Ein grenzenloser Albtraum?
Boualem Sansals Dystopie 2084 und ihre mediale Verformung
Juliane Tauchnitz
Boualem Sansal, 2084: la fin du monde (Paris: Gallimard, 2015).
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Sich ein Land vorzustellen, das von einer intransparenten, diktatorischen Macht unterjocht wird, dazu braucht es wenig Fantasie, derer gibt es viele, und ihre Anzahl scheint sich nicht zu verringern. Ein Land hingegen zu denken, das keine Grenze hätte, diese Idee ist schwer vorstellbar. Denn wir hätten es mit einem Territorium zu tun, dessen Ausdehnung so immens, so unfassbar ist, dass es nur noch als weltumspannende Nation verstehbar wäre – wie will man solch ein Abstraktum tatsächlich denken? Und wäre dies nicht schließlich die Negation des Staates im bisherigen Sinne, der durch seine Abgrenzung von anderen Ländern existiert? Neben solchen Gedanken beschleicht einen möglicherweise ein Gefühl der Beklemmung, des Eingeschnürtseins, beruhend auf der Ausweglosigkeit angesichts eines solch totalitaristischen Regimes, das sich über den gesamten Globus erstreckt. Um dieser Situation entkommen zu können, bräuchte es eine überschreitbare Grenze. Was aber, wenn es selbst zu dieser grauenhaften Vorstellung eine Steigerung gäbe? In seinem Ende August 2015 erschienenen dystopischen Roman 2084: la fin du monde1 präsentiert der algerische Autor Boualem Sansal eine solche, indem er jegliche linguistische Vielfalt, sprachliche Wölbungen und Dehnungen, die individuelles Denken ermöglichen und seinen Ausdruck formen, zu vernichten sucht: In der (in seiner topographischen wie ideologischen Extension nicht fassbaren) Nation Abistan gibt es nur noch eine Sprache: Abilang, ein verkümmertes Rudiment expressiver Möglichkeiten. In dieser be- und erdrückenden Atmosphäre entfaltet sich gleichwohl die Hauptfigur Ati von einem dem Kollektiv gefügigen Angehörigen hin zu einem kritischen Individuum, das die Gegebenheit der Machtstrukturen in ihrer Absolutheit in Frage stellt. Ein Individuum, das sucht, was scheinbar verschwunden ist: die Grenze und damit die Perspektive ihrer Überwindung.
Das Buch versprach schon vor seiner Veröffentlichung ein Erfolg zu werden: es wurde als Coup der rentrée littéraire in Frankreich vom Verlag angekündigt, wurde mit einer der begehrten roten Banderolen versehen, die die herausragende Stellung eines Werkes hervorheben und dem Leser Qualität und Bedeutung suggerieren. Bald überschlugen sich die Verkaufszahlen; nach weniger als zwei Monaten vermeldete Le Monde bereits 91.000 verkaufte Exemplare2, inzwischen liegt die Zahl laut Angaben des Verlags bei annähernd 300.000. Zu dem deutlichen Publikumserfolg kam hinzu, dass Sansals Roman auf die Nominiertenliste aller bedeutenden Literaturpreise unseres westlichen Nachbarlandes gesetzt wurde, darunter der prestigereiche Prix Goncourt, der Prix Renaudot oder auch der Grand Prix de l’Académie française. In meinen skizzenhaften Überlegungen möchte ich die damit einhergehenden Reaktionen der Presse sowohl in Frankreich als auch in Deutschland nachzeichnen, möchte hier wiederkehrende Themen ausfindig machen und dies mit ersten eigenen Lektüreansätzen verknüpfen, um so die in den Medien vorherrschenden Perspektiven zu prüfen und zu bewerten.
Eines kann an dieser Stelle bereits festgehalten werden: die Zeitungs- und Zeitschriftenartikel wie auch das Buch selbst verführen den Leser geradezu, sich dem Roman exklusiv unter einem spezifischen Blickwinkel zu nähern.
Es mag auf den Stellenwert des Autors zurückzuführen sein, auf sein Prestige als Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von 2011, dass auch hierzulande bereits im Herbst des vergangenen Jahres verschiedene Beiträge im Print- und Rundfunkbereich dem Erscheinen des Romans gewidmet waren. Dieser Umstand ist umso mehr hervorzuheben, als das Werk in deutscher Übersetzung beim Merlin-Verlag erst im Mai dieses Jahres in den Buchhandel gelangt. Warum wurde im deutschsprachigen Raum bereits die Veröffentlichung eines Romans diskutiert, der einem Großteil der Leser noch gar nicht zugänglich ist? Die Frage stellte sich mir erst allmählich. Angesichts der Fülle an Beiträgen in französischen und frankophonen Medien, angesichts des Wirbels, den sie um dieses Buch erzeugten, erscheint es ja konsequent, dass dieses literarische Ereignis auch in Deutschland diskutiert wird. Auffällig hingegen scheint mir, dass sich beispielsweise weder der Spiegel noch die Zeit zu der Publikation äußerten.
