Tagungsbericht: Das Theater der Zärtlichkeit

Affektkultur und Inszenierungsstrategien in Tragödie und Komödie des vorbürgerlichen Zeitalters (1630–1760)

Antonio Roselli

Am 23. und 24. September 2016 fand an der Universität Paderborn die Tagung „Das Theater der Zärtlichkeit: Affektkulturen und Inszenierungsstrategien in Tragödie und Komödie des vorbürgerlichen Zeitalters (1630–1760)“ statt. Veranstalter der von der DFG und der Universitätsgesellschaft der Universität Paderborn geförderten Tagung waren Jörn Steigerwald (Komparatistik, Paderborn) und Burkhard Meyer-Sickendiek (Germanistik, FU Berlin). Die literatur- und kulturgeschichtlichen Prämissen der Tagung wurden zu Beginn von den beiden Veranstaltern programmatisch präsentiert. Jörn Steigerwald stellte dar, inwiefern und unter welchen Bedingungen von einem ‚Theater der Zärtlichkeit‘ gesprochen werden könne. Dabei wurden, ausgehend von der ‚Carte du/de Tendre‘, die im Kontext von Madeleine de Scudérys Roman Clélie entstanden ist, die Konturen des kulturprägenden Konzepts der ‚tendresse‘ zum einen im Sinne einer „Orientierung für heterosexuelle Interaktion“, zum anderen als Modell für „zwischenmenschliche Beziehungen“ innerhalb familiärer Relationen diskutiert. Während die Berücksichtigung der heterosexuellen Interaktion das Verhältnis zwischen Freunden oder Liebenden formt, rückt in der familiären Dimension die Rolle des Vaters in den Vordergrund. Die für die weiteren Diskussionszusammenhänge der Tagung relevante Unterscheidung zwischen einer „Praxeologie der Zärtlichkeit“ und einer „Begrifflichkeit der Zärtlichkeit“ wurde ebenfalls innerhalb dieser doppelten Perspektivierung von Interaktion (Praxeologie) und Vaterfigur (begriffliche Ebene) fruchtbar gemacht.

In diesem Sinne weist Steigerwald auf zwei mögliche Deutungsansätze hin. Der erste Ansatz versteht das ‚Theater der Zärtlichkeit‘ als eine französische „Fabrikation“ mit europaweiter Rezeption. Der zweite Ansatz geht stattdessen von einer grundlegenden sozialhistorischen Ebene aus, die besonders die Wandlung des Familienmodells nach der Reformation und Gegenreformation in den Vordergrund rückt. Je nach Deutungsansatz stellen sich unterschiedliche Fragen der Datierung. Für den ersten Ansatz bildet die Querelle du Cid (1637) den terminus ante quem für die Rekonstruktion eines ‚Theaters der Zärtlichkeit‘, besonders mit Blick auf die darin verhandelte Geschlechter- und Familienproblematik. Auch wenn die Querelle primär als eine Reaktion auf Corneilles Le Cid (1636) erscheint, lässt sie sich weitreichender als Reflexion über die grundlegende Wandlung vom ‚geschlossenen‘ zum ‚offenen Haus‘ und der damit zusammenhängenden veränderten Rolle des Vaters im Zuge des Konzils von Trient deuten. So führen die Umbrüche, die das Modell des ‚ganzen Hauses‘ erfährt, zu einer Neustrukturierung der Familie nach 1600, in der dem Vater Attribute der Zärtlichkeit zugesprochen werden. Dieser Strukturwandel schlägt sich ebenfalls auf die Dramenproduktion nieder, wie sich beispielsweise anhand der Verlagerung der Spielorte der Komödie von der ‚Piazza‘ (im italienischen Renaissance-Theater) ins ‚Haus‘ (in den Komödien Molières) zeigen lässt. Auch der Generationenkonflikt und die damit zur Disposition gestellte Autorität des Vaters, wie sie im Cid thematisch werden, lassen sich in diese Dynamik einordnen.

