à un Italien de vivre comme un Allemand; mais quand bien même cela serait possible, cela aboutirait à la disparition d’un patrimoine culturel qui se trouve avant toute chose une forme de vie.7
Da der drohende Untergang ein Kernargument in Agambens Essay ist, da er sich überdies trotz des gemeinsamen Diskussionsrahmens als äußerst ambig erweist – Ausbeutung der fremden versus Schonung der eigenen Lebensart – scheint es lohnend, der Tradition solcher Argumentationsweisen oder aber auch Untergangsphantasien nachzufragen.
Das ist, wenn wir über europäische Kultur(en)gemeinschaft reden,8 ein vielleicht randständiges Thema. Denn diese behauptet entweder – wenn wir das Wort im Singular nehmen – eine weitgehende Homogenität europäischer Kultur- und Lebensart, oder sie insinuiert – wenn wir das Wort im Plural nehmen –, dass es in Europa zwar unterschiedliche Kulturen gebe, die Unterschiede auf dem Wege eines interkulturellen Verstehens aber überbrückbar seien. So vielleicht etwas zu optimistisch interpretiere zumindest ich die Rede von der Kultur(en)gemeinschaft. Agamben schlägt einen anderen Ton an. Seiner Auffassung zufolge sind die kulturellen Differenzen so groß, dass er den Verlust der eigenen Kultur befürchtet und im Gegenzug hegemoniale Forderungen erhebt. Im Grunde kündigt er damit die interkulturelle Diskursgemeinschaft auf. Denn die Voraussetzung von Interkulturalität im emphatischen Sinne besteht eben darin, dass man die andere Kultur als prinzipiell gleichwertig anerkennt.9
Wie sich an dieser Stelle zeigt, besteht Europa nicht bloß aus erworbener Gemeinsamkeit und – im Geiste der Aufklärung – aus toleranter Überbrückung der verbliebenen historischen Differenzen, sondern eben auch aus Untergangsphantasien. Nicht nur bei Agamben und nicht nur in negativer Weise. Das Nachkriegseuropa bezieht nachgerade seine Identität hieraus: Nach zwei Kriegen hat man verstanden, dass man nicht länger Krieg gegeneinander führen sollte. Insofern ist die Identität Europas zutiefst von einer Untergangsphantasie gespeist.
Diese Identität ist so schwach wie zugleich stark. Schwach ist sie, weil sie als Untergangsphantasie nur den Charakter einer Vermeidung und keinen positiven Bezugspunkt hat. Stark ist sie, weil nichts stärker eint als ein bevorstehender Untergang oder ein gemeinsamer Gegner. Der gemeinsame Gegner, das ist im Europa der Weltkriege es selbst, es selbst mit seinen Nationalismen. Für gewöhnlich identifizieren Untergangsphantasien nichtsdestoweniger einen äußeren Feind als Gegenbild zum Risiko des eigenen Verfalls. So etwa bei Iwan Goll:
Ich bin ein armer, alter, blasser, schlaffer Europäer, zu nichts mehr nutz.10
Aber ich hasse Amerika […].11
Nachdem ich vorstehend das Thema Untergangsphantasien/-diskurse problembezogen und deshalb etwas freihändig eingeführt habe, scheint es angebracht, es begrifflich zu präziseren: Untergangsphantasien handeln vom Verfall, von der Bedrohung der eigenen Kultur, aber auch – und obwohl dies ein Grenzfall ist – von einer Bedrohung, die dem Einzelnen12 aus solchen Szenarien erwächst.
Die Rede von Untergangsphantasien ist dabei nicht so zu verstehen, dass es sich um eine reine Phantasterei handelt. Der Begriff ‚Phantasie‘ ist im vorliegenden Beitrag schon deshalb angebracht, weil er überwiegend literarische Texte behandelt. Angemessen scheint er aber auch im außerliterarischen Bereich, weil wir auch dort über Zukunftsprojektionen, und das heißt über Fiktionen und große Erzählungen sprechen. Unangemessen wäre es vor solchem Hintergrund, von Untergangsprognosen zu reden. Als Beispiel hierfür kann Agambens Essay dienen. Er ist schon deshalb keine Prognose, weil Agamben kein hinlängliches Daten- und Diskussionsmaterial bereitstellt, sondern stattdessen Ängste bedient und schürt.
Damit ist unter der Hand eine erste Richtung der vorstehenden Untersuchung beschrieben: Im Vordergrund stehen weniger Inhalte, sachliche Positionen – etwa zum lateinischen Reich –, sondern Diskursstrukturen, Narrative, rhetorische Zurichtungen sowie eine erste Typisierung von Untergangsphantasien. Zu erarbeiten ist letztere im Kontrast zum interkulturellen Diskurs, ohne dass dieser vollumfänglich zu betrachten und zu charakterisieren wäre.
Um einleitend hierzu eine erste Vorschau zu bieten.
Wie bereits angedeutet: Untergangsdiskurse sind von einem Narrativ geprägt, das dem der Interkulturalität nachgerade zuwiderläuft. Typischerweise operiert letzteres mit Begriffen wie Identität, Differenz, Verstehen und Fortschritt. Wir haben gemeinsame oder aber auch differente Wurzeln, wir haben uns vielleicht etwas auseinander entwickelt, aber wenn wir eingedenk unserer gemeinsamen Vergangenheit diese Differenzen überbrücken oder auch nur tolerieren, können wir auf höherer Ebene eine vertiefte Gemeinschaft bilden. Ganz anders ist das Narrativ der Untergangsphantasien verfasst. Sein Ausgangspunkt ist zumeist in aller Offenheit das eigene Ungenügen, der eigene Verfall. Invers verhält sich deshalb die Zeitlichkeit beider Narrative. Während der klassisch interkulturelle Diskurs evolutionär, fortschrittsgläubig ist, ist der Diskurs der Untergangsphantasien katastrophisch.
Da Untergangsphantasien von der eigenen Gefährdung handeln, tritt der Andere nicht in primärer Weise in den Blick. Er ist im Kontext der Untergangsphantasie eine Projektionsfigur, die das eigene Ungenügen spiegelt. Auch hierin verhalten sich Untergangsphantasien komplementär zum interkulturellen Diskurs. Denn dieser fokussiert von Anfang an den Anderen. Er sucht die interkulturelle Begegnung.
Insofern der Andere eine Projektionsfigur ist, tendieren Untergangsphantasien zu einer Stereotypisierung des Anderen. Er kann dabei – wie bei Agamben – als schiere Gegenfigur auftreten. Häufig tendieren Untergangsphantasien aber auch dazu, Zuflucht beim Gegner zu suchen, um dem eigenen Ungenügen zu entkommen.
Untergangsphantasien sind ungleich politischer als der interkulturelle Diskurs – selbst dann noch, wenn sie sich apolitisch gebärden. Das liegt in der Natur der Sache. In dem Maße, wie Untergangsphantasien von der eigenen Gefährdung handeln, eröffnen sie gegenbildlich ein Spielfeld der Macht, oder mit anderen Worten: ein Spielfeld realpolitischer Beziehungen. Ganz anders sind interkulturelle Diskurse verfasst. Sie setzen auf ein wie auch immer persönliches, zwischenmenschliches Verständnis.
Wie verkürzt auch immer lässt sich die politische Dimension der Untergangsdiskurse historisch erklären. Historisch weist Interkulturalität auf Diskurstraditionen des 18. und frühen 19. Jh. zurück. Zu dieser Zeit bildeten die Bürger so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit aus: mit Begriffen wie Freundschaft, Brüderlichkeit versuchte man gegen den Adel gleichsam eine Gesellschaft neben der Gesellschaft aufzubauen. Zeitversetzt zum Diskurs der Interkulturalität entstehen Untergangsphantasien auf der Basis eines ansatzweise etablierten Bürgertums, also genau dann, wenn der Bürger auf seine eigene schöne neue Welt zu treffen beginnt. Er versteht sich in stärkerem Maß als Teil der Gesamtgesellschaft und -kultur und entwickelt mit Bezug auf sie Gestaltungsansprüche und komplementär hierzu ein Krisenbewusstsein. Das ist einmal mehr kein unmittelbar politischer Diskurs – denn es geht nicht um Tagespolitik –, aber er ist offensichtlich gesamtgesellschaftlicher orientiert als eine Interkulturalität, die in der Tradition des 18. Jh. steht und mit dem Leitbegriff der Freundschaft im Grundansatz nicht gesamtgesellschaftlich, sondern intim, nebengesellschaftlich kodiert ist.
Die unterschiedliche Verankerung beider Diskurstypen geht mit einer thematischen Verschiebung einher. Während der interkulturelle Diskurs auf Begriffe wie Individuum, Verstehen und Toleranz setzt, sind Untergangsdiskurse ungleich weniger idealistisch, sondern vielmehr lebensphilosophisch, und das heißt mit einem anderem Wort: im weitesten Sinne existentiell geprägt. Man sorgt sich um den Fortbestand der eigenen Kultur/Gesellschaft. Das kann im Sinne der Décadence-Tradition heißen, dass man die eigene Kultur wie ein Lebewesen versteht, das wie jedes Lebewesen einem natürlichen Alterungsprozess13 unterliegt. Es kann aber auch, wenn man spätere Ausprägungen wie die Anti-AKW-Bewegung und den Klimaschutz betrachtet, die Sorge um den Lebensraum meinen. In beiden Fällen stehen nicht Begriffe wie Verstehen und Toleranz, sondern Begriffe wie Sorge und Leben im Raum.
Trotz solch katastrophischer Weiterungen: Untergangsphantasien im vorstehenden Sinn sind nicht mit Apokalypsen zu verwechseln. Während apokalyptische Untergänge mythisch und später naturgesetzlich bedingt sind, beziehen sich die in unserem Umfeld zu behandelnden Untergänge durchweg auf gesellschaftliche Bedingnisse. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Lars von Triers Melancholia ist in diesem Sinn ein apokalyptischer, wenn auch von Untergangsstimmungen geprägter Film, während Francis Ford Coppolas Apocalypse Now entgegen dem anderslautenden Titel keine Apokalypse, sondern eine gesellschaftliche Untergangsphantasie entwickelt.14
Soviel einleitend zum Ausblick. Wie an ihm zu ermessen ist, besitzen Untergangsphantasien eine beträchtliche Spannbreite. Ich versuche diesem Umstand zumindest ansatzweise dadurch gerecht zu werden, dass ich mit den Autoren Goll, Céline, Gracq und Houellebecq eine vergleichsweise heterogene Textauswahl in Blick nehme. Ich behandle die Texte nicht chronologisch, sondern gliedere sie systematisch: Céline und Gracq beziehen sich auf ein Kriegsszenario. So unterschiedlich die beiden Autoren es auch deuten – Untergangsphantasien treten uns hier im Kontext internationaler Konflikte entgegen. Goll und Houellebecq sind demgegenüber in ungleich höherem Maße mit dem eigenen kulturellen Ungenügen und weniger mit internationalen Konflikten befasst.
Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit (1932)
Célines Roman Voyage au bout de la nuit handelt in den ersten hundert von knapp 600 Seiten vom 1. Weltkrieg aus der Sicht eines Frontsoldaten namens Bardamu. Ich behandle im Folgenden nur diesen Romananfang. Man kann sich im Vorfeld die Frage stellen, was solche Geschichten, was Kriegserlebnisse mit Untergangsphantasien zu tun haben. Sind zumal Fronterlebnisse nicht dadurch ausgezeichnet, dass man hier und jetzt allenthalben realen, tatsächlichen Untergang erfährt?15 Und dennoch ist der Anfang des Céline’schen Romans breitfältig von Phantasien durchsetzt. Einige verhalten sich komplementär zur gegenwärtigen Situation. Da Bardamu bereits in einem Untergangsszenario festsitzt, phantasiert er den Frieden herbei. In wie widersprüchlicher und teilweise wehrkraftzersetzender Weise auch immer: Was wäre, wenn wir von den Deutschen überrannt würden? Dann wäre Frieden. Wir würden als Helden durch Paris flanieren.16 Andere Einlassungen reflektieren die eigene Angst, so etwa anlässlich folgender Szene: Der Oberst Bardamus hatte – wie wir im Rückblick erfahren – eine patriotische Rede gehalten „Haut les cœurs! qu’il avait dit… Haut les cœurs! et vive la France!“17 In diesem Sinne bewegt er sich in so beispielgebender wie zugleich leichtfertiger Weise im Gelände, so als könne der Tod ihm nichts anhaben – und er wird dennoch oder gerade deshalb von einer Granate zerfetzt. Sein Tod veranlasst Bardamu zu folgender Reflexion:
Quand on a pas d’imagination, mourir c’est peu de chose, quand on en a, mourir c’est trop […]. – Le colonel n’avait jamais eu d’imagination lui.18
Bardamu rechtfertigt damit seine Angst, seine Feigheit, zu der er sich offen bekennt, und begründet unter der Hand (s)eine kleine Psychologie des Krieges: Kriege führt man nur, weil man sich den eigenen Tod nicht vorstellen kann; und selbst wenn man im Krieg ist und weiß, in welche Situation man geraten ist, harren die meisten auf dem Schlachtfeld aus, statt zu desertieren.
Indessen ist die Rede von der Kriegs-Psychologie etwas zu schwach. Denn Bardamu reflektiert primär keinen psychologischen Ursachenzusammenhang, sondern sein höchstpersönliches Verhältnis zum Tod: Weil er mehr Phantasie als die anderen hat, ist er nicht mutig wie diese, sondern hat Angst. Seine Angst ist zutiefst existentiell.
Mit dieser existentiellen Ausrichtung ist eine wesentliche Eigenheit des Textes beschrieben: Typischerweise betreffen Untergangsphantasien den Untergang eines Kollektivs. Bardamu sitzt demgegenüber inmitten eines kollektiven Untergangsszenarios, das bereits eingetreten ist, und imaginiert seinen persönlichen Untergang, seinen Tod. So unorthodox, so unkanonisch dieser Text gemessen an kollektiven Untergangsphantasien auch ist, er ist nicht auszublenden, weil er die andere Seite beschreibt: Den eigenen Tod, mit dem Politik oder aber auch kollektive Untergangsphantasien spielen.
Instruktiv sind die ersten Kapitel noch in einer weiteren Hinsicht. Der Roman eröffnet vergleichsweise abrupt mit einer Szene mitten im Krieg, ohne dass auch nur näherungsweise angegeben würde, wie es zu diesem Krieg kam.19 Im Gegenteil:
Tout au loin sur la chaussée, aussi loin qu’on pouvait voir, il y avait deux points noirs, au milieu, comme nous, mais c’était deux Allemands bien occupés à tirer depuis un bon quart d’heure. – Lui, notre colonel, savait peut-être pourquoi ces deux gens-là tiraient, les Allemands aussi peut-être qu’ils savaient, mais moi, vraiment, je savais pas. Aussi loin que je cherchais dans ma mémoire, je ne leur avais rien fait aux Allemands.20
Bardamu war als Jugendlicher in Deutschland gewesen. Er hatte dort die Schule besucht. Typischer Weise setzt man, zumal nach dem 2. Weltkrieg, auf solche Modelle interkultureller Begegnung. Man unterstellt dabei, dass interkulturelle, zwischenmenschliche Begegnungen Fremdheit abbauen, Vertrauen aufbauen und damit völkerverbindend wirken. Unter anderem deshalb gründet man in einer Form von weicher Außenpolitik Goethe-Institute und betreibt Schüleraustausch.
Célines Geschichte liest sich gemessen hieran wie eine Gegenerzählung zur interkulturellen Begegnung. Man führt nicht Krieg, weil der Andere einem fremd ist, fremd wird der Andere einem erst im Krieg. Vor diesem Hintergrund wirkt das Konzept der interkulturellen Begegnung nachgerade tragikomisch. Céline spielt auch hiermit:
On buvait de la bière sucrée. Mais de là à nous tirer maintenant dans le coffret, sans même venir nous parler d’abord et en plein milieu de la route, il y avait de la marge et même un abîme.21
So befremdlich auch der Umstand für einen Roman sein mag, dessen zentraler Ausgangspunkt eine Kriegserfahrung ist – die vorstehende Begegnung mit den Deutschen ist die einzige im ganzen Roman. Exemplarisch zeichnet sich hierbei die Selbstbezüglichkeit von Untergangsphantasien ab. Die Begegnung mit dem Anderen reduziert sich auf eine Reminiszenz an die Schulzeit. In der Fronterfahrung schrumpft der Andere auf einen Punkt inmitten der Straße zusammen, der seit einer Viertelstunde unermüdlich Feuer gibt.
Nichtsdestoweniger erscheint unter den Auspizien einer existenziellen Untergangsphantasie der Gegner nachgerade als potentieller Erlöser. Aus naheliegenden Gründen: Wenn ein Soldat in Kriegsgefangenschaft gerät, ist damit für ihn der Krieg zu Ende. Einfach deshalb, weil er mit seiner Gefangennahme endgültig aus dem Todes-Spiel des Krieges herausgenommen wird. Ganz anders verhält es sich im Fall der Verwundung, sei diese nun physischer oder aber auch psychischer Natur. Unter den Bedingungen einer ‚totalen Mobilmachung‘ flickt man die Versehrten mehr schlecht als recht zusammen, um sie alsbald wieder an die Front schicken zu können.22
Breitfältig thematisiert der Romananfang dieses Spannungsfeld von Phantasien und Taktiken, die auf nichts anderes als auf die Demobilisierung der Frontkämpfer zielen. In Blick zu nehmen sind hierbei zuvörderst Szenen, in denen Bardamu versucht, seine Gefangennahme durch die Deutschen herbeizuführen. Das ist ein durchaus riskantes Unterfangen. Denn, um gefangengenommen zu werden, muss man dem Gegner erst einmal entgegentreten. Andere Phantasien Bardamus gehen einen kaum weniger unverhohlenen Pakt mit dem Gegner ein. So merkt Bardamu an, dass er durchaus zufrieden sei, dass der Quartiermeister von einer Granate der Deutschen zerfetzt wurde, denn dieser hätte ihn vor das Kriegsgericht bringen wollen.23 Wie unangemessen eine solche Sorge unter den Bedingungen der ‚totalen Mobilmachung‘ ist, zeigt eine andere Szene. Bardamu trifft, als er dem Krieg schließlich entkommen ist, in einer psychiatrischen Anstalt einen Lehrer, Princhard, der mehrfach Konservendosen gestohlen hatte mit dem Ziel, unehrenhaft aus der Armee entlassen zu werden. Stattdessen versucht man ihn zu ‚resozialisieren‘, um ihn wieder an die Front zu schicken. Princhard merkt an:
Actuellement il n’y a plus de soldats indignes de porter les armes […]. Il faut que la folie des massacres soit extraordinairement impérieuse, pour qu’on se mette à pardonner le vol d’une boîte de conserve!24
Princhard weitet seine Anklage dahingehend aus, dass er sich von den Werten der französischen Nation, ja vom Begriff der Nation überhaupt lossagt. Dieser habe nur dazu geführt, dass die Herrschenden Söldner zur Verfügung haben, denen sie nichts bezahlen müssen.25 Die Einlassungen Princhards liegen durchaus auf der Linie des „Vaterlandsverrats“, den Bardamu in seinen Phantasien und Taktiken begeht. Er spitzt ihn lediglich theoretisch-ideologisch zu. Bardamu distanziert sich dennoch von Princhard. Dessen Thesen sind ihm zu politisch, zu intellektuell.
Das gibt Anlass, den vorstehend verwendeten Begriff der existentiellen Untergangsphantasie zu präzisieren. Auch wenn er mit dem zeitgenössischen Existentialismus wesentliche Gemeinsamkeiten aufweist – hier wie dort ist die Angst, ist der eigene Tod zentral gesetzt – sind existentielle Untergangsphantasien nicht mit Existentialismus zu verwechseln. Einfach deshalb, weil der Existentialismus die Angst vorrangig theoretisch bespricht. Das ist etwas anders als Angst haben. Mit anderen Worten: Die Angst Bardamus ist so existentiell, dass sie sich jeder theoretischen Verwertung, sei es durch die Existentialisten oder aber auch – wie im Falle des antinationalen Diskurses Princhards – durch die Politik entzieht. Andernorts sagt Bardamu zu seiner Freundin: „‚On ne soigne pas la peur, Lola.‘“26 Im selben Geiste hätte er zu Princhard sagen können, Angst sei nicht theoriefähig. Sie lässt sich allenfalls schildern und das heißt auch: erzählen. Da Bardamu kein Intellektueller ist, entgegnet er Princhard nichts und entlässt ihn stattdessen als Erzähler in maliziös hintergründiger Weise:
Lui, Princhard, je ne le revis jamais. Il avait le vice des intellectuels, il était futile. Il savait trop de choses […].27
Der Satz insinuiert, dass Princhard gefallen ist. Auch Princhard hatte zu wenig Phantasie.
Ich habe einleitend darauf hingewiesen, dass Untergangsdiskurse selbst dort politisch sind, wo sie sich apolitisch gebärden. Die theorielosen Taktiken Bardamus sind hierfür ein erstes Beispiel. Es liegt im Zuge dieser Taktiken, dass in diesem Roman die eigene Nation oder gar Europa nicht vorkommt. Allenfalls Princhard vertritt eine politische, post-nationale Position. Er bezieht damit eine Haltung, die häufig in Untergangsdiskursen zu finden ist, er wendet sich primär gegen das Ungenügen der eigenen Nation, denn mit der Zurückweisung des Nationalstaats steht zuvörderst die Französische Revolution in der Kritik. Radikaler ist Bardamus Privatpolitik der Taktiken verfasst. Sie ist post-politisch. Die Sprengkraft beider Positionen zeigt sich, wenn man an sie das Maß anderer Untergangstheorien anlegt.