Einer der ersten deutschen Beiträge war ein längerer Kommentar, durchsetzt mit Interview-Passagen, auf Deutschlandradio Kultur am 7. September 20153. Diese Fazit-Sendung ist aufschlussreich, da sie bereits alle Elemente spiegelt, die die Berichterstattung in den Monaten nach Erscheinen des Buches dominieren würden. Betitelt mit „Boualem Sansal, ‚2084‘: düstere Vision einer religiösen Weltdiktatur“, erklärt die Verfasserin Martina Zimmermann zunächst, Sansal möge keine Vergleiche mit dem Autor Michel Houellebecq, eher solche, die ihn mit Albert Camus in Verbindung bringen. Schon diese Einleitung ist bezeichnend, markiert sie doch einen ersten die Berichterstattung beherrschenden Aspekt. Der algerische Schriftsteller musste mit ansehen, wie er in den vergangenen Monaten immer wieder in die Nähe des häufig als enfant terrible kategorisierten Verfassers von Soumission gerückt wurde. Michel Guerrin4 etwa kommt zu dem knappen Schluss, dass Sansal Houellebecq offensichtlich nicht schätzt. Eine gewisse offene Koketterie Sansals lässt sich hierbei vermuten, denn seine in Interviews wiederholte explizite Abgrenzung von Houellebecq verstärkt ex negativo diese Konfrontation. Am 15. September wendet sich Sansal in Le Figaro schließlich direkt an jenen so unliebsamen schreibenden Weggefährten mit einer Lettre à un Français sur le monde qui vient5, um sich ambivalent zu positionieren, zwischen Distanzierung und Anschluss: es wird evident – Sansal inszeniert sich.
Hier nun unterstreicht er ähnlich dem erwähnten Radiobeitrag eine Nähe, ja sogar Überlappung außertextlicher Realitäten und der fiktionalen Geschichte. Denn während der Roman von einem religiös-diktatorischen, vor terroristischen Maßnahmen nicht zurückschreckenden Regime in Abistan handelt, einem Staat mit punktuellen Ähnlichkeiten zu einigen Ländern, jedoch keine unmittelbare lebensweltliche Referenz hat, fragt Martina Zimmermann, ob es radikale Islamisten seien, die dort herrschen.6 Damit findet hier eine sichtbare Überschneidung statt, die aktuelle politische Probleme in den Bereich der Literatur hineinträgt, sie ihr überstülpt und auf diese Weise sowohl ihres schöpferisch-freien Raums beraubt als auch in ihrer nie in Gänze erfassbaren Aussage drastisch verkürzt.
Zugestanden: Die in 2084 entworfene Religion spielt auf den Islam an; ritualisierte Formeln wie „Yölah est grand et Abi est son fidèle Délégué“7 sind leicht als Parodie erkennbar. Im Roman werden solche Sätze nicht als echte religiöse Bekenntnisse formuliert, sondern wirken ironisch, makaber, sinnentleerend, also religionskritisch, freilich im Status der Fiktion und nicht der unmittelbaren und vereinfachenden Kritik an einer Weltreligion.
