„Une immense tapisserie brûlante, belle et contradictoire“

Die französisch(sprachig)e Poesie der Gegenwart

Jana Nürnberger

Jean-Luc Maxence, Au tournant du siècle: regard critique sur la poésie française contemporaine (Paris: Seghers, 2014).

Françoise Siri, Le Panorama des poètes: enquête sur la poésie francophone du xxie siècle (Paris: lemieux, 2015).

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Als „immense tapisserie brûlante, belle et contradictoire“1 bezeichnet Jean-Luc Maxence die französische Poesie dieses neuen Jahrtausends in einem Interview in Recours au poème. In dieser unübersichtlichen und heterogenen poetischen Landschaft verspricht er Orientierung mit seiner Publikation Au tournant du siècle: regard critique sur la poésie française contemporaine. Auf 180 Seiten nimmt sich Vf. das vor, was Autoren von Anthologien2 schon für die französische Poesie des 20. Jahrhunderts mit dem abnehmenden Einfluss des Surrealismus als letzter „großer“ poetischen Strömung einstimmig als heikles Unterfangen darstellen und was sich im 21. Jahrhundert ungleich schwieriger gestaltet: Die Klassifikation einer literarischen Gattung, für die es zunehmend diffiziler wird, überhaupt Kriterien der Gattungszugehörigkeit zu definieren. Vf. stellt seinen „essai de passion“ (11) in die Tradition bekannter Anthologien wie die Serge Brindeaus3, Robert Sabatiers4 und Jean Orizets5. Als Vorbilder dienen ihm in erster Linie Jean Rousselots Panorama critique des nouveaux poètes français6 und Bernard Delvailles La Nouvelle Poésie française: anthologie7, die sich beide der Bekanntmachung junger, noch wenig beachteter Autor(inn)en ihrer Zeit verschreiben8 (18–9).

Im 21. Jahrhundert finden zwar traditionelle poetische Strömungen ihre Fortsetzung, doch sind diese kaum mehr voneinander abgrenzbar, sodass Maxence von einer „instauration de l’hybride comme principe“ (13) spricht. Hinzu kommen neue Tendenzen und Formen, die mit der literarischen Tradition brechen und es zusätzlich erschweren, Leitlinien und Marksteine zu erkennen (13). Maxence setzt sich das von Rousselot für seine Anthologie formulierte Ziel, „[…] de [ne pas] faire état de ses préférences personnelles, mais de procéder à un recensement objectif de toutes les tendances qui se côtoient, se succèdent, s’interpénètrent aujourd’hui“(18)9. Diese Tendenzen unterteilt er in sechzehn Kapitel, in denen er jeweils in der Regel eine Strömung oder Schule umreißt, diese literaturgeschichtlich einordnet und ihre wichtigsten Vertreter(innen) aufführt. Die Vorstellung der Vielzahl von Autor(inn)en erstreckt sich von der rein namentlichen Erwähnung über die Nennung einzelner biobibliographischer Details bis hin zum ausführlichen Porträt mit Abdruck einzelner Gedichte oder Auszüge daraus. Dabei stützt Vf. sich auf einschlägige Anthologien, darunter die eingangs genannten.