Unter den Umständen, die zum Scheitern Europas führen können, führt der Historiker David Engels ein Übermaß an Individualismus an.28 Auch wenn Engels so nicht argumentiert: Dieser Individualismus ist grundiert von den existentiellen Strömungen der 1920er Jahre, in deren Umfeld Céline zumindest zu verorten ist. Deutlich wird hierbei, wie gegenläufig Untergangsphantasien kodiert sein können, wie sehr sie jeweils aus einem historischen Kontext heraus formuliert werden, und nicht zuletzt, wie unvereinbar kollektive und existentielle Untergangsphantasien sind. Naturgemäß setzen Staatstheoretiker und Historiker einen ausgeprägten Individualismus mit dem Untergang des Staates oder aber auch einer Staatengemeinschaft gleich. Das Individuum hält dem zu Recht entgegen, dass der Staat der Tod des Individuums sei. Das ist, wenn man Céline liest, durchaus wörtlich zu nehmen. Kaum weniger deutlich äußert sich Kojève in seinem Entwurf des lateinischen Reichs:
Wenn der Durchschnittsfranzose offensichtlich nicht bereit ist, zu sterben und wenigstens sich einer Disziplin zu unterwerfen und einzuschränken, damit Frankreich lebe, so liegt das vielleicht ganz einfach daran […], dass das ‚Frankreich‘ der nationalen und nationalistischen Tradition ein Ideal ist, das heute politisch nicht mehr zieht.29
Julien Gracq: Le rivage des Syrtes (1951)
Während Célines Voyage au bout de la nuit als existentielle Untergangsphantasie eine Sonderstellung einnimmt, handelt Gracqs Rivage des Syrtes von einer kollektiven Untergangsphantasie und besitzt insofern ein vergleichsweise klassisches Gepräge. Ein dekadenter, an den Syrten – das heißt: in Nordafrika – gelegener Staat namens Orsenna schlittert aus Langeweile, aus leichtfertigem Abenteurertum in einen Krieg mit einem Gegner, mit dem er sich seit dreihundert Jahren in einem stillschweigend eingehaltenen Waffenstillstand oder, wie es im Text heißt, in einem ‚eingeschlafenen Krieg‘30 befindet. Ins Rollen bringt die Ereignisse ein junger Adliger namens Aldo, der auf einer Patrouillenfahrt die Demarkationslinie überquert, in den gegnerischen Hafen einfährt und dort unter Beschuss gerät. Zurück in seiner Heimat erhält er Besuch von einem Abgesandten der gegnerischen Seite, der eine förmliche Entschuldigung verlangt. Selbst ein Friedensabkommen scheint unter dieser Voraussetzung denkbar. Indessen hat die dreiste Grenzverletzung Aldos Orsenna aufgeweckt. Orsenna will den Krieg, um der eigenen Décadence zu entkommen. Damit ist freilich noch zu wenig gesagt. Gracq findet drastischere, nachgerade verstörende Worte: Als Aldo im Begriff ist, in den gegnerischen Hafen von Farghestan einzulaufen, fragt ihn sein Freund, was er dort aus der Nähe beäugen wolle. Aldo stellt sich diese Frage für sich, um dann ausweichend zu antworten:
Ce que je voulais n’avait de nom dans aucune langue. Etre plus près. Ne pas rester séparé. Me consumer à cette lumière. Toucher. – « Rien », lui dis-je, « une simple reconnaissance. »31
Man könnte bereits anhand dieses Zitats unterstellen, dass Aldo ein nachgerade erotisches Verhältnis zum Erbfeind hat. Vollends die Einlassungen des Abgesandten von der gegnerischen Seite legen dies offen:
« J’essaie de deviner avec vous le développement possible, entre nos deux peuples, de rapports nouveaux que vous serez sans aucun doute d’accord pour nommer avec moi passionnels. […] Souvenez-vous de ceci, monsieur l’Observateur, qui vous donnera matière à réfléchir sur les croisières au clair de lune: il n’y a pour les peuples qu’une seule espèce de… rapports intimes. »32
Auch wenn man dieses erotische Verhältnis zum Erbfeind jugendlicher Schwärmerei zuschreiben mag, „les instances secrètes de la ville“33 in Orsenna denken kaum anders. Danielo, ihr oberster Vertreter, rechtfertigt sich gegenüber Aldo in diesem Sinne:
Dans les accalmies de la rumeur que tissait autour de moi le remue-ménage des affaires, il glissait tout à coup un curieux silence, un silence presque impoli – un de ces trous dans une conversation animée qui vous déconcertent, et si on se laisse aller au vide qu’ils creusent, ils vous mènent sans même qu’on y pense à deux yeux ouverts – deux yeux qui vous regardent sans rien dire – deux yeux qui ont su faire le silence autour d’eux.34
Die Augen sind die Augen des Gegners. Offensichtlich sucht Danielo – die Metapher der Augen deutet darauf hin – einen kaum weniger intimen Kontakt mit Farghestan als Aldo.
So naheliegend Célines These ist – kein Einzelner will einen Krieg, es sind die Mächtigen, die die Völker in den Krieg hineintreiben –, so sehr ist sie von Gracq aus zu relativieren. Obwohl und gerade weil der Roman mit einem Machtzentrum aufwartet, das im Verborgenen die Strippen zieht, wird auf der Rückseite kenntlich, wie wenig es bloß die Machthaber sind, die den Krieg herbeiführen. Die Signoria führt den Staat mit hängenden Zügeln. Sie lässt alle Beteiligten gewähren, sie lässt zu, dass eine kriegslüsterne Clique Gerüchte über Farghestan streut und deshalb ‚etwas geschehen müsse‘, sie lässt es mehr oder minder zu, dass Aldo zum feindlichen Hafen aufbricht. Sie lässt all dies zu, weil auch sie der Auffassung ist, dass ‚etwas geschehen müsse‘. Und selbst Aldo, der mit seiner Fahrt in den feindlichen Hafen den Krieg auslöst, versteht sich als Getriebener. Er rechnet sich einem Typus von Menschen zu, die
[…] n’ont peut-être été coupables que d’une docilité particulière à ce que tout un peuple, blême après coup d’avoir abandonné en eux sur le terrain l’arme du crime, refuse de s’avouer qu’il a pourtant un instant voulu à travers eux […].35
Kenntlich wird an dieser Stelle, wie komplementär sich die (Untergangs-)Phantasien Célines und Gracqs zueinander verhalten. Célines existentiellen Untergangsphantasien zufolge zieht der Einzelne nur in den Krieg, wenn er zu wenig Phantasie hat, um sich den eigenen Tod vorzustellen. Das Unglück Orsennas besteht Gracq zufolge demgegenüber darin, dass es zu viel Phantasie hat. So merkt der Gesandte an:
« Il n’est pas bon que l’imagination vienne à un peuple quand il est trop vieux. »36
Bemerkenswert ist nicht zuletzt die Konstruktion, die Gracq in der Gesamtanlage vorlegt. Man tendiert gemeinhin dazu, Identität – so etwa die Einheit/Identität Europas – als innere Gemeinschaft zu definieren. Gerade dadurch, dass Gracq eine Décadence-Geschichte erzählt, die Geschichte eines Staates, der seiner selbst überdrüssig ist, tritt hervor, wie sehr man zur Konstitution von Identität eines Anderen bedarf. Die etwas irritierende und mehrdeutige Rede von „rapports intimes“ zwischen Völkern ist weniger als Hassliebe zu verstehen, sie meint zuvörderst dies: Dass man noch und gerade mit dem Gegner so etwas wie eine Gemeinschaft, eine Gemeinschaft von Feinden bildet. Nicht zu verwechseln ist diese Gemeinschaft mit dem (imaginären) Pakt mit dem Gegner, den Célines Bardamu mit den Deutschen einzugehen versucht. Während Bardamus Pakt taktischer Natur ist, ist Aldo zutiefst des Gegners bedürftig. Während Bardamu bereit ist, zum Feind überzulaufen, um sein Leben zu retten, setzt Orsenna ohne Not den Fortbestand des Staates aufs Spiel, um sich im Krieg seiner Identität zu vergewissern.37
Wie bereits bei Céline kommt in Gracqs Roman die andere Kultur kaum vor. Das zeigt sich bereits daran, wie man in Orsenna über Farghestan redet. Man sagt nicht Farghestan, sondern „là-bas.“38 Farghestan gerät hierbei zu einem namenlosen, reinen Außen, zu einem Anderen schlechthin.39 So defekt in dieser Hinsicht die interkulturellen Beziehungen sind, ist in Frage zu ziehen, ob deren Verbesserung oder Ausbau – man stelle sich ein Projekt zum orsennisch-farghestanischen Kulturaustausch vor – die Eigendynamik des untergangssüchtigen Orsenna hätte aufhalten können. Gracq beschreibt sie über weite Strecken mit naturwüchsigen Metaphern: Orsenna ist in der Eigenwahrnehmung dieser Gesellschaft ein Sumpf, es fault und siecht vor sich hin. Wenn sich ihm nur ansatzweise die Perspektive bietet, dass etwas geschehen könnte, gerät es in fiebrige Erregung.
Unabhängig von solchen naturhaften Anleihen aus dem Sprachschatz der Décadence-Literatur ist zu verzeichnen, dass Gracq die Diskursmechanik von Untergangsphantasien in äußerst präziser Form darstellt und reflektiert. Es herrschen taktische und projektive Beziehungen vor. Bereits in diesem Sinne eröffnet der Roman: Farghestan ist für Aldo etwas, das er aus Büchern kennt, es ist ein vager Ort, etwas ‚da draußen‘, ansatzweise ‚plastisch‘ wird es allenfalls anhand von militärischem Kartenmaterial. Und selbst als Aldo eine Ausfahrt zu einem Aussichtspunkt an der Grenze macht, bekommt er von Farghestan lediglich die Rauchwolke eines Vulkans zu sehen. Sie korrespondiert zumindest in dimensionaler Hinsicht ziemlich genau mit dem Punkt, den die beiden schießenden Deutschen bei Céline bilden.
Kaum weniger vermittelt stellt sich die eigentlich diskursive Ebene dar. Orsenna beschäftigt Beobachter, Spione, so etwas wie einen Inlandsgeheimdienst, der die Armeeangehörigen, aber auch die eigene Zivilbevölkerung bespitzelt. Ironischerweise besitzt Orsenna keinen Auslandsgeheimdienst. Und so erfährt es zwar, dass Gerüchte über Farghestan im Umlauf sind – ein Umstand, der auf die Kriegsbereitschaft der Bevölkerung hindeutet –, aber nichts darüber, was in Farghestan wirklich vorgeht. Unabhängig davon sind diese Gerüchte äußerst diffus. Auf Rückfrage hüllt man sich in beredtes Schweigen. Deshalb kann der Spion nicht einmal sagen, was sie genau beinhalten. Als Aldo ihn fragt, wo diese Gerüchte herkämen, sagt er, sie kämen von den Fremden, womit er – der Bewohner einer Grenzstadt – sich korrigierend und präzisierend die Hauptstädter meint. Eine Nachfrage, ob es geheime Kontakte zu Farghestan gebe, weist er bestürzt zurück: „Das ist unmöglich“. Womit sich zeigt, was es mit diesen Gerüchten auf sich hat: Sie sind eine reine Kopfgeburt, etwas, womit sich Orsenna unterhält, das Phantasma eines Gegners. In einem durchaus postmodernen Sinne könnte man sagen, das orsennische Farghestan sei ein schieres Diskursphänomen, etwas, das nur noch als Legende oder als schierer Referent ohne jeglichen referentiellen Bezug existiert.