Die Problematik der direkten Übertragung aus dem fiktionalen Bereich wird zusätzlich durch zwei Aspekte erheblich erschwert. Zum einen durch Boualem Sansals eigene mediale Positionierung; er vermischt in Interviews sein Werk stark mit aktuellem Weltgeschehen und „beschreibt in seinem Roman ‚2084‘ den Totalitarismus einer islamischen Diktatur“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. November 2015 zusammenfasste.8 Auch in dem erwähnten Brief an Michel Houellebecq wird dies manifest. Im September des vergangenen Jahres konnte ich ein eigenes Gespräch mit dem Autor aufzeichnen, hier bestätigte er:
En écrivant ce livre, j’ai pensé évidemment à l’islamisme, à ce qui se passe dans beaucoup de pays arabes, mais pas seulement. En France, en Belgique, après le 11 septembre 2001 – depuis 20 ans, il y a une vague islamiste qui se répand dans le monde, dans tous les pays.9
Damit einher geht jedoch eine weitere, möglicherweise gefährlichere Grenzverwischung: Weder der Schriftsteller in persona in seinen Auskünften gegenüber der Presse, noch der Roman selbst scheinen noch zwischen Islam und Islamismus10 zu differenzieren – und das Beispiel der Frankfurter Allgemeinen zeigt, dass die Presse dies übernimmt. Boualem Sansal begründet diese Gleichsetzung mit einem profunden Wandel, dem der Islam heute unterzogen sei. Einem Wandel in eine
[…] religion des musulmans [qui] devient de plus en plus la religion des convertis. Il [l’Islam] est en train de se transformer. L’islam est en train de changer de forme et de contenu. Parce que ce sont maintenant des jeunes français, des jeunes américains – pas seulement des jeunes, aussi des vieux, de toutes conditions. C’est des cultures différentes qui amènent à l’Islam un regard différent et des problématiques différentes. Ils sont aussi pleins d’enthousiasme, pleins d’énergie. Et ils veulent transformer l’Islam – et l’Islam va se transformer.11
Wenn wir nun diese doppelte Grenzaufhebung – jene zwischen fiktionaler Darstellung und textexterner Realität, als auch zwischen der Religion und ihrer extremistischen Auslegung – bei der Lektüre und Auswertung der Medien-Beiträge über den Roman mitbedenken, dann muss man fragen, inwieweit der Romans im Hinblick auf konkrete aktuelle politische Sachverhalte instrumentalisierbar ist. Wir erleben Sansal in Interviews in Deutschland, aber genauso in französischen Medien als einen ‚engagierten‘ Autor – ist also 2084 eine engagierte Dystopie?
Im Zuge der Debatte wurde leider kaum auf das frühere Romanschaffen des Autors Bezug genommen, beispielsweise auf Le serment des barbares12 oder L’enfant fou de l’arbre creux13; stattdessen betrachtet man ihn zumeist in einer Reihe mit solch scharfzüngigen Essays wie Gouverner au nom d’Allah: islamisation et soif de pouvoir dans le monde arabe14, in dem bereits jene problematische Vermischung von Islamismus und Islam stattfindet. „[Sansal] utilise la littérature pour dire la réalité“, konstatiert Benoît Demas am 10. November 2015 in Le Point Afrique15 und fährt fort: „Avec Gouverner au nom d’Allah, il tentera de confronter les pouvoirs islamiques à leurs gestions. 2084 est une sorte de prolongement romanesque situé dans le futur […]“.16 Mohammed Aïssaoui geht sogar soweit, den Roman im Figaro zur literarischen ‚Illustration des Essays‘ zu erklären.17
Die Deutungsansätze der französischen und deutschen Medien, die bis hierher anzitiert wurden – und darunter fallen sowohl die teils konstruierte Nähe zu Michel Houellebecq, als auch die einseitige Lektüre des Romans im Sinne einer Erklärung islamistischer Akte – lassen ein Übergewicht einer politischen Lektüre von 2084 erkennen. Dies impliziert den Gebrauch des Werkes, der einen interpretatorischen Blick auf das Buch als Literatur verhindert. Trotz dieser Erkenntnis der vereinheitlichenden Grundhaltung in der Lesart des Textes soll angesichts der Fülle der Beiträge, die dem Erscheinen des Romans vor allem in Frankreich gewidmet waren, die mediale Auseinandersetzung mit dem Werk noch etwas differenzierter betrachtet werden. Dafür ist eine diachrone Perspektive aufschlussreich, die wichtige, wenn auch subtile Nuancen in der Behandlung des Themas freilegt.
Man kann im Spätsommer des vergangenen Jahres ansetzen: Bereits vor der Veröffentlichung von 2084 war der Text Gegenstand von Zeitungsberichten. Schon in der Ausgabe vom 25. Juni 2015 druckte die Zeitschrift Lire vorab einen längeren Auszug ab und leitete diesen mit der Beurteilung ein, es handle sich um ein Buch „d’une rage explosive sur le plan littéraire et citoyen“.18 Etwa einen Monat später fand man in Le Point einen kurzen Roman-Auszug.19 Die Erwartung des Buches wurde medial entfacht.
Die Veröffentlichung Ende August 2015 stand noch unter dem Vorzeichen der sich langsam legenden Diskussionen um Houellebecqs Soumission,20 nach dessen Publikation am 7. Januar – jenem ersten für Frankreich blutigen Tag des Jahres 2015, an dem Terroristen das Satire-Magazin Charlie Hebdo überfielen –, der literarische Herbst stand bevor. Das Wochenblatt Marianne stellte am 23. August seine zwölf Lektüre-Favoriten aus 589 für die folgenden Monate angekündigten Büchern vor, darunter Sansals als Meisterwerk bezeichneter Roman.21 Zum Erscheinungstermin glaubte der Journalist Hervé Bertho von Ouest France, im Roman eine Herausforderung für Islamisten zu sehen, denn sie würden sich in jenem philosophischen Märchen wiedererkennen.22 L’Express fasste das Buch gar als „Kampfansage“ auf.23 Man begann, es in eine Reihe mit Soumission zu stellen. Die außertextliche Referenz wurde also von Beginn an unterstrichen.
