Zur europäischen Wirkungsgeschichte des Orlando Furioso
Sergio Zatti
Christian Rivoletti, Ariosto e l’ironia della finzione: la ricezione letteraria e figurativa dell’Orlando Furioso in Francia, Germania e Italia (Venezia: Marsilio, 2014), 464 S.
Übersetzung aus dem Italienischen von Dr. Robert Lukenda. Für ihre sachdienlichen Hinweise bei der Revision der Übersetzung sei Prof. Dr. Gisela Schlüter besonders gedankt.
In seiner Studie behandelt Christian Rivoletti ein wenig bekanntes und weitgehend vernachlässigtes Kapitel der Ariostschen Rezeptionsgeschichte und greift dabei eine Reihe entscheidender Fragen auf, die nicht nur wesentliche Aspekte des Orlando Furioso, sondern der Gattung Roman im Allgemeinen berühren. Im Zentrum seiner Untersuchung steht die Wiederaufwertung der Rolle der Ironie, die während der Aufklärung in Frankreich einsetzte und dann in Deutschland bei Hegel, zuvor jedoch bereits in der Jenenser Frühromantik umfassend erfolgte.
Die Geringschätzung der Ariostschen Ironie von Seiten der klassizistischen Poetik ist historisch betrachtet ein Phänomen, das mit der Marginalisierung des Romans einhergeht. Als dieser eine Aufwertung erfuhr, erlebte auch sie als zentrales Wesenselement dieser Gattung die entsprechende Würdigung.
Die Kernthese dieser Untersuchung lautet jedoch, dass die Wiederentdeckung der Ironie historisch gesehen um einiges früher erfolgte und sich auf eine Art und Weise vollzog, die sich vom Muster der Ästhetik Hegels unterschied, der den Begriff monopolisierte, ihn jedoch einseitig und in Teilen irreführend behandelte. Die Vorstellung der Fiktionsironie, die das Moderne am Ariostschen Epos ausmacht und es zu einer Art Gründungstext einer neuen, von der Tradition abweichenden Gattung macht, ist vielmehr auf die romantische Idee der Ironie zurückzuführen. Die Akzentverschiebung ist überaus bedeutsam: Hegel zufolge mit der Ariostschen Ironie die Ära der schönen ritterlichen Märchen, deren Platz durch die ‚Realität‘ eingenommen wird (jene, die sich im Don Quijote fest etabliert und auf den bürgerlichen Roman des 18. 19. Jahrhunderts vorausweist); für Schiller, Friedrich Schlegel und Schelling hingegen mit jenem bewussten Fingieren, jener Selbstbezüglichkeit des Ich-Erzählers die Epoche des modernen Romans. Die historische Neuerung liegt demnach in einer Ironie, die mit der fiktionalen Dimension der Erzählung spielt – ein Phänomen, das nicht nur rhetorische Verfahren betrifft, sondern im Orlando Furioso Züge einer Poetik erkennen lässt, die (obwohl sie sich nur implizit und bruchstückhaft zeigt) für die Theorie des modernen Romans doch von erheblicher Bedeutung ist. Nach Ansicht Rivolettis zeichnet sich die Fiktionsironie durch eine Dynamik aus, die zwischen zwei Polen oszilliert: Auf der einen Seite steht die durchgängige Identifikation des Erzählers mit seiner Welt sowie der (einer bekannten Formel Coleridges zufolge) kontinuierliche Glaube an die Illusion der erzählten Geschichte, der dem Leser vermittelt werden soll; auf der anderen eine wiederholte Distanzierung von dieser Geschichte mittels auktorialer Verfahren ironischer Prägung:
La ‚finzione‘, intesa come costruzione dell’illusione artistica, e l’‚ironia‘, intesa come la rottura di tale illusione attraverso una presa di distanza ironica dalla propria materia e dunque una riflessione critica sulla storia narrata, sono i due momenti dialettici di questa estetica.