Für Burkhard Meyer-Sickendiek stellte die Zärtlichkeit ein „neuwertiges soziologisches Phänomen“ dar, welches im 17. und 18. Jahrhundert eine Umdeutung und eine entsprechende Aufnahme in den verschiedenen literarischen Gattungen erfuhr. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage nach dem Verhältnis der Galanterie und der Empfindsamkeit zur Zärtlichkeit. Für das 17. Jahrhundert wurde die zärtliche Liebe, in Anlehnung an Luhmanns Liebe als Passion, als „Interim zwischen Konvenienz“ (vernünftige Liebe) und „Liebesehe“ (romantische Liebe) beschrieben, die allerdings im 18. Jahrhundert, besonders durch das Paradigma der Rührung (beispielsweise bei Gellert) eine Bedeutungswandlung erfuhr, ohne aber erst mit der Empfindsamkeit als neues Verhaltensmodell zu entstehen. Meyer-Sickendiek setzte sich in seiner Skizze vor allem kritisch mit der germanistischen Forschung zur Empfindsamkeit auseinander. Dabei wurde besonders die 1966 von Lothar Pikulik aufgestellte These, dass das Bürgerliche Trauerspiel nicht bürgerlich, sondern eine „im Kerne unbürgerliche Erscheinung“ sei, wieder aufgegriffen und gegen deren Widerlegungen beispielsweise durch Szondi oder Habermas verteidigt. Aus dieser Perspektive wurde der Verortung der Zärtlichkeit in der Tradition der französischen Klassik nachgegangen, wie sie Lessing im 17. Literaturbrief (1759) auf der Folie der modellhaften (und von der Forschung vernachlässigten) Wirkung von Gottscheds Schaubühne unternahm. Gerade der Bezug zur französischen Klassik stellt die Voraussetzung dar, um die aristokratischen Wurzeln der Zärtlichkeit gegenüber ihrer vermeintlich bürgerlichen Genese hervorzuheben.

Die vier Sektionen, die nach den Eröffnungsvorträgen die Tagung strukturierten, spiegelten die verschiedenen Facetten der behandelten Thematik. In der ersten Sektion wurde der tragische Ursprung der Zärtlichkeit anhand von Analysen exemplarischer Tragödien von Corneille, Racine und Calderón rekonstruiert. Nach der Tragödie rückte die Problematisierung der Zärtlichkeit in der Komödie in den Vordergrund, modellhaft anhand ausgewählter Theaterstücke von María de Zayas, Tirso de Molina und Molière. In der dritten Sektion stand die Transformation der Zärtlichkeit ins Private um 1700 im Mittelpunkt der Vorträge, diesmal stärker ausgehend von Stil-, Stoff- und Motivanalysen sowie von Genre-Fragen. In der letzten Sektion wurde ausgehend von der empfindsamen Herrschertragödie und den späten Stücken Goldonis die These einer Verbürgerlichung aristokratischer ‚tendresse‘ im empfindsamen Theater des 18. Jahrhunderts diskutiert.

Die erste Sektion eröffnete Jörn Steigerwald (Paderborn) mit dem Vortrag „‚Les tendresses de l’amour humain‘: Corneilles Polyeucte.“ Corneilles 1641 uraufgeführte Tragödie, die von Steigerwald nicht als Märtyrertragödie, sondern als christliche Familientragödie gelesen wird, kann als Grundstein für das Theater der Zärtlichkeit betrachtet werden. Dies zeige sich besonders in der Funktion der zärtlichen Liebe als Scharnier zwischen verschiedenen Dimensionen der Liebe und den damit zusammenhängenden politischen, familiären und theologischen Konstellationen. Dabei steht besonders die familiäre Konstellation ­– und darin die Rolle des zärtlichen Vaters – im Mittelpunkt, gemäß der von Jean-François Sarrasin 1639 in Anschluss an die Querelle du Cid formulierten Tragödientheorie (Discours de la Tragédie). Diese spezifische Konstellation erscheint durch eine Verkettung modellhafter Liebesbeziehungen charakterisiert, die von der Figur des Vaters (Félix) getragen werden und sich zum einen auf den Fortbestand des Hauses richten, zum anderen als Modell für die Liebe zwischen Tochter und Schwiegersohn wirken. Neben der familiären Konstellation rückt noch die Spannung zwischen der göttlichen und der irdischen Liebe in den Fokus der dramatischen Repräsentation. Darin gewinnt insbesondere die Rolle der Tochter (Pauline) an Bedeutung, die im Verhältnis zu ihrem Vater am Ende eine ‚Umkehrung‘ der Vorbildfunktion durch ihre eigene Konversion einleitet, wodurch sie ihrerseits zum Modell für ihren Vater wird und eine Anpassung zwischen theologischer und politischer Ordnung erlaubt.