Gleichzeitig aber wurde schon durch den gewählten Titel die transtextuelle Nähe von 2084 zu George Orwells 1984 betont. Der Roman präsentiert sich nicht als eine dystopische Vision nach Art eines Huxley oder Orwell, sondern stellt sich dezidiert in die Tradition des genannten orwellschen Textes: so wird die Zahl 1984 selbst Gegenstand von Sansals Roman, wird im ersten Teil des Buches aufgegriffen als ein mögliches Entstehungsdatum eines Sanatoriums, in dem die Hauptfigur Ati zu Anfang seine Tuberkulose auskuriert.24 Es handelt sich bei der Klinik weitab der Zivilisation um einen Initiationsort, an dem Ati zum ersten Mal sein bisheriges Leben und seinen Platz in dieser gefängnisgleichen Gesellschaft in Frage stellt. Die explizite kontextuelle Verortung über diese Jahreszahl und eine damit verbundene vorgegebene Lesart werden schließlich am Ende von 2084 rahmend abgesichert, wenn die drei Prinzipien der politischen Ideologie Ingsoc aus Orwells Roman zunächst wörtlich wiedergegeben, dann abgewandelt und in ihrer Transformation ad absurdum geführt werden:
‚La guerre est la paix‘, ‚La liberté c’est l’esclavage‘, ‚L’ignorance c’est la force‘.
wird zu
‚La mort c’est la vie‘, ‚Le mensonge c’est la vérité‘, ‚La logique c’est l’absurde‘.25
Hier wird eine Schwäche des Romans sichtbar: Während die orwellschen Parolen die Leitsätze eines totalitären Überwachungsstaates erfassen, seine erdrückende Enge in Worte übersetzen, scheinen die drei Direktiven in Sansals Roman erstere noch übertreffen zu wollen. Doch gerade das gelingt nicht. Denn liest sich „La mort c’est la vie“ noch wie eine fanatische Anleitung zur Selbstopferung für eine höhere Sache, fügen sich der zweite und der dritte Satz schon nicht mehr ein in die Ideologie von Abigouv, der Regierung Abistans, da diese den Bewohnern ja gerade vorgaukelt, die einzige, logozentrische Wahrheit zu besitzen und nicht etwa Lügen zu verbreiten oder zu glätten. In den drei Motti von 2084 lässt sich somit ein Perspektivwechsel erkennen, vom ideologischen Ausspruch seitens der Regierung hin zur offenen Kritik an derselben. Derlei Brüche lassen sich an mehr als einer Stelle in dem Roman erkennen.
In der Presse jedoch fand eine solche kritisch-interpretierende Auseinandersetzung mit dem Buch kaum statt. Es herrschte offenbar Konsens über die Qualität dieses „roman de la rentrée“.26 Nur wenige Beiträge lasen ihn als literarisches Werk differenzierter. Eine der wenigen kritischen Stimmen war Mohammed Aïssaoui, der im Figaro einen Artikel veröffentlichte, mit der Feststellung einleitend, das Problem mit engagierten Schriftstellern sei, „de savoir s’il faut parler d’engagement ou de littérature“.27 Anschließend bettet Aïssaoui den Roman in einen größeren Kontext ein und fragt schlussfolgernd, ob sich gerade im Maghreb nun die französische Literatur wiederbelebe.28
Eine andere, eher distanzierte Perspektive präsentierte Michel Guerrin am 17. Oktober in Le Monde, indem er sich vorwiegend auf die Debatte in den Medien bezieht. Während Guerrin noch die Schönheit der Sprache des Romans rühmt, auf ihren langsamen Rhythmus, die seltenen Dialoge eingeht und darauf, dass man sich in der Erzählung verlieren könne, kommt er schnell auf Sansals „agenda de rock star“29 zu sprechen, darauf, dass kein anderer Autor im vergangenen Jahr von so vielen Radio- und Fernsehsendern zu Interviews eingeladen, dass über keinen anderen Autor solch eine Quantität an Beiträgen verfasst worden sei, und er beklagt die fahrlässige Gleichsetzung von Religion und Islamismus durch Sansal. Hierbei lässt er allerdings auch den Herausgeber Sansals, Jean-Marie Laclavetine, zu Wort kommen, der den Autor in gewisser Weise verteidigt: „Ses livres sont bien plus riches et ambigus que ce à quoi on le réduit. Et ils parlent mieux que lui“.30 Die mitunter problematischen Positionen der Person Sansal werden hier auf kluge Weise von seinem schriftstellerischen Werk getrennt diskutiert. Mit seinem Beitrag analysiert Guerrin – als Akteur in eben jenem Diskurs – den medialen Hype um Buch und Autor und entzieht sich der dominierenden Meinung ein Stück weit, indem er die Argumentationsmechanismen offenlegt.