Nichtsdestoweniger enthält Gracqs Roman ansatzweise Momente einer interkulturellen Begegnung – zumal in dem Gespräch Aldos mit dem farghestanischen Abgesandten. Sie sind einmal mehr durch den Marker für Interkulturalität konnotiert, auf den wir bereits bei Céline gestoßen sind: So wie Bardamu sich angesichts des Krieges daran erinnert, dass er einmal in Deutschland lebte, so betont der Abgesandte aus Farghestan gegenüber Aldo, dass er eine Zeit lang in Orsenna gelebt hat, wenn auch als Spion, und dass er dieses Land liebe.40 Er macht Aldo deshalb „entre parenthèses“41 ein interkulturelles Gesprächsangebot, indem er auf die Dekadenzproblematik Osennas eingeht. Der bereits zitierte Satz „Il n’est pas bon que l’imagination vienne à un peuple quand il est trop vieux“ entstammt dieser Gesprächssequenz.
Ganz anders ist der offizielle Teil des Gesprächs verfasst. Es ist politisch-taktischer Natur und antwortet auf die Untergangsphantasien Orsennas auf dem ihr eigenen Feld. Bereits die Begleitkommentare zu diesem Dialog markieren den ganz anderen Gesprächsverlauf:
Pris au dépourvu, dans mon désarroi, j’essayais maladroitement de m’assurer l’avantage. […] Je l’arrêtai du geste. […] Je prenais un secret plaisir à ce ton incertain de réticence, à cette approche tâtonnante.42
Im Gange ist hierbei zwar kein Wortgefecht,43 aber nichtsdestoweniger so etwas wie ein Kriegsspiel mit Worten. Man sucht Deckung, man wagt sich hervor, man macht einen Rückzieher, so wie sonst nur in Stellungskriegen.
Im enggeführten Kontrast der beiden Gesprächssequenzen wird deutlich, wie unterschiedlich interkulturelle und Untergangsdiskurse verfasst sind. Während es im einen Fall darum geht, den Anderen zu verstehen, geht es im anderen Fall darum, herauszufinden, was der Andere vorhat und erwartet. Eine solche Diskursstrategie liegt in der Natur von Untergangsphantasien, denn diese sind mit der Frage nach Leben und Tod, Krieg und Frieden befasst. Nur in verschobener Weise liegt die Entscheidung hierüber in der Hand des Anderen. Das macht die Schlusspointe der Dialogsequenz aus. Sie balanciert zugleich die unabgeglichene Gesprächssituation von hier: diplomatischer Verhandlung und dort: interkulturellem Diskurs aus. Wenn man genauer zusieht, lassen beide Gesprächsangebote des Gesandten, so gegensätzlich sie auch kodiert sind, bis zum Ende alles offen. Aldo könnte ausschließlich auf die diplomatische Ebene des Gesprächs antworten. Er hätte bereits hier die Wahl zwischen Krieg und Frieden. Wenn er sich entschuldigen würde, wäre Frieden. In vergleichsweise freundschaftlicher Weise versucht der Abgesandte ihm eine weitere Brücke zu bauen, indem er ihn auf die Décadence-Problematik Orsennas hinweist. So besehen liegen alle Spielsteine im Feld Aldos. Es zählt zur Ironie dieses Gesprächs, dass Aldo die Wahl, die der Abgesandte ihm zuspielt, auf technische Umsetzungsprobleme zu reduzieren versucht:
« Mais où vous adresser la réponse? » criai-je tout à coup comme réveillé, tandis qu’il glissait déjà de son long mouvement souple vers la porte. – Les yeux étroits se retournèrent une seconde vers moi du fond de l’ombre. – « Vous ne vous rendez pas justice. Il n’y en aura pas », dit-il d’une voix posée, et de nouveau la porte battit silencieusement sur la nuit.44
Wie vermittelt auch immer sind damit die Grenzen von Interkulturalität bestimmt – oder aber auch nur der Stellenwert, den Untergangsdiskurse ihr zuweisen. Der Abgesandte weiß von Anfang an, dass sein Gesprächsangebot vergebens sein wird. Mit anderen Worten: Interkulturalität lässt sich nicht einseitig herstellen. Sie ist kein verbindlicher Superdiskurs, sondern kaum mehr als ein mehr oder weniger aufgeklärter Politik- und Diskursstil. Deshalb prallen interkulturelle Gesprächsangebote regelmäßig an Gesellschaftsentwürfen ab, die anders getaktet sind. Schenkt man dem Abgesandten aus Farghestan Glauben, sollte man es dennoch versuchen, selbst wenn bereits im Vorfeld absehbar ist, dass das interkulturelle Gesprächsangebot zum Scheitern verurteilt ist.
Iwan Goll: Die Eurokokke (1927)
Mit Céline und Gracq haben wir zwei Texte in Blick genommen, die in einem weiten Verstande des Wortes als international-interkulturell zu bezeichnen sind. So sehr es auch befremden mag: selbst noch im Krieg findet eine Begegnung zwischen Völkern statt. Man tut dennoch gut daran, innerhalb dieser großen Klammer zu differenzieren. In diesem Sinne waren die Unterschiede von einerseits strikt interkulturellen Beziehungen und andererseits internationalen, taktischen Beziehungen herauszuarbeiten.
Gemessen an dieser ersten Textgruppe hat die zweite mehr mit Kultur und weniger mit Krieg und deshalb auch weniger mit internationalen Problemen und Taktiken zu tun. Sowohl bei Goll als auch, wie wir später sehen werden, bei Houellebecq stehen primär kulturelle Aspekte im Blick, die sich überdies auf einem binnenpolitischen Feld abtragen. Es handelt sich hierbei – wenn man so will – um national-interkulturelle Beziehungen. Die Alternative ‚Völkerverständigung oder Krieg‘ kommt dabei nicht länger zum Austrag. Stattdessen steht die kulturelle Unterwanderung durch eine außereuropäische Macht zur Diskussion. Das sind bei Goll die Amerikaner und das ist bei Houellebecq der Islam. In beiden Fällen sieht sich Europa angesichts einer Subversion von außen auf seine eigene Verfallsgeschichte zurückgeworfen.
Golls Roman Die Eurokokke handelt von einem Literaten, der sich in einer persönlichen Sinn-Krise befindet. Um diese zu bewältigen, verabredet er mit seinem Zimmernachbarn so etwas wie einen Testlauf in Sachen Sinnsuche: Kann er an einem Tag, indem er Paris durchwandert, Sinn finden? Der Literat und namenlose Ich-Erzähler durchläuft hierbei mehrere Stationen. Erst verkauft er zum Spottpreis die Bibel, da er glaubt, es fehle Frankreich an Religion. Er ist zwar erfolgreich, aber da er Arbeit und Geld verachtet, will er diese Tätigkeit nicht länger ausführen. Etwas unverhofft findet er sich in eine Kriminalaffäre verwickelt – das ist das zweite Sinnangebot: Sinn qua Abenteuer, ein Modell, das uns in vergleichbarer Weise bereits bei Gracqs Aldo begegnet ist. Dieser Handlungsfaden verläuft sich jedoch und wird durch einen dritten abgelöst, den der Liebe. Auch diese erweist sich nicht als tragfähig. Mit anderen Worten: Glaube, Abenteuer, Liebe – alle Sinnangebote, auf die sich typischer Weise das Individuum beruft, gehen in diesem Roman zu Protest. Indessen beschränkt sich Goll nicht nur auf diesen lebensgeschichtlichen ennui, er unterfüttert ihn mit einer kulturgeschichtlichen Untergangsphantasie. Wie sich bereits zeigte: Untergangsphantasien sind regelmäßig über die Ambivalenz von eigenem kulturellen Ungenügen und Bedrohung durch eine Gegenwelt geprägt. Unschwer lassen sich die weiteren großen Themenfelder des Romans auf diesem Spannungsfeld abtragen. Sie verhalten sich orthogonal zu dem persönlichen Wertekatalog von Glaube, Abenteuer, Liebe und grundieren ihn dennoch.
In kulturhistorischer Hinsicht entwickelt Golls Roman die These, dass Europa den Glauben verloren hat und sich durch einen bis zum Extrem gesteigerten Freiheitsbegriff überfordert. Ich führe hierzu einige Zitate an:
Sie glaubten und hatten keinen Glauben. Europa war ohne Gott, und deshalb war sein Schicksal so schwer.45
Das letzte Zeichen war eingetreten, das letzte Stadium der Zivilisation war angebrochen: die Seele, das Gewissen, der Instinkt und das Bild Gottes waren gemeinsam schadhaft geworden.46
Ein Freund des Erzählers versucht diesen Verlust ins Positive zu wenden, wobei dasselbe Kernproblem durchscheint:
„Die Ideallosigkeit aber bringt uns das höchste Gut auf Erden, zu dessen Erlangung eigentlich sämtliche Ideale der Menschheitsgeschichte aufgestellt worden sind. Nämlich: die Freiheit, die absolute Freiheit… […]. Kommen Sie heute abend in die Bar de la Mort.“47
Um das etwas kompakte ironische Argument aufzulösen: In dem Maße, wie wir uns von (religiösen) Werten und Normen befreien, erlangen wir Freiheit. Aber ist diese Freiheit nicht inhaltsleer gerade deshalb, weil ihre Voraussetzung die Zurückweisung jeglichen Glaubens ist? Die Frage ist: Was wollen wir, wenn uns niemand mehr sagt, was wir sollen?48 Das ist das hausgemachte Décadence-Problem Europas: Es befindet sich in einer geistigen Krise. Dem korrespondiert eine Bedrohung von außen, es ist die Welt Amerikas. Eine Welt der Arbeit, des Konsums, der Technik, die in zunehmendem Maße in das geistig entkräftete Europa eindringt. Beides ergänzt sich. In dem Maße, wie Europa keinen Glauben und keine eigenen Zwecksetzungen mehr hat, hat es dem Ökonomismus Amerikas nichts entgegenzusetzen. Es ist für ihn anfällig, weil es mittels dieses geschäftigen Kreislaufs seine Krise überdecken kann.
Wie unschwer zu erkennen ist, ist das Untergangsszenario bei Goll ganz anders verfasst als bei Gracq. Denn obwohl auch die Bewohner Orsennas vom ennui, von einer geistigen Leere befallen sind, ist ihr Untergang primär wirtschaftlicher, politischer Natur. Orsenna vernachlässigt den Außenhandel genauso wie seine Außengrenzen. Es ist eine sterbende Ökonomie, eine Nation im Niedergang. Ganz anders ist Golls Europa verfasst: Es befindet sich nicht in einer wirtschaftlichen, sondern in einer geistigen Krise.
Ganz anders ist deshalb der Vektor der Untergangsphantasien hier und dort gerichtet. Orsenna schläft einen traumlosen Schlaf – und wenn es erwacht, entwickelt es Phantasien von vergangener Größe. Es wird zielgerichtet aktiv, wenn auch in traumwandlerischer Weise. Komplementär hierzu verhält sich die Grundgeometrie von Traum und Phantasie bei Goll.