In Hendrik Schliepers (Komparatistik, Paderborn) Vortrag „Pleurs éternels: Trauer als tendresse in Racines Andromaque“ wurde mit Racine der zweite große Repräsentant der Tragödiendichtung der französischen Klassik ebenfalls einer eingehenden Lektüre unterzogen. Unter Berücksichtigung der französischen Rezeption der Aristotelischen Poetik, die der pitié gegenüber dem terreur den Vorzug gab, erörterte Schlieper das Problem einer „zärtlichen Katharsis“, um so den Blick auf gattungsspezifische Fragen der klassischen Tragödie zu richten. Als wichtiger Indikator für diese Form der Katharsis wurde das „Tränenkriterium“ genannt: Während man bei Corneille eine Unterdrückung der Tränen beobachte, könne man in den Tragödien Racines von einem regelrechten „Tränenfluss“ sprechen. Im Stück selbst werde die ‚tendresse‘ als Affekt inszeniert, welcher zugleich Wandlungen hervorbringe und Wandlungen unterzogen werde. So erscheint Pyrrhus als Heldenfigur, die sich im Übergang zwischen antiken Vorbildern („[i]l était violent de son naturel“) und modernen, eben ‚zärtlichen‘ Heldenfiguren befindet, die durch eine Wandlung hin zur Zärtlichkeit charakterisiert werden, während sich bei Andromaque die Herausbildung einer zärtlichen Trauer beobachten lasse.

Mit Claudia Gronemanns (Romanistik, Mannheim) Vortrag „Zärtliche Väter als unerbittliche Richter? Calderóns El Alcalde de Zalamea und Jovellanos’ El delincuente honrado im Vergleich“ wurde der Zärtlichkeitsdiskurs im spanischen Drama des 17. und 18. Jahrhunderts untersucht, dessen Entwicklung in Abgrenzung zur französischen Tradition der Galanterie stattfand. Diese Abgrenzungsbewegung lässt sich wiederum als Ausdruck einer für die spanische Literatur prägenden identitätsbildenden Kulturpolitik deuten, nach der das französische „Konstrukt“ der ‚tendresse‘ als negatives Gegenmodell Wirksamkeit erlangt (wodurch u.a. auch dessen orientierende Funktion für heterosexuelle Interaktionen wegfällt). Besonders deutlich könne dies an der Emotionalisierung des Theaters („teatro sentimental“) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert festgemacht werden, die sich nicht an einer spezifisch galanten Kultur, sondern stärker an empfindsamen Topoi bemessen habe. In diesem Sinne seien besonders englische Vorbilder (Richardson, moral sense-Theorie) prägend gewesen, in deren „kultureller Übertragung“ eine Aktualisierung spezifisch spanischer Themen wie Ehre, Recht, Vaterschaft und Herrschaft im Lichte eines „Dramas der Vaterschaft“ und vermittelt durch die Figur des „empfindsamen Patriarchen“ möglich gewesen sei. Daneben könne indes auch, wie Gronemann besonders hervorhebt, von einer „innerspanischen Linie der empfindsamen Väter“ gesprochen werden, deren Vorläufermodell sich beispielsweise in der Figur des Pedro Crespo in Calderóns Alcalde de Zalamea findet und deren Funktion sich dezidiert nach erzieherischen, „konformistischen Zielen“ – im Sinne der uneingeschränkten Autorität des politischen Souveräns, der wiederum die Richterrolle des Vaters legitimiert – richtet.