Seit langem betone ich die Rolle und Bedeutung des Orlando Furioso als eines narrativen Prototyps im europäischen Kontext. Das Ariostsche Meisterwerk ist ein Musterbeispiel des Exports italienischer Modelle und zeugt in dieser Hinsicht von einer literarischen Hegemonie Italiens, die sich jedoch im Laufe eines Jahrhunderts erschöpfen sollte (das letzte Werk von europäischer Tragweite ist Marinos Adone, Paris 1623). Wenngleich diese Tradition in Italien keine Nachahmer fand, so fiel dieses Erbe in den nachfolgenden Jahrhunderten doch in anderen Ländern Europas auf fruchtbaren Boden und förderte eine Strömung des Romans, die sich bis zum Don Quijote und damit zu einem Werk zurückverfolgen lässt, das erwiesenermaßen stark vom Orlando Furioso inspiriert ist. Diese Subjektivierung des Erzählens, diese digressive Struktur und scheinbare Anarchie im Handlungsschema ist von manchen als ‚Sterne-Effekt‘ bezeichnet worden1, gerade mit Blick auf die tiefere Genealogie dieser Verfahren wäre es jedoch treffender, von einem ‚Ariost-Effekt‘ zu sprechen. Ein Verdienst des Buches von Christian Rivoletti liegt vor diesem Hintergrund sicherlich darin begründet, dass es die Rezeptionsgeschichte dieser Techniken ausführlich dokumentiert und deutlich macht, inwieweit diese strukturellen Neuerungen ausgerechnet von den deutschen Romantikern aufgegriffen worden sind – antizipiert nur von Voltaire in Frankreich und Wieland in Deutschland.
Bei Rivolettis Untersuchung handelt es sich um eine weit ausgreifende komparatistische Studie zur europäischen Rezeption des Orlando Furioso, die ihre Systematik und Stringenz sicherlich auch aus der Tatsache bezieht, dass der Verfasser, dessen akademische Wurzeln in Pisa – bekanntermaßen ein Zentrum der Ariost-Forschung – liegen, mittlerweile in Deutschland lehrt und forscht und daher auch gut mit der dortigen hermeneutischen Tradition vertraut ist. Wie schon erwähnt, fokussiert sich seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf den deutschen Kontext, wenngleich die Studie erhellende Erkenntnisse auch zum Bereich der französischen und englischen Ariost-Rezeption liefert, insofern fügen sich die Teile zu einem systematischen Gesamtbild an Perspektiven, die das Phänomen auf eine bisher ungekannte Weise in den Blick nehmen. Die hier folgende schrittweise Zusammenfassung der behandelten Themen soll der intellektuellen Dichte und soliden Recherche Rechnung tragen, auf der die Untersuchung aufbaut.
Das erste Kapitel ist dem Konzept der Fiktionsironie gewidmet. Schon mit dieser methodologischen Wahl wird hier ein anderer Zugang zum behandelten Phänomen beschritten, der sich von gängigen Auffassungen der Ariostschen Ironie dadurch abgrenzt, dass er die Hegelsche Vorstellung und ihre nach wie vor tonangebende Wirkung berichtigt.
Überraschenderweise stößt man gerade im Zeitalter des französischen Klassizismus (Kap. 2) und damit in einem Klima der Indifferenz und Blindheit gegenüber der Ironie Ariosts auf drei brillante reécritures Ariostscher Episoden in den Contes en vers La Fontaines, den Voltaire als den wichtigsten Schüler Ariosts in Frankreich bezeichnen sollte. Meisterhaft nutzt La Fontaine jene bigarrure wahrscheinlicher und fantastischer Elemente, wie er es nennt, und übernimmt dabei eine Reihe von Verfahren aus dem Orlando Furioso, die auf den beiden zentralen Modi des Ironischen im Erzählen Ariosts beruhen: das Eindringen des Erzählers ins Geschehen und die wiederholten Unterbrechungen des Erzählflusses.
Voltaire, der im Laufe seines Lebens seine anfänglichen Ambivalenzen gegenüber dem Orlando Furioso (den er zunächst als ein „monstre admirable“ bezeichnet hatte) überwinden sollte, verfasste in seinem späten Beitrag zur Epopée einen enthusiastischen Abschnitt, in dem er die Bedeutung der Verknüpfung von scherzhaftem und ernstem Stil hervorhob, die den Orlando Furioso auszeichnet und diesen zu einem Werk macht, das sich deutlich von der traditionellen Epik unterscheidet (Kap. 3). Genau diese Ariostsche Mischung der Stile und Stoffe nutzt Voltaire in seinem epischen Experiment La Pucelle d’Orléans – einem Werk, in dem das geistreiche und gekonnte Spiel mit der narrativen Fiktion, das durch systematische Eingriffe des Erzählers in das Geschehen geprägt ist, als historische Innovation des Orlando Furioso bezeichnet wird. Dabei wird ausdrücklich unterstrichen, dass sich die ‚Turpinsche‘ Ironie Ariosts, die immer dann zum Tragen kommt, wenn es darum geht, die absurdesten Begebenheiten mit dem Verweis auf die angeblich historische Überlieferung zu rechtfertigen, um damit letztendlich den sorglosen, ‚unkritischen‘ Gebrauch der literarischen Fiktion in der ritterlich-höfischen Gattung ins Lächerliche zu ziehen, in mancherlei Hinsicht als Vorläuferin und Komplizin der aufklärerischen, gegenüber historisch gewachsenen Autoritäten und Traditionen überaus aggressiven Ironie erweist.