Ich bin aufgewacht aus einem Traum, der sich hinter mir schloß wie ein vergoldetes Gittertor. Vertreibung aus dem Paradies […]. Und plötzlich fällt man in die Falle der Welt, ertrinkt in der Wirklichkeit. – Die Stille der Nacht ist so groß, daß man die Maschinen des Sternenraums arbeiten hört.49
Das ist eine zutiefst gegenläufige „Untergangsphantasie“. Sie ist nicht sachhaltig, sie antizipiert nicht den eigenen Untergang, sondern setzt den Mangel an Träumen, an Phantasie mit dem Untergang gleich. Diese Struktur ist uns bereits bei Céline begegnet, wobei sie hier und dort konträr besetzt ist. Als Verlust der Werte und des Glaubens hier, als Unfähigkeit, sich den eigenen Tod vorzustellen, dort.
Ganz anders ist nicht zuletzt die Konfliktstruktur mit dem Anderen aufgebaut. Während Orsenna seine verlorene Größe wiederzugewinnen versucht, indem es einen Krieg anzettelt, erwacht Golls Protagonist in einer technifizierten, amerikanisierten Welt. Während aus Untergangsphantasien unter dem Vorzeichen nationalen Verfalls Kriege entstehen (können), verlaufen in einer globalisierten Welt die Konfliktstrukturen weicher. Über den Weg einer Infiltration von Technik, Ware und Geld.
Goll hat hierfür eine treffende Metapher gefunden, die der Eurokokke. Die Eurokokke ist – die Wortbildung deutet darauf hin – ein Bazillus: Die europäische Krankheit. Sie hat, wie wir erfahren, bereits Notre Dame befallen. Die Steine der Kathedrale werden bis ins Mark hinein schwarz, sie verlieren Gehalt und Gewicht, werden porös wie ein Schwamm. Im Grunde existiert Notre Dame nur noch in unserer Vorstellung. Die Eurokokke macht auch vor Büchern nicht halt – mit ähnlicher Wirkung:
Das Buch, das die Werke eines unserer größten Klassiker enthalten hatte, war seines geistigen Gehaltes vollkommen entleert.50
Selbst der Erzähler ist von der Eurokokke infiziert. Der ganze ennui, sein Lebensunmut, -ekel und -überdruss hat eine einzige Ursache: Er leidet unter der europäischen Krankheit. Als er einen Freund fragt, ob es nicht ein Gegenmittel gegen die Eurokokke gäbe, so wie gegen andere Krankheiten auch, ob man es nicht vielleicht mit dem Amerikoon versuchen könne, antwortet dieser:
Das Amerikoon kennen wir längst. Es ist ein Quacksalbermittel. Es ist ein buntes aufgeklebtes Plakat auf die zerfallenden Klostermauern von Paris.51
Ein Plakat, Werbung, Konsum. Aber auch, wie wir später erfahren: Gold und Arbeit. All das, was sonst im Roman lose, sentenzenhaft verteilt ist, Goll fasst es im Motivkreis der Eurokokke nochmals zusammen.
Nicht zuletzt findet im Umfeld des Eurokokken-Motivs so etwas wie eine interkulturelle Begegnung statt. Denn diagnostiziert wird die Eurokokke von einem amerikanischen Chemiker, der – und das ist, wie wir mittlerweile wissen, die Einstiegsformel für interkulturelle Begegnungen – langjährig im fremden Land lebt, um in diesem Fall „den Bazillus zu suchen, an dem Sie gerade kranken.“52 Auch wenn der Bildvorrat unterschiedlich ist, nachgerade deckungsgleich verhält sich der amerikanische Chemiker zu dem Gesandten aus Farghestan. Hier wie dort stellt ein Vertreter der fremden Kultur der eigenen Kultur die Verfallsdiagnose. So selbstbezüglich Untergangsphantasien auch sind, sie bauen an prominenter Stelle den Blick des Anderen mit ein, um so das Unbehagen an der eigenen Kultur durch eine Diagnose von außen abzusichern.
Obwohl die Metapher der Eurokokke historisch auf den Motivvorrat der Décadence-Literatur zurückverweist – sie stiftet eine Beziehung zwischen Décadence und Krankheit –, bezeichnet sie ziemlich genau die Mechanismen, unter denen wir heute leben. So ist zumal in der Eurokrise die Ansteckung eine der Zentralmetaphern. Man hat Angst vor Ansteckung weiterer Länder, wenn Griechenland aus dem Euro ausscheidet, aber auch davor, dass der Aufstand der Griechen gegen die „Troika“ ansteckend wirken könne. Zugleich versichert man uns, dass die griechischen Banken weitgehend isoliert oder aber auch in Quarantäne genommen seien.
Anders als die nationalstaatliche Welt ist die globalisierte nicht vorrangig von Kriegen geprägt, sondern von viralen Beziehungen. Diese Viralität prägt nicht nur die Dynamik der Krisen, sondern auch produktivere Beziehungen – man denke etwa an das Konzept des viralen Marketings. Technisch setzt Viralität eine hochentwickelte, durchlässige, im Idealfall netzartige Infrastruktur voraus, interaktionslogisch basiert sie auf Vertrauen. Vertrauen oder Misstrauen der Märkte, Vertrauen in einen Kunden, der ein Produkt bereits gekauft hat, Kalküle und Spekulationen aber auch darauf, wem die anderen Marktteilnehmer vertrauen werden. Damit haben wir es neben dem interkulturellen Verstehen und dem internationalen taktischen Verhandeln mit einem dritten Regulativ zu tun. Dieses ist irreduzibel: Das Vertrauen gleichwelcher crowd kann man sich weder durch interkulturelles Verstehen noch durch internationale Verhandlungen verdienen. Die Märkte – und das sind die Agenten der Eurokrise – beobachten die Regierungen und sie beobachten sich darüber hinaus gegenseitig.
Es ist unbenommen, dass Goll solch ausgefeilte Modelle von Viralität nicht vorhergesehen hat. Es lohnt dennoch, sein surrealistisches Unbehagen zur Einordnung Agambens heranzuziehen. Zu verzeichnen ist zuvörderst, dass beide mit demselben Grundbefund operieren. Sie sehen beide die europäische oder aber auch nur die romanische Lebensart durch eine Verselbstständigung der Arbeit, durch einen Ökonomismus, für den Amerika beispielhaft einsteht, bedroht. Insofern ist die amerikanophobe Haltung Agambens alles andere als neu. Neu ist, dass Agamben/Kojève sie auf Deutschland projizieren. Das mochte bei Kojève in der Nachkriegszeit Sinn machen. Unter dem Vorzeichen einer durchweg globalisierten Welt, nachdem Deutschland als einer der Hauptakteure den Rettungsschirm aufgespannt hat, erscheint diese Projektion etwas fragwürdig.
Nicht zuletzt ist Golls Ansatz in einem entscheidenden Punkt differenzierter als der von Agamben. Goll sieht nicht nur eine äußere Bedrohung, sondern auch eine innere: Europa hat seinen Glauben verloren. Agamben ist ein diesbezügliches Krisenbewusstsein abhandengekommen. Ihm gilt die romanische Lebensart – und was ist das anderes als ein zur Lebensart verflachter Katholizismus? – als Hort kultureller Identität. Aber stellt er damit nicht die Begründungsverhältnisse auf den Kopf? Um hierzu ein wenn auch etwas kurioses Beispiel anzuführen: Eine deutsche Sekte aus der Reformationszeit, die Amischen, wanderte nach Amerika aus. Sie haben bis heute keine Fernseher, keine Handys, keine Autos, sondern fahren nach wie vor mit der Kutsche. Man kann also selbst als Deutscher selbst in Amerika selbst im Geiste der Reformation sich dem amerikanischen Ökonomismus entziehen und so seine Lebensart bewahren, sofern man nur gläubig genug ist. Mit anderen Worten: der Glaube bietet eine robuste Identität. Weniger robust ist die gemeinsame Vergangenheit, auf die sich Agamben bezieht. Sie hat allemal etwas Museales. Agamben beklagt solche Musealität, er versucht sie zu umgehen, indem er die Lebensart beschwört. Aber wird eine Kathedrale nicht bereits dadurch museal, dass man sie besichtigt, statt in ihr zu beten? Wie stark kann, anders gewendet, eine vom Katholizismus geprägte Lebensart sein, wenn man nicht mehr glaubt bzw. der Glaube im laizistischen Staat zur Privatangelegenheit geworden ist? Und warum bezieht sich Agamben überhaupt auf die katholische Identität? Ist zumal das moderne Europa nicht vorrangig durch den Geist der Aufklärung geprägt? Goll und, wie wir sehen werden, Houellebecq werten anders: Sie sehen in der Aufklärung nicht nur den Erfolg, sondern auch die Krise Europas begründet.
Gemessen hieran stellt sich die Frage, ob wir es bei Agamben mit einer vollumfänglichen Untergangstheorie zu tun haben. Sie besitzt sicherlich einige Elemente einer Untergangstheorie, aber wenn man die bisher behandelten Texte als Maßstab anlegt, ist zu verzeichnen, dass ihr ein wesentliches Element fehlt: das der Selbsthinterfragung der eigenen Kultur, das Bewusstsein eigener Unzulänglichkeit.
Michel Houellebecq: Soumission (2015)
Ein Satz vorneweg: Houellebecq reüssierte als Autor mit dem Roman Extension du domaine de la lutte, in dem er gegen die ‚Ideologie‘ der 68er Stellung bezog. Er läuft ein Stück weit diesem Erfolg hinterher, wie er in mehr oder minder verdeckter Form selbst einräumt. Ohne die Diskussion allzu sehr vertiefen zu wollen: In formaler Hinsicht ist auffällig, dass Houellebecq das einmal entwickelte erzählerische Kernformat im Folgenden lediglich mit unterschiedlichen Themen ausstattet, ohne hierbei zu einer nennenswert neuen Form zu finden. Im Grunde haben wir es mit immer derselben Geschichte zu tun: Ein Erzähler, der an den Werten der Aufklärung zweifelt, befindet sich in einer beruflichen Krise, die durch eine gesellschaftliche Krisensituation grundiert ist. Damit ist es dem Erzähler erlaubt, sowohl die Kritik an der (französischen) Gesellschaft vorzutragen, als auch unter ihren Bedingungen zu leiden. In seinem Leiden wird er zur Figur, mit anderem Worten: seine oder aber auch Houellebecqs Kritik an der Aufklärung wird erzählbar.