Die ersten zwei Kapitel sind den Schulen gewidmet, die traditionell die beiden entgegengesetzten Seiten der poetischen Kreation verkörpern und als extreme Pole auch das Feld der Gegenwartspoesie strukturieren: „l’école de l’émotion, du rythme des mots, de la compréhension, voire de la musique“ (113) einerseits und „l’école de la recherche sur le langage, du rejet a priori de toute émotion, de tout lyrisme […], de l’éclatement du signifiant, d’un hermétisme savant par tendance et définition“ (113) andererseits. Letztere von Strukturalismus und Surrealismus beeinflusste Strömung greift Maxence unter dem Titel „La ligne blanche“ (21–30) an und legt bereits den entgegen seiner Zielsetzung alles andere als objektiven Charakter seines Essays frei. Unlesbar, langweilig und elitär sei diese „poésie blanche“ (24), genau wie ihre Vertreter, „enfants naturels d’André du Bouchet“ (21), darunter Jacques Dupin, Michel Deguy, Bernard Noël, Yves Bonnefoy und Jacques Roubaud, die ihren Erfolg mitunter ihrer Nähe zum Kapital verdankten (24). So begrüßt er die zunehmende Abwendung von dieser „poésie de laboratoire“ (29) hin zu einer lesbareren und lyrischen Form der Poesie (31–42), die aus der 1941 von Jean Bouhier gegründeten École de Rochefort hervorgeht und sich heute im Gegensatz zur erstgenannten Schule einer lebendigen und großen Nachkommenschaft erfreut. Die Themen ihrer Gedichte – Natur, Landschaft und Ökologie – leiten sich aus dem „humanisme laïc proche de la nature“ (32), der „écologie romantique“ (32) ihrer Vorläufer ab. Zu den direkten Nachfolger(inne)n zählen Jacques Taurand und Jacques Simonomis, zu den späteren Michel Héroult, Jean-Pierre Lesieur und Nathalie Picard. Der Konflikt zwischen diesen beiden Grundtendenzen der Poesie spiegelt sich in der Rivalität zwischen den Marseiller Poet(inn)en des Cahier critique de poésie sowie des Centre international de poésie de Marseille und des von Paris aus organisierten Printemps des poètes, wie Maxence in einem gesonderten Kapitel erläutert (111–8).

Im dritten Kapitel (43–58) behandelt Jean-Luc Maxence, Herausgeber der Anthologie de la poésie mystique contemporaine10, sein Steckenpferd. Den Begriff ‚mystique‘ fasst er sehr weit als „indépendance de l’âme par rapport à la matière ou, dans le sens baudelairien, d’aspiration vers l’infini“11 (43) und nicht zwingend an den Glauben an einen Gott gebunden. Dennoch sammelt Vf. unter dem Titel „La source mystique“ (43) in erster Linie christliche Dichtung. Unter den durch die Bank älteren Vertretern wie Pierre Oster und Gérard Pfister, Leiter der christlichen Éditions Arfuyen, finden sich auch jüngere Ausnahmen, so Jean-Pierre Lemaire, Philippe Delaveau und Étienne Orsini, den er als besondere Entdeckung des 21. Jahrhunderts befürwortet und selbst mit Le Nouvel Athanor verlegt.

Den Neo-Surrealisten, einer sehr heterogenen Gruppe von Autoren, von denen keiner an André Breton heranreiche, ist das vierte Kapitel (59–65) gewidmet: „Aucun de ces auteurs n’a le génie du maître, sa colère, son imagination, sa force d’insurrection“ (60). Während beispielsweise Christophe Dauphin seine überbordende Inspiration nicht immer geeignet ins Werk setzen könne (61), sei Alain Jouffroy hingegen schon jetzt eine Legende durch sein Engagement im Medium einer „poésie inventive et impertinente“ (61). Marc Alyn und Jean Orizet lobt der Verfasser für ihren „activisme poétique, sympathique et utile“ (64).

In „La poésie dite ‚féminine‘“(67–75) fasst Maxence Autorinnen unterschiedlichster Herkunft zu einer eigenen Strömung zusammen, nicht ohne zu prophezeien, dass diese Differenzierung nach Geschlechtern in Zukunft hinfällig sein werde. Für die Dichtung von Andrée Chedid aus Ägypten, Vénus Khoury-Ghata, Nohad Salameh und Béatrice Bonhomme-Villani aus den Maghreb-Staaten, Anne Perrier aus der französischen Schweiz sowie Nicole Brossard und Hélène Dorion aus Québec hält Vf. diese Differenzierung aber offensichtlich noch für notwendig und gerechtfertigt.

Männliche Autoren, die auf Französisch schreiben, aber nicht aus Frankreich kommen, finden ebenfalls in zwei gesonderten Kapiteln Erwähnung. In „Francophones et francophiles“ (77–84) werden „les poètes importants du monde islamo-arabe qui poétisent en langue française“ (83) vorgestellt. Die Auswahl ist mit Autoren wie Salah Stétié, Tahar Ben Jelloun und Abdellatif Laâbi wenig überraschend. Daneben wird auch der aus dem Irak stammende und in Frankreich lebende Salah al-Hamdani vorgestellt (81–3). Zu den bereits im vergangenen Jahrhundert bekannten Autoren der „négritude au xxie siècle“ (85–8), darunter Aimé Césaire, Édouard Glissant und Jean Métellus, kommt mit James Noël ein junger, von Bruno Doucey verlegter Autor (87–8).