Ab Mitte September 2015 war vor allem die Nominierung für die großen französischen Literaturpreise Thema: Goncourt, Renaudot, Interallié, Fémina, Médicis und Flore, etwas später kam der Grand Prix de l’Académie Française dazu. Sansals Name und mit ihm sein Roman 2084 finden sich auf allen Listen wieder, von nun an stellt man einen Sprung in der Berichterstattung fest, minutiös wird über jede neue Aufnahme Sansals in den Favoritenkreis eines der Preise berichtet, Sansal wird als klarer Favorit gehandelt. Man erklärt die Situation zur absoluten Ausnahme, denn seit Jahrzehnten habe sich kein Werk mehr auf allen Nominierten-Listen wiedergefunden. Das erhitzte Interesse an den ideellen (und teilweise materiell bedeutsamen) Preis-Trophäen gleicht beinahe jenem an der Stimmauszählung nach den nationalen Wahlen.
Doch eine Jury nach der anderen streicht 2084 von ihrer Liste. Hatte Michel Guerrin noch am 17. Oktober 2015 erklärt, dass sich das Buch ohne den Prix Goncourt sicher an die 150.000 Mal verkaufen würde, mit dem Preis hingegen mit bis zu 400.000 Exemplaren31 – wir haben gesehen, dass der Goncourt nicht vonnöten war, um den kommerziellen Erfolg des Buches zu sichern – so schlug die Meinung der Presse auf einen Schlag um: nun glaubte Benoît Delmas, gewusst zu haben: „[d]ès septembre, il se murmurait dans le milieu éditorial que 2084 ne pourrait pas obtenir le Graal de l’édition française“.32 Ein Grund für die Abwahl noch vor der letzten Entscheidungs-Runde der Goncourt-Jury war schnell gefunden: was man zuvor als willkommene Kritik an islamistischem Terror gelesen hatte, wurde nun umgedeutet und der Verdacht geäußert, Boualem Sansal weise islamophobe Tendenzen auf.33
Als schließlich am 29. Oktober bekannt wird, dass 2084 den Grand Prix de l’Académie Française gewonnen hat, obendrein zu dessen hundertstem Jubiläum – gemeinsam mit dem Tunesier Hédi Kaddour (für Les Prépondérants), verweisen die Beiträge zum Thema auf die Ausnahme dieser Situation: Erst zum dritten Mal überhaupt in der Geschichte dieser Auszeichnung wurden zwei Werke ex aequo mit der Ehrung bedacht. Auch in arabischen Medien zieht diese Tatsache die Aufmerksamkeit auf sich, immerhin handelt es sich um zwei Maghrebiner, die jenen mit 10.000 Euro dotierten Preis entgegennehmen konnten.34 Das Auswahlverfahren wird teils minutiös wiedergegeben: die Wahl sei im vierten Durchgang mit elf Pro-Stimmen und einer Gegenstimme erfolgt.35 Die Qatar News Agency kommt zu dem Schluss, dass der Preis Sansals Wunden für all die anderen nicht erhaltenen Auszeichnungen schließe.36 Noch am selben Tag wird der französische Figaro den Grund für die Prämierung von 2084 nennen, der jedoch eher einer Anerkennung des Mutes der Person Sansals zu entsprechen scheint: „l’Académie française avait voulu saluer l’audace d’un romancier qui s’attaque à un sujet brûlant avec un grand courage“.37 Wieder einmal werden die Grenzen zwischen dem öffentlich-politischen Engagement des Schriftstellers und seinem Werk porös.