Nach den tragischen Ursprüngen wurden in der zweiten Sektion die komödienspezifischen Implikationen der Zärtlichkeit betrachtet. Agnieszka Komorowska (Romanistik, Mannheim) setzte in ihrem Vortrag „Freundschaft und Zärtlichkeit im Theater des Siglo de Oro: Zu María de Zayas’ La traición en la amistad (u. Tirso de Molina)“ die Auseinandersetzung mit der spanischen Traditionslinie fort. Anhand der Wandlungen im Freundschaftsdiskurs wurde auf die semiotische Ambivalenz der Zärtlichkeit aufmerksam gemacht, die im Rahmen des durch pragmatische Klugheitslehren geprägten spanischen Hofs als schwer einzuordnende Verhaltensweise und somit als ‚Störfaktor‘ erschien. In Abgrenzung zum aristotelischen Freundschaftsmodell, welches von Transparenz geprägt war, entwickelten Autoren wie Gracián einen misstrauischen Blick auf die Freundschaft, die nicht mehr als Ausdruck von ‚naturaleza‘ gedeutet werden konnte. Eine zärtliche Freundschaft, wie sie bereits in Tirso de Molinas zwischen 1622 und 1624 verfasster, aber erst 1634 veröffentlichter Komödie El amor y el amistad in ihren unterschiedlichen Möglichkeiten durchgespielt wurde, scheitert am Ende am Konflikt sich wandelnder Wertesysteme.

Adelina Debisow (Komparatistik, Paderborn) wendete sich in ihrem Vortrag „Zärtliche Liebesbeziehungen: Molières L’École des femmes“ der exemplarischen Analyse einer der berühmtesten Komödien der französischen Klassik zu. Der Stellenwert der Zärtlichkeit, der in der Figurenkonstellation die zwei jungen Liebenden Agnès und Horace charakterisiert, wurde anhand des im Stück als anachronistisch kritisierten Modells des ‚geschlossenen Hauses‘, dessen lächerlichen ‚Vertreters‘ Arnolphe und den damit zusammenhängenden asymmetrischen personalen Beziehungen herausgearbeitet. In ihrer Lektüre von Molières Komödie betonte Debisow das Moment einer grundlegenden Gegenseitigkeit als Voraussetzung für das Gelingen einer zärtlichen Liebesbeziehung. Diese Gegenseitigkeit zeige sich beispielsweise auf der Ebene der sozialen Praxis, wie beim Austausch von Höflichkeiten zwischen Agnès und Horace, der im Sinne einer naturalisierten Form der Galanterie gedeutet wurde, während in der Figur Arnolphes und dessen ‚plumper‘, besitzergreifender Relation zu Agnès die falsche Zärtlichkeit lächerlich gemacht werde.

Die dritte Sektion wurde von Stephan Kraft (Germanistik, Würzburg) mit dem Vortrag „Karl der Große – strenger Herrscher oder zärtlicher Vater? Zur Konjunktur des Emma- und Eginhard-Stoffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert“ eröffnet. Der Blick reichte von den frühen Chroniken des 12. Jahrhunderts bis zu den Bearbeitungen des Stoffs im späten 18. Jahrhundert. Eine besondere Berücksichtigung fand dabei die Frage nach dem Konflikt zwischen der Figur des strengen Herrschers und derjenigen des gütigen Vaters, der besonders anhand der deutsch-niederländischen Stofftradition nachgegangen wurde. Die in dieser Tradition präsentierte Lösung dieses Konflikts wendet sich von einer neo-stoizistischen Affektkontrolle ab, da darin die Zärtlichkeit über die Staatsraison siegt. Dabei lässt sich beobachten, dass die Zärtlichkeit erst im 17. Jahrhundert – beispielsweise in den Variationen Caspar van Baerles (1626) und Christian Hofmann von Hofmannswaldaus (1679) – als neues Element in diese Stofftradition eingeführt wird. Der Akt der Vergebung der Tochter durch den Vater, die ihrerseits verschiedene Motivationen erfährt, verliert zunehmend die Bedeutung einer politisch begründeten Geste, um als subjektive Entscheidung oder, wie dann in der Oper Die last-tragende Liebe oder Emma und Eginhard von Christoph Gottlieb Wendt und Georg Philipp Telemann (1728), als Eingriff eines deus ex machina inszeniert zu werden.