Mit den maßgeblich von der Beatgeneration beeinflussten Poet(inn)en der 68er untersucht Maxence eine weitere Strömung des 20. Jahrhunderts, die einen Einfluss auf die Poesie der Gegenwart hat (89–98). Als Referenzwerk dient Bernard Delvailles Anthologie12. Maxence greift einige der dort aufgeführten Poeten, so Frank Venaille et Pierre Tilmann, sowie mit Valérie Rouzeau eine Poetin heraus. Aufgrund der journalistischen und verlegerischen Tätigkeit mancher dieser Autoren schließt Vf. eine Reflexion über die Vereinbarkeit des schriftstellerischen Schaffens mit anderen Berufen an – für Maxence ein „dilemme de Janus“ (94). Bei Michel Baglin, Herausgeber der Onlinezeitschrift Texture, halten literarisches Schreiben und Verlagstätigkeit einander wie in nur wenigen Fällen die Waage (94–5).

Die bei dieser Generation mitunter gegebene Verbindung von Politik und Poesie ist heute bei einer weiteren Gruppe von Autoren, den „poètes militants“ (99–104), zu finden. Hierzu zählen Francis Combes „gaucho-libertaire“ (100), Henri Deluy, Gründer der Zeitschrift Action poétique, René Depestre aus Haiti, Unterstützer Fidel Castros und Che Guevaras, sowie Roland Nadaus, langjähriger Bürgermeister von Guyancourt (101–2).

Auch der Dialog zwischen Poesie und Philosophie wird in der Gegenwart fortgeführt (105–10). Aktuell gehören die „poètes-philosophes“ (105) in der Regel einer älteren Generation an, so „Max Alhau le taciturne, Anne Teyssiéras l’énigmatique“ (105) und „Michel Deguy, le fougueux“ (106). Doch gibt es jüngere Ausnahmen, z.B. Antoine Emaz, Philippe Beck und Jean-Louis Giovannoni, denen der Verfasser zwar die Kenntnis der großen Philosophen zuschreibt, deren Dichtung er aber als „électrique et froide, toujours !“ (109) bezeichnet.

Eine Reihe von „étonnants poètes voyageurs“ (119–26) formen in der Nachfolge Blaise Cendrars’, für den Reisen einer „initiation poétique perpétuellement recommencée“ (119) gleichkommt, eine weitere Gruppe: Alexandre Romanès, einer Zirkusfamilie und „culture tzigane“ (120) entstammend, André Velter, Leiter des Bereichs für Poesie bei Gallimard und Vielreisender, Jean Chatard, dessen Poesie von seinen Reisen mit der Marine beeinflusst ist, sowie Jean-Marie Berthier als einer der bedeutendsten Vertreter, der auf fünf verschiedenen Kontinenten gelebt hat (120–6).