Indessen tut man gut daran, zwischen Plot, Erzählanlage und Narrativ zu unterscheiden. So schablonenhaft die Erzählanlage bei Houellebecq auch ist, vergleichsweise originell oder aber auch nur unorthodox tagesaktuell sind die Themen, die er jeweils verhandelt. Beginnend mit seiner Kritik an der 68er Generation, die freien Sex predigte, weitet er diese Kern-Problematik in unterschiedliche Themenfelder aus: Les particules élémentaires behandeln die Abschaffung des Sexes zugunsten der Gentechnik, Plateforme provoziert mit neokolonialistischen Vorstellungen einer so freien wie zugleich käuflichen Liebe in Thailand, der Roman La possibilité d’une île prolongiert die Abschaffung des Sexes zugunsten einer bereits in den Particules élémentaires anklingenden gentechnischen Dystopie. In La carte et le territoire schließlich greift Houellebecq das Thema des Tods des Autors auf – wenn auch weniger originell, da mit beträchtlicher zeitlicher Verspätung.53 Nicht zuletzt handelt Houellebecqs neuester Roman Soumission von einer Übernahme Frankreichs durch den Islam. Wie sich an dieser kleinen Überschau zeigt: Alle Romane Houellebecqs thematisieren, insofern sie aufklärungskritisch positioniert und deshalb nicht fortschrittsgläubig sind, Verlustängste, Untergangsphantasien im weitesten Sinne. So wie Goll hinterfragt Houellebecq die Grundwerte der Aufklärung – anfänglich zeitnah, in einer Kritik an den 68ern, um sie dann historisch zu vertiefen. Nicht von ungefähr stößt er hierbei auf die Frage der Religion. Ich behandle im Folgenden ausschließlich Soumission. Gemessen an den anderen Romanen ist Soumission die prononcierteste Untergangsphantasie, einfach deshalb, weil Houellebecq in ihr erstmals interkulturelle Beziehungen in den Blick nimmt.
Soumission handelt von folgender Geschichte aus dem Jahr 2022: Bei den Präsidentschaftswahlen liegen die Muslimbrüder mit dem Front national gleichauf. Die Linke sieht sich vor die Alternative gestellt, im 2. Wahlgang entweder dem Front national oder den Muslimbrüdern zum Sieg zu verhelfen. Sie entscheidet sich für die Muslimbrüder, weil sie nichts mehr als den Vorwurf des Rassismus fürchtet. Um dem zu entgehen, aber auch um den Front national zu verhindern, opfert sie selbst den Laizismus und stimmt einer Islamisierung des Bildungswesens zu. So skurril und unwahrscheinlich das Szenario ist – der Anteil der Muslime in Frankreich liegt bei ca. 8 % –, es hat sein historisches Vorbild in der Wahl von 2002, als der Kandidat der Linken (Lionel Jospin) im 1. Wahlgang nur an dritter Stelle hinter dem rechtskonservativen UMP (Jacques Chirac) und dem Front national (Jean-Marie Le Pen) lag. Um den Front national zu verhindern, sah sich die Linke seinerzeit gezwungen, in der Stichwahl den Kandidaten der bürgerlichen Rechten zu unterstützen. Houellebecq wendet diese historisch-ideologische Konstellation ins Interkulturelle. Das nachgerade Perfide seiner Konstruktion besteht darin, dass er der Linken nicht die gute Wahl zwischen den gemäßigten Konservativen und der extremen Rechten, sondern die schlechte Wahl zwischen einer nationalen und einer religiösen Rechten lässt. Damit hat er zumindest in der Fiktion nicht nur seinen Erzfeind, die Linke, überfordert und entsorgt, sondern auch die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln geschlagen.54
Stellung beziehen, zurechtfinden muss sich in dieser prekären politischen Lage ein Ich-Erzähler namens François. Er ist ein Literaturprofessor, der über die Literatur der Décadence (insbesondere Huysmans) forscht, sich in einer geistigen Krise befindet und trotz häufiger einschlägiger Kontakte zu jungen Studentinnen wohl auch in einer sexuellen. Als nach der Wahl das Bildungswesen islamisiert wird, legt man ihm nahe, bei Beibehaltung seiner Bezüge die Universität zu verlassen – und versucht dennoch, ihn zurückzugewinnen. Falls er zum Islam konvertiert, bietet man ihm die Verdreifachung seines Gehalts sowie die Zuführung dreier junger Muslima. Wie Houellebecq-Leser wissen, kann ein Houellebecq’scher Protagonist sich solchen Offerten kaum entziehen. Die Geschichte endet nichtsdestoweniger im Konditional, mit der Möglichkeit eines zweiten Lebens unter den Gesetzen des Islam.
Bevor diese Position im Detail zu bewerten ist, scheint es dienlich, sie in den bereits erarbeiteten Interpretationsrahmen einzuordnen.
So wie jegliche Untergangsphantasie entwickelt Houellebecqs Soumission ein breites Szenario eigener Unzulänglichkeit. Die wissenschaftliche Krise des Professors, seine sexuelle, und nicht zuletzt das politische Versagen der Linken gegenüber dem Islam.
Die fremde/feindliche Kultur ist als ein Ausweg aus der eigenen Misere kodiert. So konträr das Motiv im Einzelnen auch ausgeprägt sein mag – Célines Bardamu paktiert mit dem Gegner, um nicht zu sterben, Gracqs Aldo ist des Gegners bedürftig, um der eigenen Décadence zu entkommen. Der Erzähler bei Goll übernimmt von der fremden Kultur immerhin die Diagnose seiner Krankheit, Houellebecqs François bewältigt mit ihr seinen universitären Lebensüberdruss –, regelmäßig bietet die fremde Kultur ein Lösungsangebot zur Behebung der eigenen Krise.
Nicht zuletzt besitzt die Untergangsphantasie Houellebecqs eine ähnliche Mechanik wie die Goll’sche. Sie ist viral und reflektiert damit das Gepräge von Untergangsphantasien in einer globalisierten Welt. Da diese durchlässig ist, stellt sich der Untergang schleichend ein, als Einsickern von Geld und, damit verbunden, als Einsickern der amerikanischen Lebensart; als Aufwuchs der islamischen Bevölkerung, als demographischer Kollaps, den Houellebecq immerhin dahingehend relativiert, dass er ihn mit einem Kollaps des Wahlsystems kombiniert.55
So wie bei Goll steht bei Houellebecq nicht zuletzt – dieser Punkt ist jedoch gesondert zu behandeln, da er nur diese beiden Autoren betrifft – die Frage nach der verlorenen Religion im Zentrum des Romans.
Instruktiv sind hierfür die Einlassungen Houellebecqs in einem Spiegel-Interview.56 Der Roman sollte ursprünglich den Titel Conversion tragen und von der Bekehrung des Schriftstellers Huysmans zum Katholizismus handeln. Erst später bezog Houellebecq den Islam mit ein und änderte den Titel Conversion in Soumission ab. Vermutlich zu Recht: Ein Roman über Huysmans wäre ein vergleichsweise akademischer, historischer Roman geworden. Wie zu unterstellen ist: Der Erfolgsautor und Provokateur Houellebecq weiß nur zu genau, dass man mit einem solchen Roman keine gesellschaftliche Debatte befeuern und deshalb auch keine Bücher verkaufen kann. Deshalb verlagert er die Décadence-Problematik in ein aktuelles Problemfeld und verbindet es mit diesem.
Diese konzeptionelle Wendung macht das Unschlüssig-Schlüssige des Romans aus. Unschlüssig ist der Roman, weil man zumal nach der Aufklärung eine Bekehrung nicht durch eine Unterwerfung, durch einen erzwungenen Glauben ersetzen kann. Cuius regio, eius religio – das sind Regularien, die allenfalls bis zur Frühen Neuzeit heraufreichen –, so unübersehbar auch Houellebecq auf das alte Paradigma zurückgreift, um es mit modernen, demokratischen Regeln ironisch auf den Kopf zu stellen: Es sind die Zuwanderer und nicht länger die Herrscher, die das Gesetz der regio und damit der religio bestimmen. Nach der Aufklärung sind Bekehrungen auf dem Wege gleich welcher Unterwerfung nicht mehr darstellbar. Durchaus in diesem Sinne hat die Konversion des Erzählers etwas Halbherziges. Sie ist der Sache nach den Interessen der Karriere und des Sexes geschuldet. Auf derselben Linie liegt, dass die Ausgangsfrage des Romans – wieso hat sich Huysmans zum Katholizismus bekehrt? – in vergleichbar oberflächlicher Weise gelöst wird. Die Rede ist lediglich von halbklösterlichen Lebensumständen bzw. davon, dass das Keuschheitsgebot leichter zu ertragen ist als gedacht, wenn Frauen fehlen. Demgegenüber bleiben sachhaltige Gründe für die Bekehrung weitgehend unausgeführt. Sie wird mit dem Verweis auf einen Kritiker erledigt, der Huysmans’ Roman A rebours mit den Worten kommentierte, dass dem Autor nach diesem Roman nur die Wahl bliebe, Selbstmord zu begehen oder ins Kloster einzutreten.57 Es liegt auf eben dieser Linie, dass Houellebecq das Thema des Romans von der Bekehrung Huysmans’ in die Unterwerfung durch den Islam verschoben hat. Da die Bekehrung undarstellbar ist, wird sie vergleichsweise handstreichartig auf dem Weg der Unterwerfung erzwungen. Gewonnen ist hierbei kaum mehr als eine Religion aus zweiter Hand.58
Es liegt im Zuge dieser uneigentlichen Bekehrung, dass selbst noch die interkulturellen Begegnungen in diesem Roman vergleichsweise verwaschen sind. Damit ist nicht gemeint, dass sie peripher wären. Denn dies ist – wie wir mehrfach gesehen haben – ein allgemeines Merkmal des Untergangsdiskurses: So wie in Golls Roman die Amerikaner kaum vorkommen, so sind auch in Houellebecqs Soumission kaum Araber zu finden. Mit einer Ausnahme: François wird im Zuge seiner Assimilierung zu einem Stehempfang bei den Saudis eingeladen. Man reicht Häppchen und tunesischen Wein. François erfährt am Rande, dass es politische Verwicklungen mit der Regierung gibt, weil der Bildungsminister nicht zum Empfang erscheint. Ansonsten steht er mehr oder minder verloren herum, ohne auch nur ansatzweise ein Gespräch mit einem Saudi zu führen. Gemessen an den interkulturellen Begegnungen, die wir bisher untersucht haben, ist dies die erste, die völlig ins Leere läuft.
Ergänzend/Komplementär zu dieser Szene verhält sich folgende: François ist bei einem Kollegen eingeladen, der als einer der ersten sich auf die neuen Verhältnisse eingestellt hat und zum Präsidenten der Sorbonne arrivierte. Er versucht, François zur Rückkehr an die Universität zu bewegen und ihm die Vorzüge des Islam darzulegen. Zur Sprache kommt dabei zwar die andere Kultur und das Ungenügen der eigenen, aber die Diskussion findet zwischen zwei französischen Professoren statt. Einmal mehr ist die interkulturelle Begegnung verschoben. Derjenige, der die andere Kultur vertritt, ist lediglich ein Konvertit, kein Vertreter der arabischen Kultur, sondern nur ihr Vermittler. Es liegt im Zuge dieser verschobenen interkulturellen Begegnung, dass der neue Präsident der Sorbonne mehr über Nietzsche und über den Begriff der Nation referiert als über den Islam. Was er zu bieten hat, ist einmal mehr und nachgerade im Wortsinn eine Religion aus zweiter Hand: uneigentliche Religiosität im Dienste der Politik.