Das Gesamtbild der Untersuchung wird darüber hinaus durch eine Analyse vervollständigt, die sich mit der Rezeption des Orlando Furioso in der Bildenden Kunst beschäftigt. In diesem Zusammenhang zeigt der Verfasser, wie nur wenige Jahre nach dem Tod Voltaires der Künstler Fragonard versuchte, auch die narrative Subjektivierung des Epos bildlich umzusetzen. Die (im Kapitel 7 ausführlich behandelte) Frage, wie es möglich ist, die Ariostsche Fiktionsironie im Bild festzuhalten, löst Fragonard, indem er die Figur des Erzählers ins Bild bringt (ein Verfahren, das in mancherlei Hinsicht den Spiegelungen in Velasquez’ Gemälde Las Meninas ähnelt).
Die Kapitel 4 und 5 sind von zentraler Bedeutung für die Untersuchung:
Im 4. Kapitel verlagert sich der Fokus vom französischen auf den deutschen Kontext. So unterschieden die deutschen Literaturtheoretiker in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwischen einer klassischen und einer neuen romanischen (und romanesken) Epik, die von Ariost über Voltaire bis in die Gegenwart des Dix-huitième zu Schriftstellern wie Sterne und dessen ungewöhnlichem Roman Tristram Shandy führt. Mit Recht wird der theoretischen und anwendungsorientierten Intuition eines Wieland breiter Raum gewährt – einer Figur, die in Deutschland die Mode der ‚romantisch-ariostischen‘ Epen begründen sollte, welche mehr als 30 Jahre andauern sollte (insbes. Abschnitt 4.3: „Wieland e la moda dei poemi romantico-ariosteschi“). Das überaus reiche Repertoire der Ironie nutzte dieser, um eine neue Affinität zu skizzieren, auf deren Basis das Ariostsche Epos und der englische Roman des 18. Jahrhunderts sich in einer überraschenden historischen Kontinuität miteinander verschränkten. Diese Verbindung ergab sich auf einem gemeinsamen Terrain, das bereits durch den Orlando Furioso mit seinen Digressionen, seinen ironischen Erzählereingriffen und den vielfältigen Verknüpfungen der Handlungsstränge erschlossen worden war.
In Kapitel 5 behandelt Rivoletti vertieft Fragen der ästhetischen Theorie und verdeutlicht dabei die Entwicklung der Ariost-Rezeption im Rahmen der deutschen Frühromantik. Nach Ansicht Schillers in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung ist die Präsenz der Erzählerstimme das zentrale Unterscheidungsmerkmal zwischen moderner und alter Dichtung. Schlegel zufolge war es möglich, auf der Grundlage des Konzepts der romantischen Ironie Ariost, Cervantes und Shakespeare als frühe und bedeutende Vorbilder zum Kreis der modernen Dichter zu zählen. Neben der Tatsache, dass Schlegel am Furioso den leichten und „geselligen“ Ton, den Witz und die Fantasie sowie die bereits von Voltaire bewunderte gelungene „Mischung von Scherz und Ernst“ schätzte, hob er auch die „arabeske“ Struktur des Werkes hervor: Im Rahmen einer Neuinterpretation des Ariostschen ut pictura poësis sah er die malerischen Qualitäten des Orlando Furioso nicht nur in dessen Fähigkeit, Figuren und Situationen zu ‚zeichnen‘, sondern vor allem auch darin, eine Gesamtkomposition zu entwerfen, die einer eleganten Arabeske ähnelt (Abschnitt 5.2.3. „Dalla struttura arabescata al romanzo contemporaneo“ und 307). Mittels dieses Schlüsselkonzepts der romantischen Ästhetik wagt Schlegel den Vergleich zwischen dem „Romanzo der Italiäner“ der Renaissance (der bereits im 16. Jahrhundert in den ersten Verteidigern Ariosts – den Ferrareser Theoretikern Giambattista Giraldi, gennant Cinzio, und Giambattista Pigna – gegenüber den Angriffen aus dem Milieu der Klassizisten seine wichtigsten Fürsprecher fand) und den Beispielen des zeitgenössischen Romans (wie Sternes Tristram Shandy und Diderots Jacques le Fataliste). Schlegels Verdienst besteht vor allem darin, dass er die Frage der Verwandtschaft zwischen Epos und Roman (die bereits im Cinquecento der Gegenstand von leidenschaftlichen Auseinandersetzungen war) in seinem Brief über den Roman wieder aufwarf und begrifflich neu gefasst hat. Dabei hat er nicht zuletzt auch die Bedeutung der Ironie als Distinguens narrativer Codes erkannt. Für ihn liegt der Unterschied zwischen antikem Epos und modernem Roman in der Präsenz einer Subjektivitätsdimension begründet, die sich in einer sprunghaften und unvorhersehbaren Konstruktion artikuliert und in einer humoristisch-rhapsodischen Weise entfaltet. In diesem Zusammenhang fällt der Ironie eine überaus spezifische Funktion zu: Sie fungiert nämlich als ein Gradmesser für jene erzählerische Fähigkeit, der eigenen Materie Glauben zu schenken, sich voll und ganz in sie zu vertiefen, sich zugleich jedoch auch bewusst von ihr zu distanzieren. In diesem Sinne ist der moderne Roman sowohl Roman als auch Reflexion über den Roman – sowohl Erzählung als auch Infragestellung der Möglichkeit des Erzählens selbst.