Viel Raum gibt Vf. in den letzten Kapiteln neuen Formen, die die aktuelle Poesie Frankreichs maßgeblich prägen: „Il tombe sous le bon sens que ce livre, conçu comme un panorama critique, restera de bout en bout ouvert à toutes les formes poétiques vivantes, y compris le slam, la poésie sonore, digitale et ce qui peut encore apparaître comme des pratiques assez peu orthodoxes et marginales, mais où se niche sans aucun doute un versant important de la poésie de demain : son chant populaire“ (14). Zu den Spielarten der mündlichen Poesie (127–33), die heute eine wachsende Konkurrenz für die schriftliche Poesie darstellt, zählt Maxence die „poésie-spectacle“ (111). Den Begriff leitet Maxence von Guy Debords „société du spectacle“ (111) ab und siedelt diese Form in der Tradition von Dadaismus und Surrealismus an, ohne sie jedoch näher zu charakterisieren. Ihre Vertreter, „quelques […] troubadours farfelus du macadam, redresseurs de torts, devant un décor libertaire souvent, entre performeurs et diseurs de rue, quelques inclassables […]“ (127) sind u.a. Jean-Pierre Verheggen aus dem Umfeld der Zeitschrift TXT und Jimmy Gladiator, der sich zwischen Postsurrealismus und Anarchismus bewegt (127–8). In der Zeitschrift Java und bei den ihr nahe stehenden Poet(inn)en spielt die poetische Performance und mit ihr die körperliche Seite der Poesie eine besondere Rolle, „tant l’appel à la sonorité, avec bruits, onomatopées, mots criés, ruminés et répétés“ (129). Hier wären Charles Pennequin mit seiner „poésie sonore“ (129) und Hervé Brunaux zu nennen. Sonderformen der mündlichen Poesie sind Slam und Rap, die besonders ausführlich vorgestellt und definiert werden: Ihnen sind ihre Herkunft aus den USA, die Bedeutung des Rhythmus und der Ausdruck von Protest gemeinsam. Im Slam nehmen überdies Improvisation, Dialog und Inszenierung einen wichtigen Platz ein (145–9).

Daneben revolutionieren das Internet und soziale Netzwerke die Poesie der Gegenwart (151–60): „Un nouveau monde de signes et d’émerveillements se lève“ (160). Für diese Publikationsformen sind ihr ephemerer Charakter sowie die mit ihrer einfachen und schnellen Zugänglichkeit verbundene Schwierigkeit, Blogs und Websites mit literarischem Anspruch und Wert zu finden, kennzeichnend. Letztere gilt es, mit dem ihnen eigenen Rhythmus und Stil lesen zu lernen. Als Blogs von Qualität nennt Maxence z.B. „Etc-iste“ von Thomas Vinau, „La Méduse et le Rénard“ von Guillaume Siaudeau sowie die Blogs von anaTene Fishturn (155–8). Bedauerlich ist, dass Maxence an dieser Stelle nicht auf die poésie numérique eingeht, die ja die eigentliche Revolution im Bereich der poetischen Kreation, nicht nur ihrer Publikation, darstellt. Vielleicht ist dem Verfasser die digitale Kunst, die den Fokus erneut auf die Materialität des Zeichens legt, ebenso wenig geheuer wie die im ersten Kapitel behandelte Poesie des sprachlichen Experimentierens. Wer diese Lücke füllen möchte, kann bei Roberto Simanoswki13 einen allgemeinen Überblick über digitale Poesie erhalten.

Im Épilogue (161–3) betont Maxence die Subjektivität und Vorläufigkeit seiner Darstellung sowie die Schwierigkeit der Vorhersage, welche der vorgestellten Autor(inn)en von bleibender Bedeutung für die literarische Welt sind: „il ne peut en effet exister que des tableaux personnels permettant de se faire une idée de la richesse du présent“ (162). Damit kommt Vf. dem, was dieser Essay leistet, schon näher als mit seinem eingangs gesetzten Ziel einer objektiven Bestandsaufnahme der Gegenwartspoesie. „[C]e recul indispensable et ce sang-froid qui permettent de maintenir une certaine lucidité de non-partisan a priori“ (18), die Maxence eingangs als notwendig für sein Vorhaben nennt, sind nicht immer gegeben. Sein ironischer, flapsiger, umgangssprachlicher und metaphorischer Stil geht einher mit stark subjektiven, anscheinend von persönlichen Befindlichkeiten des Autors – selbst Poet – geprägten Wertungen. Seine Ausführungen scheinen zum Teil stark auf die Sicht eines männlichen, linksalternativen Autors fortgeschrittenen Alters beschränkt und für eine ähnliche Zielgruppe geschrieben: Der Autor richtet seine Kritik gegen alles, was er als elitär und prätentiös empfindet. Autorinnen finden bei ihm in erster Linie auf neun Seiten in dem Kapitel zum weiblichen Schreiben Platz. Dass schriftstellerisches Talent unabhängig von Herkunft und Hautfarbe ist, hebt der Verfasser besonders hervor: „Poètes arabes, noirs, jaunes ou papous, que nous importe! Le talent est partout, et doit être le seul passeport des poètes“ (88). Ebenso integriert er zwar neue Formen der Poesie, verwendet aber gleichzeitig viel Raum darauf, dies zu rechtfertigen: „Alors, acceptons les métamorphoses du temps présent“ (152). Diese Haltung entspricht der einer Generation, die nicht mit Internet und sozialen Netzwerken aufgewachsen ist. Das Explizieren dessen, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, strengt mitunter bei der Lektüre an. Die stark assoziativen und zum Teil wenig kohärenten Ausführungen erschweren es überdies, grundlegende Charakteristika der einzelnen Tendenzen herauszufiltern. Präzise Abgrenzungen und Definitionen der einzelnen Strömungen sind nicht immer in ausreichendem Maß gegeben. In jedem Fall ist dieser Essay aber ein Versuch eines ordnenden Überblicks und eine umfassende Zusammenschau von aktuell in französischer Sprache schreibenden Lyriker(inne)n, deren Namen Maxence auch aus Bereichen zusammengetragen hat, in die die Poesie heute sukzessive vordringt und für die es noch keine umfassende Darstellung gibt, namentlich das Internet und die Bühnen und Straßen unserer Städte. Aufgrund der Unübersichtlichkeit und der zeitlichen Nähe des Untersuchungsgegenstands ist dies eine nicht zu unterschätzende Leistung.