Unübersehbar spielt Houellebecq mit diesem Nexus von Religion und Macht/Imperium auf Agamben/Kojève an –
Le principal axe de sa [i.e. Ben Abbes] politique étrangère sera de déplacer le centre de gravité de l’Europe vers le Sud; des organisations existent déjà qui poursuivent cet objectif, comme l’Union pour la Méditerranée. Les premiers pays susceptibles de s’agréger à la construction européenne seront certainement la Turquie et le Maroc […]. Parallèlement, on peut penser que les institutions de l’Europe – qui sont à l’heure actuelle tout sauf démocratiques – vont évoluer vers davantage de consultation populaire […].59
– auch wenn er die Verhältnisse satirisch verzerrt. Während Organisationen wie die „Union pour la Méditerranée“ – so andernorts in direkter Anspielung auf Kojèves „lateinische Reich“ – einen Verbund demokratischer Staaten unter der Führung Frankreichs fordern, ist in Soumission das politische System in Frankreich so schwach, dass es von den Muslimen subvertiert wird. Während Kojève zufolge die Ausbeutung der Kolonien ein wirtschaftliches Gegengewicht gegen die Deutschen bilden sollte, finanzieren in Soumission die ehemaligen Kolonien Frankreich, um die EU zu unterwandern. Im Versuch, der Satellitenrolle in der EU zu entkommen, wird Frankreich zu einem Satelliten der Scheichs.
Vollends deutlich wird die Ironie der Houellebecq’schen Konstruktion, wenn man sie sachhaltig bewertet. Die Araber besitzen Geld und Religion. Gemessen hieran kann Agamben nur mit einer doppelten Bankrotterklärung aufwarten: Da es dem „lateinischen Reich“ an Wirtschaftskraft fehlt, verteufelt er den Ökonomismus zugunsten einer Religion, an die man im Grunde nicht länger glaubt.
Nicht zuletzt zeigt sich die Fragwürdigkeit solcher Reichskonstruktionen. Sie deutet auf die theologisch-politische Realsatire hin, die bereits bei Kojève zu verzeichnen ist. Kojève unterscheidet zwischen drei Gruppen theologischer Zugehörigkeit: Die romanischen Länder sind katholisch, die angelsächsischen und die germanischen sind protestantisch, die slawischen sind orthodox. Da ihn jedoch nach den nordafrikanischen Kolonien gelüstet, vertritt er die Auffassung, auch der Islam gehöre zu dieser Religion. In vergleichbarer Weise stößt sich Agamben nicht daran, dass Griechenland orthodox ist und nicht einmal die lateinische Schrift verwendet. Sicherlich: Griechenland ist die Wiege der Demokratie, die arabische Kultur hatte Einfluss auf die Scholastik. Aber geht es nicht vielmehr darum, dass man je nach politischer Interessenlage den eigenen Kriterienkatalog erweitert, kaum dass man ihn aufgestellt hat?
Das Fundament solcher Beliebigkeit besteht darin, dass man sich auf eine Religion beruft, an die man nicht länger glaubt. Kojève benennt in aller Offenheit den Widerspruch: „Vor allem sind diese [Nationen] katholisch, auch wenn sie „antiklerikal“ sind.“60 Damit basiert das lateinische Reich auf einem Fundament, auf das man sich stützen und das man zugleich draußen halten will. Der Katholizismus wäre als sogenannte Lebensart Basis des Imperiums, jedoch keineswegs Reichskirche oder Staatsreligion, was jedoch Kojève zufolge nicht heißt, dass man selbst auf den Kirchenstaat, auf den Vatikan machtpolitisch zudringlich zugehen müsste: „Vor allem müßte man den Vatikan ‚entitalianisieren‘ – ohne ihn allerdings zu einseitig amerikanischen Einflüssen auszuliefern.“61 In aller Unschuld setzt Kojève hinzu, dass man hierbei zugleich dafür Sorge tragen müsse, dass der Vatikan „sein Mißtrauen […] gegenüber der französischen Kirche überwinden muß […].“62 Agamben ist nicht weniger zimperlich. Er schanzt Frankreich zwar die Führungsrolle zu. Als kulturelles Leitbild dient ihm jedoch vorrangig die Renaissance, also nach der Antike die letzte Blütezeit der italienischen Kultur. Dass Frankreich sich selbst über die Klassik, über Aufklärung und Revolution definiert, berücksichtigt er nicht.
Ob solche hybriden – und im Kern egoistischen – Konstrukte tragfähig genug sind, um eine Reichseinheit zu begründen, ist zu bezweifeln. Unabhängig davon zeigt sich, wie religionsaffin Untergangsphantasien sind. Während Iwan Goll den Religionsverlust mit Untergang gleichsetzt, soll bei Agamben und Houellebecq eine zur Lebensart reanimierte bzw. eine importierte Religion den Untergang abfedern. Man mag hinzusetzen: selbst bei Agamben. Denn obwohl es Agamben, wie er später einräumt, um ein Europa der unterschiedlichen Kulturen geht – wie hätte er dieses Europa begründen sollen ohne Bezug auf den Katholizismus? Das macht Kojève für Agamben so attraktiv. Dass solche politischen Theologien63 riskant sind, dass der Erfolg Europas darauf beruht, sie überwunden zu haben, ist eine zweite Sache.
Über die Möglichkeit: Zur Diskursform von Untergangsphantasien
In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung räumt Agamben ein, dass der Verweis auf Kojève eine journalistische Zuspitzung gewesen sei. Insofern scheint es etwas unfair, ihn hiermit allzu sehr zu konfrontieren. Und dennoch: Auffällig ist, dass Agamben in seinem Artikel die Sache nie beim Namen nennt. Er behauptet, Kojève sei aktuell, aber in welcher Hinsicht? Er meint offensichtlich die Währungskrise, ohne es zu sagen, aus gutem Grund, sonst müsste er über Geld reden. Auch von Deutschland ist namentlich nicht die Rede, sondern nur von einer reichen Nation, die sich in jüngster Vergangenheit nicht unbedingt vorbildlich verhalten hat. Nichts ist gesagt, und alle wissen Bescheid. Im selben Geiste ist der Originaltitel suggestiv im Konditional gehalten: Se un impero latino prendesse forma nel cuore d’Europa.64 Die französische Zeitung Libération übersetzt knapp: Que l’Empire latin contre-attaque! – Agamben distanziert sich in dem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von der französischen Übersetzung und verweist auf den Originaltitel. Wobei sich die Frage stellt, ob der französische Titel nicht ehrlicher, nicht weniger verdruckst ist als der Agamben’sche. Agamben macht ferner geltend, dass ihn die Journalisten, allen voran die deutschen, missverstanden hätten. Er räumt ein, dass zumal die Deutschen eine Kultur mit durchaus interkultureller Ausrichtung besäßen, so etwa bei Winckelmann (!), und fordert ein Europa unterschiedlicher Kulturen.65 Von dem lateinischen Reich ist in dem Interview nicht mehr die Rede, auch nicht von der Führungsrolle Frankreichs, noch weniger von den ökonomistisch-protestantischen Deutschen und deren Kriegsschuld, sondern stattdessen von der Bombardierung Deutschlands durch die Amerikaner. Man reibt sich etwas die Augen. Was wollte Agamben also sagen? Es ist vielleicht müßig, diese Frage zu beantworten, denn hier operiert augenscheinlich jemand, der eine Debatte lostreten will, um dann zu sagen: „Ich war es nicht.“ Das Dementi ist Teil dieses Spiels. Keine Namen nennen, dementieren: In etwa so funktionieren im Übrigen auch die Orsennischen Gerüchte bei Gracq. Mit einem Unterschied: Während der Romancier Gracq die Mechanik des Untergangsdiskurses mit nachgerade analytischer Präzision offenlegt, versucht der Essayist Agamben sie sich zugunsten eigener Zwecke zunutze zu machen.
Im Gegenzug ist darauf zu verweisen, wie der vielgeschmähte Skandalautor Houellebecq seinen Roman beendet. Mit einer schieren Phantasie, mit einem Konditional, mit einer Möglichkeit, die er in Betracht zieht, um vor dem letzten Schritt dann doch einzuhalten. Ganz anders ist der Agamben’sche Konditional gebaut. Agamben beginnt und endet in einem Konditional,66 der alles in der Schwebe hält und die Debatte anderen überlasst – und das heißt im eigentlichen Sinne: sie erst eröffnet.67 Diese Differenz hat auch sachliche Gründe. Während der eine Text vor der Möglichkeit der Unterwerfung einhält, ruft der andere – zumindest in der Lesart von Libération – zur Attacke auf. Zur Sprache kommt hierbei ein Denken, das zwar mit Untergangsdiskursen spielt, im Grundansatz aber über Fortschritt und Befreiung kodiert ist.