Kristin Eichhorn (Germanistik, Paderborn) untersuchte ihrerseits die Modulationen des Zärtlichkeitsdiskurses innerhalb der Gattung des Schäferspiels, um ein „Begriffsprofil der Zärtlichkeit“ zu erarbeiten. In ihrem Vortrag „Arkadien als Schule der Liebe. Zärtlichkeit im Schäferspiel der deutschen Früh- und Hochaufklärung“ setzte sie sich mit Stücken von Gottsched, Gärtner, Gellert und Gleim auseinander. In diesen Stücken wird die Zärtlichkeit als „Mittelweg“ zwischen Indifferenz und überstiegener Liebe modelliert, als Form einer kultivierten Liebe. Der Zärtlichkeitsdiskurs schreibt sich somit in die lang zurückreichende Tradition der Gattung ‚Schäferspiel‘ ein, die ein bestimmtes Setting (Arkadien, Goldenes Zeitalter) und bestimmte Topoi („spröde Schäferin“, Rhetorikfeindlichkeit) bedingt. Während die Rhetorikfeindlichkeit im Sinne einer Kritik der Galanterie aus dem Primat der Aufrichtigkeit heraus ‚angeeignet‘ wird, avanciert die Zärtlichkeit in der Imagination eines die Ständeunterschiede aufhebenden Goldenen Zeitalters zu einem universellen, nicht schichtengebundenen Modell.

Eine von der Konstruktionsgrammatik ausgehende sprachwissenschaftliche Untersuchung der Zärtlichkeit war Gegenstand von Katharina Mucha-Tummuseits (Germanistik, Paderborn) Vortrag „Sprachliche Konstruktionen zur Stabilisierung von Zärtlichkeits-Konzepten im Theater des 17./18. Jahrhunderts (Weise, Lessing, Pfeil, Diderot)“. Ausgehend von der begrifflichen Nähe zu weiblich konnotierten, politischen und religiösen Konzepten (‚clementia‘, ‚indulgentia‘) wurde auf eine grundlegende hierarchische Relation der Zärtlichkeit und der damit zusammenhängenden Machtposition eingegangen. Die Rekonstruktion dieser Konzepte wurde durch die Analyse der Gefühlsmetaphorik in Diderots Le Père de famille (1758) und Le Fils naturel (1757), Pfeils Lucie Woodvil (1756), Lessings Miß Sara Sampson (1755) sowie Christian Weises Bäuerischer Machiavellus (1679/81) ergänzt und um die Untersuchung verschiedener Stabilisierungsstrategien (rhetorische Fragen, binäre Konstruktionen, Kausalitätsrelationen) erweitert.

In der letzten Sektion wurde die eingangs aufgestellte Forderung einer Revision der ‚kanonischen‘ Deutung der Zärtlichkeit als spezifisch bürgerliche Tugend hinterfragt. Rudolf Behrens (Romanistik, Bochum) ging in seinem Vortrag „Zerbrechliche ‚tenerezza‘: Zur Figur der Giacinta in der Trilogia della villeggiatura“ der Affektökonomie nach, die Goldonis Trilogia prägt. Im Mittelpunkt der Stücke stehe nicht so sehr die Verhandlung des Verhältnisses von ‚tendresse‘ und ‚galanterie‘ und deren bürgerlicher Verortung, sondern stärker die Ironisierung bürgerlicher Modelle, die im Medium des „Spiels im Spiel“ – besonders im ‚Heraustreten‘ der weiblichen Figuren am Ende der Stücke – inszeniert werde. So lässt sich die Trilogia als eine Satire des preziösen Habitus deuten, die zugleich eine präzise Genealogie der ‚tenerezza‘ aufzeigt. Behrens griff dabei die semantischen Implikationen der ‚tenerezza’ auf, die auf das ‚Weiche‘, ‚Kindliche‘, ‚Modellierbare‘ verweisen, um darin ein regressives Moment zu erblicken. Am Beispiel des Liebesdiskurses und der Figur des Vaters wurde diese ‚Regression‘ genauer beleuchtet. Mit Blick auf den Liebesdiskurs erscheine die ‚tenerezza‘ als Endprodukt einer von ihren finanziellen Anstrengungen endkleideten Liebe, als deren „Selbstauflösung bis zu einer kritischen Grenze“. Anhand der empfindsamen Vaterfigur wurde die Zärtlichkeit als Ausdruck eines Scheiterns gedeutet, als progressives Auseinanderbrechen der Einheit des oikos und der Sprache, bis hin zum Auseinanderfallen von Sprache und Ethik. Die Figur des gescheiterten Vaters, die durchaus lächerliche Züge trage, kippe aber nicht in eine komische Figur um.