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Um das in Au tournant du siècle skizzierte Bild der französischen Gegenwartspoesie zu vervollständigen, sei als Ergänzung vergleichend eine Publikation herangezogen, die 2015 beim Verlag lemieux erschienen ist und sich demselben Untersuchungsgegenstand widmet: Françoise Siris Le panorama des poètes: enquête sur la poésie francophone du xxie siècle. Die Journalistin stellt in diesem Band 33 Poeten in alphabetischer Reihenfolge auf je ca. sechs Seiten vor: „Je vous propose, pour chacun, trois ,entrées‘ possibles: un portrait croqué sur le vif, un entretien avec le poète – comme dans la vie, il vous parle à bâtons rompus de ses centres d’intérêt –, et bien sûr des poèmes“ (16). Jedes Porträt beginnt mit einer griffigen Unterüberschrift, die dem Namen der Autorin bzw. des Autors folgt und in der Siri schlaglichtartig formuliert, was die jeweilige Dichtung bzw. die Dichterpersönlichkeit ausmacht. So lautet der Untertitel bei der bereits im letzten Jahrhundert als großen Poetin gefeierten Andrée Chedid „Voir plus haut que le mur“ (90) – ein Motto, das die Künstlerin laut eigenen Angaben durch ihr Leben getragen hat und auch ihr Werk kennzeichnet. In einem essayistischen und fragmentarischen Stil zeichnet Françoise Siri anschließend die Porträts der Autor(inn)en, reiht biobibliographische Details aneinander und flicht Zitate der Poet(inn)en selbst ein. Es folgen auf zwei weiteren Seiten Auszüge aus Interviews mit den Schriftsteller(inne)n, die Vf. in den meisten Fällen persönlich getroffen hat. Die Fragen heben größtenteils auf den Bezug der Poeten zur (bzw. ihren Platz in der) Gesellschaft, ihre Positionierung hinsichtlich der Themen, die diese aktuell umtreibt, sowie ihr eigenes Schreiben ab. So kreisen die Gespräche um Politik, Geschichte, Rassismus, Faschismus, Minderheiten, Exil, Sprache und Identität, Reisen, Journalismus, Werbung, Literaturbetrieb, Sport, Natur, Glaube und Musik – und natürlich die Poesie selbst. Anschließend können sich die Leser(innen) anhand von Gedichten bzw. Gedichtauszügen, in vielen Fällen Erstveröffentlichungen, selbst ein Bild des literarischen Schaffens der Schriftsteller(innen) machen. Bei den abgedruckten Gedichten überwiegen klassische Formen, doch finden auch neue und experimentelle Ausprägungen, z.B. die poésie sonore Pauline Catherinots (72–7) und die Poesie in Gebärdensprache Mathilde Chabbeys (78–83) ihren Platz.