Giorgio Agamben, „Se un impero latino prendesse forma nel cuore d’Europa“, La Repubblica, 15. März 2013, 53, http://rassegnastampa.unipi.it/rassegna/archivio/2013/03/15SIQ5029.PDF. Eine furiose Debatte löst dieser Artikel erst nach seiner Übersetzung ins Französische aus, nicht zuletzt wegen des zugespitzten Titels: Giorgio Agamben, „Que l’Empire latin contre-attaque!“, Libération, 24. März 2013, www.liberation.fr/monde/2013/03/24/que-l-empire-latin-contre-attaque_890916.↩
Alexandre Kojève, „Das lateinische Reich: Skizze einer Doktrin der französischen Politik“ [1945], Tumult 15 (1991): 92–122. – Die französische Erstfassung (Esquisse d’une doctrine de la politique française) befindet sich im Archiv der Hoover Foundation. Sie wurde erstmals 1990 in der von Bernard-Henri Lévy gegründeten Zeitschrift La Règle du Jeu unter dem Titel L’Empire Latin publiziert. Auf diesem Text basiert die Übersetzung von Helmut Kohlenberger und Walter Seitter in der Zeitschrift Tumult. – Zur Esquisse Kojèves, ihrer politischen Bedeutung in der französischen Nachkriegspolitik und ihrer Publikation durch B.-H. Lévy im Gefolge der deutschen Wiedervereinigung, vgl. Wolf Lepenies, Die Macht am Mittelmeer: französische Träume von einem anderen Europa (München: Hanser, 2016), 15–32, 69–70.↩
Vgl. Agamben, „Que l’Empire latin contre-attaque“. In ähnlicher Weise argumentiert in seinem Gefolge Max A. Höfer, „Siempre la Siesta: Südeuropa fühlt sich und die lateinische Lebensart bedroht. Absurd ist das nicht“, Der Spiegel, Nr. 26, 2013, 128–9.↩
Zur Diskussion steht an dieser Stelle, ob und in welchem Umfang der Euro der Preis für die deutsche Wiedervereinigung war. Auch wenn die deutsche Seite das dementiert – Recherchen des Spiegel deuten in eine andere Richtung. Die deutsche Regierung hatte demzufolge das Projekt einer Währungsunion eher zögerlich behandelt. Forciert wurde es von Frankreich im Zuge der Wiedervereinigung, vgl. Michael Sauga, Stefan Simons und Klaus Wiegrefe, „Der Preis der Einheit“, Der Spiegel, Nr. 39, 2010, 34–8. – In dieselbe Richtung deutet, dass Hartwährungsländer wie die Schweiz oder England dem Euro nicht beigetreten sind.↩
Agamben, „Que l’Empire latin contre-attaque!“ – Das „que rien ne permet […] de considérer comme exemplaire“ ist fraglos eine unzulässige Untertreibung. Andererseits ist darauf hinzuweisen, dass Deutschland sich nach 1945 als stabiler demokratischer Staat erwiesen hat. Der mediterrane Raum erwies sich demgegenüber bis herauf in die Mitte der 1970er Jahre als ein Hort rechter Diktaturen. So namentlich in Spanien, Portugal und Griechenland. Man müsste solche im Grunde fragwürdigen Gegenrechnungen nicht aufstellen, wenn Agamben nicht mit ihnen aufwarten würde.↩
Zu besichtigen sind an dieser Stelle die intellektuellen Kollateralschäden, die genau dann entstehen, wenn man das linke Projekt, das gegen die Ausbeutung der Arbeiter gerichtet war, in ein nationales umzumünzen versucht. Die Ausbeutung der Arbeiter gibt es nach wie vor. Sie ist in ihrer globalen Ausprägung eine Herausforderung westlicher Wirtschaftsform. Agamben blendet dieses Problem aus, um dann von den reichen Deutschen zu reden.↩
Agamben, „Que l’Empire latin contre-attaque!“↩
Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Vortrag, der im Rahmen einer öffentlichen Ringvorlesung zum Thema Europäische Kultur(en)gemeinschaft: Europa in den Perspektiven seiner Länder am 20. Mai 2015 an der Universität Kassel gehalten wurde.↩
In einem Interview mit der FAZ korrigiert sich Agamben dahingehend, „Giorgio Agamben im Gespräch: die endlose Krise ist ein Machtinstrument“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Mai 2013, www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten/giorgio-agamben-im-gespraech-die-endlose-krise-ist-ein-machtinstrument-12193816.html.↩
Iwan Goll, Die Eurokokke [1927] (Göttingen: Wallstein, 2002), 73.↩
Goll, Die Eurokokke, 67.↩
Namentlich ist damit Célines Voyage au bout de la nuit adressiert. Texte dieses Formats sind schon deshalb in die Betrachtung miteinzubeziehen, weil sie trotz aller Zurückweisung der kulturell-politischen Sphäre diese zumindest noch adressieren. Untergangsphantasien rein privater Natur – so es solche überhaupt gibt – sind gemessen hieran ein gänzlich anderes Thema.↩
An dieser Stelle wird kenntlich, dass die vorstehende Zuordnung historisch etwas schematisch ist. Von einem Altern der Kultur redet bereits Hegel. Zu verweisen wäre ferner auf den Kontrast von Anciens et Modernes, von naiver und sentimentalischer Dichtung.↩
Melancholia ist apokalyptisch einfach deshalb, weil in diesem Film ein fremder Planet mit der Erde kollidiert. Es ist eine zweite Sache, dass Melancholia im ersten Hauptteil mit einer Hochzeit sowie mit der Depression der Protagonistin und Braut auch eine gesellschaftliche Dimension setzt. Der Antikriegsfilm Apocalypse Now wartet demgegenüber in der ersten Hauptsequenz mit einem Trupp mehr oder minder dekadenter Vietnamsoldaten auf, um uns im Schlussteil mit einem von einem desertierten GI gegründeten pseudoreligiösen Gegenstaat zu konfrontieren. Décadence, gesellschaftlicher Verfall, Religionsverlust und Pseudoreligion sind, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, zumal bei Goll und Houellebecq Kernmotive von Untergangsphantasien.↩
Entscheidend allerdings ist: Im Krieg hat man nicht länger Untergangsphantasien, sondern Untergangserfahrungen.↩
Vgl. Louis-Ferdinand Céline, Voyage au bout de la nuit, hrsg. von Stéfan Ferrari (Paris: Gallimard, 2006), 24.↩
Céline, Voyage au bout de la nuit, 24.↩
Céline, Voyage au bout de la nuit, 24.↩
Das erste Kapitel handelt von einer betont widersprüchlichen Diskussion über Ideologie und praktisches Verhalten in der Politik sowie davon, dass Bardamu sich entgegen seiner politischen Überzeugung leichtfertiger Weise als Freiwilliger einem vorbeiziehenden Regiment anschließt.↩
Céline, Voyage au bout de la nuit, 16.↩
Céline, Voyage au bout de la nuit, 16–7.↩
Vgl. ausführlicher hierzu Franziska Sick, „Schock, Trauma und Verletzung“, in Epochale Psycheme und Menschenwissen: von Montaigne bis Houellebecq, hrsg. von Heinz Thoma und Kathrin van der Meer (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007), 151–68, hier 157–8.↩
Céline, Voyage au bout de la nuit, 22–3.↩
Céline, Voyage au bout de la nuit, 75.↩
So provokant das Argument Princhards ist, so weitsichtig ist es zugleich. Der Adel hatte ein gemeinsames Interesse, das unter anderem auch in Eroberungen bestand. Für Nationen und zumal deren Bevölkerung gilt dieses Interesse nur in sehr eingeschränktem Maße. Schwer vermittelbar ist deshalb das Konzept der allgemeinen Wehrpflicht, mit dem Nationen operieren. Moderne Demokratien haben dies verstanden. Man führt Bombenkriege, Drohnenkriege mittels einer Armee, die aus Freiwilligen besteht, die überdies – so etwa im amerikanischen System – durch genuine Söldner unterstützt werden. Man nennt diese genuinen Söldnerheere etwas beschönigend ‚Sicherheitsfirmen‘.↩
Céline, Voyage au bout de la nuit, 73.↩
Céline, Voyage au bout de la nuit, 79.↩
David Engels, Auf dem Weg ins Imperium: die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik. Historische Parallelen (Berlin: Europa Verlag, 2014).↩
Kojève, „Das lateinische Reich“, 103.↩
Julien Gracq, Le rivage des Syrtes (Paris: José Corti, 1951), 227: „‚La guerre s’est assoupie; il n’est pas excessif même de dire qu’elle semblait dormir tout à fait.‘“↩
Gracq, Le rivage des Syrtes, 212.↩
Gracq, Le rivage des Syrtes, 235–7.↩
So ist das letzte Kapitel des Romans überschrieben; Gracq, Le rivage des Syrtes, 277.↩
Gracq, Le rivage des Syrtes, 309.↩
Gracq, Le rivage des Syrtes, 200.↩
Gracq, Le rivage des Syrtes, 235.↩
Obwohl Agamben uns eine ganz andere Geschichte erzählt, stellt sich die Frage, ob die von ihm beschworene romanische Lebensart sich überhaupt definieren ließe, wenn es nicht den Protestantismus gäbe. In dem Maße, wie der Katholizismus im lateinischen Reich nur noch eine Form der Lebensart bezeichnet, kann das lateinische Reich seine Identität nur noch darüber definieren, dass es sich auf eine ihm fremde Lebensart bezieht. So besehen halten wir an dieser Stelle am selben Problem wie Gracq: Was wäre Orsenna ohne Farghestan, was wäre das lateinische Reich ohne den Protestantismus?↩
Gracq, Le rivage des Syrtes, 93.↩
Man hat im Übrigen eben diese Formel im Westdeutschland der 1960er und 1970er Jahre gegenüber linken Kritikern von Staat und Gesellschaft verwendet: „Gehen Sie doch rüber!“↩
Vgl. Gracq, Le rivage des Syrtes, 235.↩
Gracq, Le rivage des Syrtes, 226.↩
Gracq, Le rivage des Syrtes, 225–7.↩
Der Abgesandte weist dies zurück, versucht es zu vermeiden.↩
Gracq, Le rivage des Syrtes, 237.↩
Goll, Die Eurokokke, 23.↩
Goll, Die Eurokokke, 112.↩
Goll, Die Eurokokke, 139–40.↩
Das ist in der Tat und nicht von Ungefähr eines der Kernprobleme des Existentialismus. Es firmiert bei Sartre unter dem Titel der Wahl.↩
Goll, Die Eurokokke, 5.↩
Goll, Die Eurokokke, 101.↩
Goll, Die Eurokokke, 131.↩
Goll, Die Eurokokke, 97.↩
Barthes’ Essay La mort de l’auteur datiert aus dem Jahr 1968.↩
Das französische System der Stichwahl ist auf den dualistischen Gegensatz von rechts und links ausgelegt. In dem Moment, wo eine dritte Kraft auftritt, kollabiert es.↩
Im Spiegel-Interview mit Michel Houellebecq, „Ich weiß nichts“, Gespräch mit Romain Leick, Der Spiegel, Nr. 10, 2015, 126–35, www.spiegel.de/spiegel/print/d-132040413.html, bezieht sich Houellebecq zwar auf dieses Argument der Rechten, das u.a. Thilo Sarrazin, Der neue Tugendterror: über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland (München: DVA, 2014), entwickelt, der Roman ist dennoch vorsichtiger, ironischer, spielerischer, weil er nicht nur oder nicht primär die demographische Entwicklung, sondern das Scheitern des politischen Systems für die Unterwerfung verantwortlich macht.↩
Houellebecq, „Ich weiß nichts“, 130–1.↩
Joris-Karl Huysmans, „Préface écrite vingt ans après le roman“, in A rebours [1884] (Paris: Gallimard, 2001), 55–76, hier 76: „[…] un seul écrivain vit clair. Barbey d’Aurevilly […] écrivit: Après un tel livre, il ne reste plus à l’auteur qu’à choisir entre la bouche d’un pistolet ou les pieds de la croix.“↩
Man mag hinzusetzen, dass bei Houellebecq bereits der Untergang, die Décadence als eine Untergangsphantasie aus zweiter Hand zu lesen ist. Die neuen Machthaber finanzieren François ein Editionsprojekt zur Herausgabe der Werke Huysmans’ in der edlen Klassiker-Reihe Pléiade. Er wird hierbei Wortlisten erstellen. Bereits dieser Umstand deutet darauf hin, dass wir es mit einer Décadence aus zweiter Hand zu tun haben, auch wenn man in dem Sammeln von erlesenen Wörtern Grundzüge der Décadence wiedererkennen mag.↩
Michel Houellebecq, Soumission (Paris: Flammarion, 2015), 157–8.↩
Kojève, „Das lateinische Reich“, 104.↩
Kojève, „Das lateinische Reich“, 120.↩
Kojève, „Das lateinische Reich“, 120.↩
Kojève bezieht sich ausdrücklich auf Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form [1923] (Stuttgart: Klett-Cotta, 1984).↩
Agamben, „Se un impero latino prendesse forma nel cuore d’Europa“, 53.↩
„Giorgio Agamben im Gespräch“.↩
Agamben, „Se un impero latino prendesse forma nel cuore d’Europa“, 53: „Se non si vuole che l’Europa si disagreghi […], è consigliabile pensare a come la costituzione europea […] potrebbe essere riarticolata, provando a restituire una realtà politica a qualcosa di simile a quello che Kojève chiamava l’Impero latino.“↩
So heißt es im Anschluss an das FAZ-Interview „Giorgio Agamben im Gespräch“ in einer Anmerkung der Redaktion: „Mit seiner Empfehlung, an einen Gedanken Alexandre Kojèves anzuschließen und ein ‚lateinisches Imperium‘ des Südens gegen einen hegemonialen Norden Europas in Stellung zu bringen, sorgt Agamben seit einigen Wochen für Debatten.“↩
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