Ende November, Anfang Dezember wird nochmals das mediale Interesse an dem Text befeuert, als die Zeitschrift Lire (traditionellerweise im Spätherbst) das beste Buch des Jahres auszeichnet38: Der algerische Autor gewinnt seinen zweiten Preis für 2084. Die Nachrichtenagentur AFP stellt in dem Zusammenhang heraus, dass er der einzige Preisträger des Jahres 2015 sei, dessen Werk von Lire ausgezeichnet wird. Nicht einmal Goncourt-Gewinner Mathias Enard wird hier bedacht.39
Doch nach diesen der Chronologie der Berichterstattung folgenden Darstellungen sei jener 13. November 2015 betrachtet, an dem im Stade de France, dem Konzerthaus Bataclan und an vier weiteren Orten der französischen Hauptstadt gezielt terroristische Anschläge verübt wurden, die 130 Menschenleben forderten und weit mehr als 300 Verletzte hinterließen. Das Trauma dieses Augenblicks wirft die Medien zurück auf 2084. Während bei den Attentaten im Januar Journalisten noch den Zusammenhang zu Houellebecqs Roman herstellten, richtet sich nun die Aufmerksamkeit auf Sansals Werk, das von Anfang an als Analyse einer islamistischen Gesinnung ausgelegt wurde. Nun wird es teilweise wie eine apokalyptische Prophezeiung dessen, was Mitte November in Paris Wirklichkeit wurde, interpretiert. Am selben 13. November publiziert der Figaro ein Interview mit dem Autor, in welchem er über den Koran, über Laizismus und das Schweigen der Muslime gegenüber dem Anwachsen des Islamismus befragt wurde.40 Es ist eine tragische Koinzidenz der Veröffentlichung dieses Gesprächs mit den Attentaten, die die Kulturredaktion des Blattes nicht hatte vorhersehen können. In den darauffolgenden Tagen erscheint eine Reihe von Interviews, manche davon Wiederabdrucke von bereits veröffentlichten Stellungnahmen Sansals, so zum Beispiel ein Gespräch im Figaro,41 in dem man unterstreicht, dass dieses für Figaro Magazine noch vor den Anschlägen aufgezeichnet worden war.42
In dieser Zeit zeigen auch die deutschen Medien das größte Interesse an Sansals Roman. Von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18. November 2015) über den Focus vom 18. und das Hamburger Abendblatt vom 19. November 2015 bis hin zur Deutschen Welle (18.11.) – immer wieder bezieht man sich hier auf den fatalistisch-prognostischen Kommentar des Autors, „Die Anschläge werden nicht aufhören“.43 Damit beginnt der Roman selbst, in Presse- und Rundfunkbeträgen in den Hintergrund zu rücken; der Fokus richtet sich von nun an auf direkte Kommentare Sansals zum aktuellen Weltgeschehen – ohne den Umweg über sein bislang öffentlichkeitswirksamstes fiktionales Werk zu nehmen.
Der Verlauf der medialen Debatte über diesen Roman – von der Euphorie um all seine Literaturpreis-Nominierungen bis hin zur ‚Interpretation‘ des Textes zur Analyse und Erklärung zeitgenössischer gesellschaftlicher Problemlagen – offenbart einmal mehr die vertiginöse Geschwindigkeit, in der ein literarisches Werk (wie andere kulturelle Produkte) seit längerem thematisiert und funktionalisiert werden. Eine Hast, die Gefahr laufen lässt, Romane zu bloßen Diskursanlässen und oberflächlich konsumierten Gütern zu degradieren, deren Halbwertzeit eine literarische Saison nicht mehr überdauert.
Gerade haben die französischen Medien – und auch dieser Fall wurde von der deutschen Presse interessiert aufgegriffen44 – einen neuen literarisch-politischen skandalösen Gegenstand entdeckt: das „Speisen islamophober Fantasmen“ durch den algerischen Schriftsteller Kamel Daoud45 und seiner Polemik46. Sansal hat ihn bereits öffentlich in Schutz genommen, hat in gewohnt schockierender Weise formuliert: „les attaques contre Kamel Daoud relèvent du terrorisme“.47 Boualem Sansals mediale Inszenierung wirkt über den Erfolg seines Romans hinaus fort.