Ca. zwei Drittel der porträtierten Schriftsteller sind auch in Au tournant du siècle zu finden. Wie Maxence bemüht sich Siri um einen vielfältigen und breit gefächerten Zugang, um ihrem Untersuchungsgegenstand in seiner Mannigfaltigkeit gerecht zu werden. Dies geschieht bei ihr freilich nicht durch eine möglichst große Zahl an Autor(inn)en, sondern vielmehr durch eine entsprechende Auswahl: „Les poètes que vous allez rencontrer sont de tous styles et de tous âges, de 35 à 100 ans. La variété vous permet de voir ce livre comme celui de tous les chemins possibles en poésie […]“ (17). Neben oft schon im letzten Jahrhundert etablierten Größen wie Georges-Emmanuel Clancier und Jacques Roubaud tauchen gleichberechtigt (noch) unbekannte Namen auf, etwa Adeline Baldacchino und Emmanuelle Favier. Anders als Maxence, macht die Journalistin macht bereits im Titel deutlich, dass ihr Panorama Künstler jeglicher Herkunft, die in französischer Sprache schreiben, darunter auch Nicht-Muttersprachler(innen), umfasst. Zudem besteht ein beinahe ausgewogenes Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Autoren. Ein Drittel der Autoren sind weiblich, was dem Verhältnis zwischen Poetinnen und Poeten in der Realität entspricht.14 Somit scheint ihre Heterogenität und Vielfalt, die Maxence für seinen Essay so herausstreicht, bei Siri natürlicher und selbstverständlich gegeben. Der Titel zeigt überdies, dass es sich zwar wie bei Maxence um einen Überblick handelt, die Herangehensweise jedoch eine andere ist. Die Schreibenden, nicht die Poesie, stehen im Vordergrund. Siri nimmt nicht den Versuch einer Synthese vor, sondern gibt auf 226 Seiten den Stimmen der Dichterpersönlichkeiten selbst viel Raum – die Polymorphie der Gegenwartspoesie kommt in dieser Polyphonie ihrer Vertreter(innen) zum Ausdruck. Die Tatsache, dass auf dem Buchumschlag die Namen aller Poet(inn)en aufgeführt sind, macht dies auf den ersten Blick erkennbar.

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In beiden Publikationen geht es nicht nur darum, einer breiten Leserschaft eine Übersicht über die französische bzw. französischsprachige Poesie des 21. Jahrhunderts zu geben, sondern dieser überhaupt zu größerer Sichtbarkeit zu verhelfen. Jean-Luc Maxence stellt in seinem Vorwort fest: „La poésie d’aujourd’hui semble parfois claque-murée dans un certain anonymat obligé; elle manque de crédibilité, de diffusion, de promotion, de visibilité. Elle est condamnée à une marginalisation de fait, en somme“ (17). Die Frage nach der Gegenwartspoesie ist also immer auch an die Frage nach ihrer Verbreitung geknüpft, wie bei beiden besprochenen Verfassern deutlich wird. Siris Porträts geht eine Untersuchung der aktuellen Rolle der Poesie sowie der Poet(inn)en selbst in der Gesellschaft, insbesondere im Literatur- und Kulturbetrieb, voraus, in der wir erfahren ,dass es sich in erster Linie um das Fehlen einer „visibilité institutionnelle“ (13) handelt. Bei Festivals, allen voran dem Printemps des poètes und dem Marché de la Poésie, steht die Poesie durchaus im Rampenlicht und erfreut sich steigender Zuschauerzahlen. In Buchhandlungen hingegen fristet sie ein Schattendasein. So kommt neben den Selbstverlagen besonders kleinen Verlagen, denen die Entdeckung und Bekanntmachung neuer Autor(inn)en oftmals zu verdanken ist, eine hohe Bedeutung zu (9–17). Dies wird auch bei Maxence – selbst Gründer eines kleinen Verlags für Poesie, Le Nouvel Athanor,– gleich zu Beginn deutlich: Er widmet seinen Band den großen Verlegern von Poesie: Pierre Seghers, Jean Breton, Bruno Durocher und Pierre-Jean Oswald. An weiteren Stellen hebt er die Verdienste der Verleger(innen), deren Namen oft an die Seite der von ihnen publizierten Poet(inn)en gestellt werden, sowie der Zeitschriften für Poesie wie NU (e), Nunc, Po&sie, Europe, Midi, Les Hommes sans Épaules (103) hervor.