In seiner Ästhetik hat Hegel den darauffolgenden Generationen ein anderes Ironiekonzept vermittelt, aus dem die Ariost-Rezeption der Frühromantiker nahezu vollkommen verschwand. Diese Tradition sollte über Jahrzehnte auch die idealistische Literaturkritik von De Sanctis über Croce bis hin zu Pirandello beeinflussen (Kap. 6). Anders verhält es sich mit Calvino, für den die Ariostsche Ironie just aus dem Grund modern und aktuell ist, da sie mit dem Verhältnis von Fiktion und Realität spielt und fortwährend zwischen den Polen der Selbstbezüglichkeit auf der einen und der Referenz auf der anderen Seite oszilliert, was für eine bestimmte Spielart des modernen Romans charakteristisch ist. Auf dieser Prämisse basiert letztlich auch Calvinos Rückgriff auf die Ariostsche Ironie, die nicht nur seine Trilogie I nostri antenati und die berühmte Nacherzählung des Orlando Furioso, sondern sein gesamtes literarisches Œuvre seit den ersten Zeugnissen einer fantastischen und zugleich realistischen Erzählweise (Il sentiero dei nidi di ragno) durchzieht.
Kommen wir jedoch nun auf zwei von Rivoletti behandelte zentrale Aspekte zurück, um weitere Implikationen seiner facettenreichen Analyse nachzuverfolgen. Rivoletti verweist in seiner Analyse auf gewisse, durchaus überraschende Schnittstellen zwischen zwei historischen Debatten, die – obwohl zeitlich auseinanderliegend – in einen Zusammenhang gebracht werden. Dies erfolgt auf der Grundlage ihres gemeinsamen ‚antiklassizistischen‘ Kampfes, der im Orlando Furioso seine Wurzel hat – genauer gesagt: im Phänomen der Fiktionsironie.
Die im 16. Jahrhundert geführte Kontroverse über die Epik und den Roman (man könnte noch hinzufügen: über die Frage des künstlerischen Primats von Tasso oder von Ariost) befeuerte eine der langwierigsten Kontroversen der italienischen Literaturgeschichte und führte zu einer lange anhaltenden Missbilligung der Gattung des Romans von Seiten der Gralshüter der triumphierenden klassizistischen Poetik. Dabei handelte es sich keineswegs um eine müßige Debatte zwischen Gelehrten. Vielmehr drückte sich darin ein narratologischer Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Erzählformen aus. Die im Namen der aristotelischen Orthodoxie formulierten Vorwürfe der Unregelmäßigkeit, der Anomalie und Inkohärenz des Orlando Furioso bestätigten ex negativo die Modernität des Werkes, die heutzutage gewissermaßen auf der Hand liegt und es erlaubt, den Orlando Furioso als den strukturellen Prototyp jener Form des modernen Romans zu betrachten, der sich über die Offenlegung der narrativen Verfahren und die Selbstbezüglichkeit des Erzählers definiert. Als Produkt einer außergewöhnlichen Hybridisierung erzählerischer Gattungen, Modi und Stile (einer berühmten Definition Tassos zufolge ist der Orlando Furioso ein „animal d’incerta natura“) würde dem Roman formal betrachtet keine eigenständige Position innerhalb des Gattungsspektrums zustehen, da er sein Wesen einzig und allein der Verletzung jener ästhetischen Prinzipien verdankt, die das Heldenepos kennzeichnen. Vor diesem Hintergrund liegt das Verdienst der Ferrareser Giraldi und Pigna darin begründet, dass sie den klassizistischen Verächtern des Orlando Furioso Regeln und Muster im Werk vor Augen geführt haben, wo auf den ersten Blick nur erzählerische Anarchie und Grenzüberschreitung zu sehen sind. Die Emanzipationsbestrebungen vom klassischen Kanon, dessen Verfechter bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung des Orlando Furioso auf eine ‚Normalisierung‘ der Anomalien des Textes bedacht waren, führten letztlich zu einer Fixierung auf dessen vermeintlich ‚antiklassizistischen‘ Charakter, der mit zeitlichem Abstand im Tristram Shandy geradezu entfesselt hervorbricht. In dieser Hinsicht ist der Sternesche ‚self-conscious narrator‘ ein direkter Abkömmling des klugen Ariostschen Regisseurs und zeugt implizit vom Beitrag Ariosts zur Modellierung des allwissenden Erzählers, wie er sich im englischen Roman des 17./18. Jahrhunderts etabliert. Mit seinem Verfahren der Fiktionsironie hat der italienische Dichter ein wesentliches Paradigma zur Anatomie des Romans beigesteuert. Auf diese Weise avanciert Ariost vom Zeugen und Diagnostiker der Krise der Renaissance zu einem Stammvater der Moderne.