Den abschließenden Vortrag hielt Burkhard Meyer-Sickendiek („‚Vom Stolze zur Zärtlichkeit, und von der Zärtlichkeit zur Erbitterung‘: Voltaire, Lessing und die empfindsame Herrschertragödie“). Die eingangs von Meyer-Sickendiek skizzierten Thesen wurden hier aufgegriffen und erweitert. Dabei stand besonders das bislang von der Forschung wenig beachtete Verhältnis von Lessing und Voltaire im Mittelpunkt. Im Vortrag wurde nachgezeichnet, wie Lessings im 17. Literaturbrief (1759) entwickelte Entgegensetzung von englischem und französischem Drama, mit den entsprechenden Attributen des „Großen“, „Schrecklichen“ und „Melancholischen“ auf der einen, des „Zärtlichen“, „Artigen“ und „Verliebten“ auf der anderen Seite, auf Voltaires Discours sur la tragédie (1731) zurückgeht, die den ‚Engländern‘ ‚force‘ und den ‚Franzosen‘ ‚clarté‘ und ‚exactitude‘ zuschrieb. Lessing greift in seiner Hamburgischen Dramaturgie, besonders im 15. und 16. Stück (1767) sowie im 80. Stück (1768), das von Voltaire angeführte Problem der Dramatisierung der zärtlichen Liebe, deren Verwandlung zur Tragödie und die damit einhergehende Frage nach der Grenzziehung zwischen den Gattungen ‚Tragödie‘ und ‚Komödie‘ wieder auf. Diese Auseinandersetzung findet sich in Lessings Dramenproduktion wieder; so lässt sich Voltaires Herrschertragödie Zayre (1733) als Vorläufer der Emilia Galotti lesen, und diese wiederum als Versuch deuten, die zärtliche Liebe im Sinne Voltaires zu dramatisieren. Diese Beziehung erhält eine besondere Relevanz, wenn man bedenkt, dass Voltaire selbst sein Drama als „tragédie tendre“ bezeichnete, so dass die empfindsame Herrschertragödie – und die damit einhergehende aristokratische Dimension der Zärtlichkeit – als Vorläuferin des empfindsamen Theaters gelten kann. In der anschließenden Diskussion wurden die Tragfähigkeit der Opposition ‚Aristokratisch-Bürgerlich‘, die die germanistische Forschung zur Empfindsamkeit strukturiert, sowie das Verhältnis zwischen den Kategorien ‚Aristokratisch‘ und ‚Bürgerlich‘ im Sinne sozialer Klassen und im Sinne soziokultureller Systeme kritisch hinterfragt.

Innerhalb der Vorträge und Diskussionen wurden die unterschiedlichen Zusammenhänge und Traditionslinien eines vorbürgerlichen ‚Theaters der Zärtlichkeit‘ und deren europäische Relevanz herausgearbeitet. Das Zusammenspiel von Ergebnissen der Einzelphilologien und komparatistischen Brückenschlägen erlaubte eine bemerkenswerte Neuperspektivierung zentraler Kapitel (oder: Etappen) der europäischen Literaturgeschichte. Darüber hinaus zeichnete sich eine Revision der fachspezifischen Forschungspositionen und -begriffe ab in Hinblick auf deren interdisziplinäre und aktuelle Anwendbarkeit. Besonders in den regen Diskussionen wurde deutlich, wie viele Anknüpfungspunkte die Thematik der Zärtlichkeit im ‚vorbürgerlichen‘ Zeitalter und das Konzept eines europäisch-transnationalen Theaters der Zärtlichkeit bereithalten, zu deren Weiterentwicklung die Tagung eine breite Grundlage und wichtige Impulse geliefert hat. Eine Publikation der Beiträge erscheint in Kürze in der Reihe „culturae“ im Harrasowitz-Verlag Wiesbaden.





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