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Hinsichtlich der geringen Sichtbarkeit der Poesie in der Gesellschaft betont Jean-Pierre Siméon, künstlerischer Leiter des Printemps des Poètes, in seinem Vorwort zu Siris Publikation: „contrairement à ce qu’on voudrait nous faire croire […] [,] les poètes sont ici et maintenant bien présents parmi nous dans la cité […] [,] ces veilleurs attentifs qui interrogent sans cesse la vie telle qu’elle se fait, telle qu’elle se perd, telle qu’elle se rêve“ (7). Unter dem Schirm Siméons einleitender Worte steht die Poesie bei Siri im Zeichen der Zeitzeugenschaft, ebenso bei Maxence. Zu Beginn von Au tournant du siècle unterstreicht Vf. durch Zitate von Léon-Gabriel Gros und Vladimir Jankélévitch die Bedeutung der Zeitzeugenschaft und leitet seinen Essay mit den Worten „Le temps passe, la poésie témoigne“ (7) ein. Die Poesie als „mauvaise conscience de son temps“ (16), hier wird Saint-John Perse zitiert, sie gibt Zeugnis besonders von den Dingen, die unsichtbar und unsagbar sind. Der Poet, der nicht in seinem Elfenbeinturm sitzt, sich auch nicht mit formalen Experimenten und Bauchnabelschau seiner eigenen Disziplin zufrieden gibt, sondern mit seinem Leben und Werk fest im gesellschaftlichen und menschlichen Miteinander verankert ist, davon Zeugnis gibt, es verstehen hilft und gleichzeitig hinterfragt, steht also im Zentrum beider Publikationen. In den von Siri geführten Interviews erscheint die Poesie als aktiver Faktor der sozialen Teilhabe. So hebt beispielsweise Jeanine Baude im Gespräch mit Siri hervor: „le poète […] est un acteur de la vie, du quotidien. Il agit“ (51). Dass die Poesie „résistance“ (Michel Baglin, 27, vgl. auch Jeanine Baude, 51, Bruno Doucey, 135) oder (mit den Worten Jeanine Baudes) eine „ forme de lutte“ (49) sein kann, illustriert Claude Beausoleil am Beispiel des Printemps érable in Québec, in dem die Poesie wie während der Révolution tranquille wieder auf Spruchbändern und an Mauern gesprayt auftauchte (57). Für Werner Lambersy, geb. 1941 in Anvers als Sohn einer jüdischen Mutter und eines Vaters, der sich der Waffen-SS anschloss, ist die Poesie, wie die Kultur im Allgemeinen, „[celle] qui combat le fascisme“ (159). Freilich ist die revolutionäre Kraft der Poesie nicht in erster Linie in Form eines direkten Beitrags zu gesellschaftlichen Umwälzungen zu verstehen. Vielmehr macht die Poesie im Medium der Sprache vor, wie Systeme untergraben und neu geschaffen werden können und ist so ein Ort „d’autres visions du monde et de la vie“ (128), wie die Québecer Autorin Hélène Dorion unterstreicht. Die Poesie agiert auch im Kleinen, im zwischenmenschlichen Bereich als „recherche de communion“ (Siri, 96), so bei Andrée Chedid, und, laut Beausoleil, als „lien universel entre les hommes“ (Siri, 56). Michel Baglin bringt dies wie folgt auf den Punkt: „La poésie manifeste au fond une forme de confiance dans le fait que la communication profonde entre les êtres est possible. C’est en cela qu’elle reste vitale!“ (Siri, 27).