Boualem Sansal, 2084 : la fin du monde (Paris: Gallimard, 2015).↩
Michel Guerrin, „Boualem Sansal, homme libre“, Le Monde, 16. Oktober 2015, http://lemonde.fr/livres/article/2015/10/16/boualem-sansal-homme-libre_4790634_3260.html?xtmc= boualem_sansal_homme_libre&xtcr=1.↩
Martina Zimmermann, „Boualem Sansal: ‚2084‘. Düstere Vision einer religiösen Weltdiktatur“, Deutschlandradio Kultur, Fazit, 7. September 2015, http://www.deutschlandradiokultur.de/boualem-sansal-2084-duestere-vision-einer-religioesen.1013.de.html?dram:article_id=330432.↩
Guerrin, „Boualem Sansal, homme libre“.↩
Boualem Sansal, „Lettre à un Français sur le monde qui vient“, Le Figaro, 15. September 2015, http://www.lefigaro.fr/vox/culture/2015/09/15/31006-20150915ARTFIG00337-boualem-sansal-lettre-a-un-francais-sur-le-monde-qui-vient.php.↩
Zimmermann, „Boualem Sansal: ‚2084‘“.↩
Sansal, 2084, 17.↩
Sandra Kegel und Boualem Sansal, „Interview mit Boualem Sansal. Die Anschläge werden nicht aufhören“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. November 2015, http://faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/boualem-sansal-im-interview-zu-den-anschlaegen-in-paris-13917703-p2.html.↩
Boualem Sansal und Juliane Tauchnitz, „Interview“, unveröffentlicht (Leipzig, 16. September 2015).↩
Zur schwierigen Differenzierung vgl. etwa Floris Biskamp und Stefan E. Hößl, „Politische Bildung im Kontext von Islam und Islamismus“, in Islam und Islamismus: Perspektiven für die politische Bildung, hrsg. von Floris Biskamp und Stefan E. Hößl (Gießen: NBKK, 2013), 13–40.↩
Sansal und Tauchnitz, „Interview“.↩
Boualem Sansal, Le serment des barbares (Paris: Gallimard, 1999).↩
Boualem Sansal, L’enfant fou de l’arbre creux (Paris: Gallimard, 2000).↩
Boualem Sansal, Gouverner au nom d’Allah: islamisation et soif de pouvoir dans le monde arabe (Paris: Gallimard, 2013).↩
Benoît Delmas, „Algérie – Boualem Sansal: ‚Il faut sauver le soldat Islam de l’Islamisme“‘, Le Point Afrique, 10. November 2015, http://afrique.lepoint.fr/culture/algerie-boualem-sansal-il-faut-sauver-le-soldat-islam-de-l-islamisme-10-11-2015-1980579/_2256.php.↩
Delmas, „Algérie – Boualem Sansal“.↩
Mohammed Aïssaoui, „Boualem Sansal contre les barbares“, Le Figaro, 1. Oktober 2015, http://www.lefigaro.fr/livres/2015/09/30/03005-20150930ARTFIG00159--2084-boualem-sansal-contre-les-barbares.php.↩
O.N., „Rentrée littéraire : 2084. La fin du monde“, Lire, Extrait Roman Français 437 (25. Juni 2015): 110–3, hier 110.↩
Christophe Ono-Dit-Biot, „Rentrée littéraire: Boualem Sansal et le Big Brother islamique“, Le Point, 10. August 2015, http://www.lepoint.fr/culture/rentree-litteraire-boualem-sansal-et-le-big-brother-islamique-10-08-2015-1955791_3.php.↩
Michel Houellebecq, Soumission (Paris: Flammarion, 2015).↩
Martine Gozlan, „2084: l’empire intégriste selon Boualem Sansal“, Marianne, 23. August 2015, http://marianne.net/2084-empire-integriste-boualem-sansal-100236392.html.↩
Hervé Bertho, „Boualem Sansal défie les islamistes“, Ouest France, 22. August 2015, http://pressreader.com/france/ouest-france-dinan/20150822/282767765348948/TextView.↩
Marianne Payot, „La rentrée littéraire (suite): Sansal contre les Big Brothers“, L’Express, Le guide culturel livres, 26. August 2015, 92.↩
Sansal, 2084, 42.↩
Sansal, 2084, 260.↩
Guerrin, „Boualem Sansal, homme libre“.↩
Aïssaoui, „Boualem Sansal contre les barbares“.↩
Aïssaoui, „Boualem Sansal contre les barbares“.↩
Guerrin, „Boualem Sansal, homme libre“.↩
Guerrin, „Boualem Sansal, homme libre“.↩
Guerrin, „Boualem Sansal, homme libre“.↩
Benoît Delmas, „Les Goncourt évincent Boualem Sansal depuis Tunis“, Le Point, 27. Oktober 2015, http://lepoint.fr/livres/les-goncourt-evincent-boualem-sansal-depuis-tunis-27-10-2015-1977136/_37.php/#xtmc=les-goncourt-sansal&xtnp=2&xtcr=13.↩
Delmas, „Les Goncourt“.↩