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Die vorgestellten Publikationen ergänzen sich gut und sind kurzweilig und leicht zu lesen. Vertiefte literaturwissenschaftliche Kenntnis über das Gebiet wird man durch sie nicht erlangen, doch eignen sie sich dafür, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Eine vergleichende Lektüre erlaubt es überdies, Aussagen über zentrale Charakteristika der französisch(sprachig)en Poesie der Gegenwart zu treffen: In erster Linie sind hier ihre Heterogenität und Hybridität, die geringe Sichtbarkeit der schriftlichen Poesie und die damit verknüpfte Notwendigkeit ihrer Sichtbarmachung, ihre Verankerung in der Gesellschaft im Sinne einer Zeitzeugenschaft und ihre Fähigkeit, mit der Zeit zu gehen und sich neuen technologischen Entwicklungen nicht nur anzupassen, sondern sie als Erweiterung ihrer Ausdrucks- und Publikationsformen nutzbar zu machen, zu nennen. Da sich beide Bände explizit an eine breite Leserschaft statt eines Fachpublikums richten, sollte man diese mit den adäquaten Erwartungen in die Hand nehmen. Im Falle von Siri überzeugt v.a. das Format, das die Stimmen der einzelnen Autor(inn)en erklingen lässt. Hilfreich ist auch die Zusammenstellung von Internetseiten, Zeitschriften und Festivals bzw. anderen Veranstaltungen für Poesie im Anhang. Wünschenswert wären gleichwohl etwas längere Bibliographien, die das weiterführende Lesen erleichtern. Maxence kann in erster Linie als Fundgrube empfohlen werden. Gerade im Bereich der Blogs und Internetseiten wagt sich der Verfasser auf neues Terrain vor, was umfassende Recherchearbeiten voraussetzt haben mag.15 Sowohl Au tournant du siècle als auch Le Panorama des poètes sind gute Ausgangspunkte für tiefer gehende Recherchen.


  1. Gwen Garnier-Duguy, „Jean-Luc Maxence“, www.recoursaupoeme.fr/rencontre/jean-luc-maxence/gwen-garnier-duguy, aufger. am 04.05.2016. Hieraus das Titelzitat.

  2. Z.B. Bernard Delvaille, La Nouvelle Poésie française: anthologie (Paris: Seghers, 1977), 5–17.

  3. Serge Brindeau, Hrsg., La Poésie contemporaine de langue française depuis 1945 (Paris: Saint-Germain-des-Prés, 1973).

  4. Robert Sabatier, Hrsg., Histoire de la poésie française, Bde. 6–9 „La poésie du xxe siècle“ (Paris: Albin Michel, 1988).

  5. Jean Orizet, La Poésie française contemporaine (Paris: Cherche-Midi, 2004).

  6. Jean Rousselot, Panorama critique des nouveaux poètes français (Paris: Seghers, 1952).

  7. Delvaille, La Nouvelle Poésie française.

  8. Maxence äußert sich zu seinem Vorhaben in Garnier-Duguy, „Jean-Luc Maxence“, wie folgt: „‚Rassembler ce qui est épars‘ s’avère pour moi un réflexe vital, autant dire une thérapeutique! Je rêve, sur ce plan, d’être un successeur de Jean Rousselot, de Serge Brindeau, de Bernard Delvaille, de Robert Sabatier, d’Alain Bosquet même, en moins catégorique toutefois. Le public jugera. Le public et le temps également“.

  9. Vf. zitiert hier Rousselot, Panorama critique des nouveaux poètes français, ohne Seitenangabe.

  10. Jean-Luc Maxence, Hrsg., Anthologie de la poésie mystique contemporaine (Paris: Presses de la renaissance, 1999).

  11. Vf. zitiert sich hier selbst aus Anthologie de la poésie mystique contemporaine, ohne Seitenangabe.

  12. Delvaille, La Nouvelle Poésie française.

  13. Z.B. Roberto Simanoswki, Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation: zum Verstehen von Kunst in digitalen Medien (Bielefeld: transcript, 2012).

  14. Françoise Siri in „Les mots migrateurs“, radio RGB 99.2 FM, 01.09.2015.

  15. Der Verfasser verweist hier auf die Unterstützung durch den befreundeten Poeten Dominique Boudou.





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