Lynx Qualey, „Algerian Boualem Sansal and Tunisian Hédi Kaddour Take First French Literary Prize of the Season“, Arabic Literature (in English), 29. Oktober 2015, http://arablit.org/2015/10/29/algerian-boualem-sansal-and-tunisian-hedi-kaddour-take-first-french-literary-prize-of-the-season/. Siehe auch: O.N., „Boualem Sansal and Hedi Kaddour Win French Literary Price“, Qatar News Agency, 30. Oktober 2015, http://qna.org.qa/en-us/News/15103008330008/Boualem-Sansal-and-Hedi-Kaddour-Win-French-Literary-Prize.↩
O.N. (AFP), „Hédi Kaddour et Boualem Sansal remportent le Grand Prix de l’Académie Française“, France 24, 29. Oktober 2015, http://france24.com/fr/20151029-hedi-kaddour-boualem-sansal-grand-prix-litteraire-roman-academie-francaise.↩
O.N. (AFP), „Boualem Sansal et Hedi Kaddour“.↩
Mohammed Aïssaoui, „Grand Prix du roman de l’Académie Française : Hédi Kaddour et Boualem Sansal ex-aequo“, Le Figaro, 29. Oktober 2015, http://lefigaro.fr/livres/2015/10/29/03005-20151029ARTFIG00338-hedi-kaddour-pour-la-puissance-boualem-sansal-pour-l-audace.php.↩
Lire 441, 26. November 2015.↩
O.N. (AFP), „‚2084‘ de Boualem Sansal ‚meilleur livre de l’année‘ pour le magazine Lire“, leberry.fr/AFP, 26. November 2015, http://leberry.fr/cher/mag/culture/livres-bd/2015/11/26/2084-de-boualem-sansal-meilleur-livre-de-l-annee-pour-le-magazine-lire/_11680934.html.↩
Patrice Le Méritens, „Boualem Sansal: ‚l’Islam a été vidé de toute spiritualité“, Le Figaro, 13. November 2015, http://lefigaro.fr/actualite-france/2015/11/13/01016-20151113ARTFIG00208-boualem-sansal-l-islam-a-ete-vide-de-toute-spiritualite.php.↩
Patrice Le Méritens, „Boualem Sansal: ‚la France laïque, adversaire majeur des islamistes“‘, Le Figaro, 15. November 2015, http://www.lefigaro.fr/livres/2015/11/15/03005-20151115ARTFIG00067-boualem-sansal-la-france-laique-adversaire-majeur-des-islamistes.php.↩
Oder auch ein Interview in Le Temps vom 15. November 2015, das RFI bereits am 12. November 2015 ausgestrahlt hatte. Siehe Catherine Fruchon-Toussaint, „Boualem Sansal: ‚Nous,condamnés à vivre des systèmes totalitaires“‘, RFI, 12. November 2015, http://rfi.fr/afrique/20151112-boualem-sansal-entretien-nous-condamnes-vivre-systemes-totalitaires-2084.↩
Siehe Kegel und Sansal, „Interview mit Boualem Sansal“; siehe auch O.N. (dpa), „Autor Sansal: Anschläge werden nicht aufhören“, Focus online, 18. November 2015, http://focus.de/kultur/buecher/literatur-autor-sansal-anschlaege-werden-nicht-aufhoeren/_id/_5093232.html; O.N. (dpa), „Autor Sansal: Anschläge werden nicht aufhören“, Hamburger Abendblatt, 19. November 2015, http://abendblatt.de/kultur-live/buecher/article206688473/Autor-Sansal-Anschlaege-werden-nicht-aufhoeren.html; Aya Bach, „Boualem Sansal: ‚Man bekämpft Ideen nicht mit Kanonen“‘, Deutsche Welle, 18. November 2015, http://dw.com/de/boualem-sansal-man-bekämpft-ideen-nicht-mit-kanonen/a-18860577.↩
Ulrich Rüdenauer, „Dem Opfer einen Namen geben“, Die Zeit, 1. März 2016, http://zeit.de/kultur/literatur/2016-02/kamel-daoud-der-fall-meursault. Siehe auch Iris Radisch, „Das Tribunal der Pariser Mandarine“, Die Zeit, 10. März 2016, http://zeit.de/2016/10/kamel-daoud-islam-kritik, und Georg Blume, „Als deutscher Rentner hätte ich Angst. Interview mit Kamel Daoud“, Die Zeit, 17. März 2016, http://zeit.de/2016/11/kamel-daoud-schriftsteller-algerien-islamkritik.↩
Louis Hausalter, „Boualem Sansal: ‚les attaques contre Kamel Daoud relèvent du terrorisme“‘, Marianne, 24. März 2016, http://marianne.net/boualem-sansal-les-attaques-contre-kamel-daoud-relevent-du-terrorisme-100241321.html (Übersetzung J.T.).↩
Paul Berman und Michael Walzer, „Cette intelligentsia qui ‚alimente la haine à l’encontre des écrivains progressistes“‘, Le Monde, 29. März 2016, http://lemonde.fr/idees/article/2016/03/29/a-gauche-des-intellectuels-se-font-les-allies-de-l-oppression/_4891768/_3232.html?xtmc=sansal&xtcr=2.↩
Hausalter, „Boualem Sansal: les attaques“.↩
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