Die deutschen Romantiker sahen in Ariosts Epos einen „fantastischen Romanzo“ (Schlegel), während dasjenige Tassos für sie ein „sentimentaler Romanzo“ (Schlegel) war (279). Schlegel hat dies in seiner berühmten Definition des Romantischen, dass „das romantisch [ist], was uns einen sentimentalen Stoff in einer fantastischen Form darstellt“2, zum Ausdruck gebracht. In ihrem antiklassizistischen Feldzug bedienten sich die Romantiker aus dem Repertoire der Vorläufer des modernen Romans romanischer Provenienz, um ihren neuen ‚Kanon‘ zu schmieden, der dem klassischen Paroli bieten sollte. Sobald Schlegel die Bestimmtheit der post-klassischen Kunst nicht mehr als negative Bestimmtheit auffasst, kann er die neuen Instrumenten und Verfahren des romantischen Konzepts zur Anwendung bringen.
Letztendlich ist Ariosts Ironie-Konzept also jener Faden, der die tieferen historischen Wurzeln des Romanesken mit dessen pulsierender, lebendiger Aktualität verbindet; diese Ironie ist der Grund für die fortwährenden Neulektüren und -interpretationen des Orlando Furioso in der Moderne und der Gegenwart, die von historischer Vitalität zeugen; diese Ironie wird sein gegenwärtiges und zukünftiges Los beeinflussen. Die formalen Strukturen des Textes selbst zum Thema zu machen, wie es Ariost tut, heißt keineswegs eine formalistische Lesart der Ironie zu liefern, die die abgedroschenen Stereotype der Verweigerung und der Evasion bemüht. Der in einigen dekonstruktivistischen und postmodernen Lesarten des Orlando Furioso erzeugte Kurzschluss von Selbstbezüglichkeit und Abwesenheit von Referenzialität muss vor diesem Hintergrund als abwegig erscheinen, da es stattdessen um eine ernsthafte und konsistente Reflexion Ariosts über die Möglichkeiten und Grenzen der literarischen Wirklichkeitsdarstellung geht.
Wie aus diesen Überlegungen hervorgeht, beleuchtet Rivolettis Analyse nicht nur einfach eine Episode der Wirkungsgeschichte des Ariostschen Epos, sondern berührt eine Problematik, die mit der nachträglichen Neulektüre des Orlando Furioso verknüpft ist und diesen in den Bereich einer Erzähltradition rückt, die ihn erstaunlich modern erscheinen lässt, nicht nur zufällig und willkürlich, sondern tatsächlich auch als Projektionsfläche. Von entscheidender Bedeutung ist diesbezüglich der Übergang der Ironie vom Ritterlichen (Hegel) hin zum Romanesken der deutschen Romantiker: Damit erscheint das Ariostsche Epos nicht mehr als ein parodistischer Abgesang obsolet gewordener antiker Formen, sondern gewissermaßen als Vorstufe der Entstehung neuer Verfahren, die den modernen Roman charakterisieren sollten.
Es zeichnet Rivolettis Untersuchung in diesem Sinne aus, dass sie die Betrachtung einer Etappe der Rezeptionsgeschichte des Ariostschen Werkes mit der Reflexion über die Ursprünge des Romanesken verknüpft hat. Es sei an dieser Stelle noch kurz auf zwei weitere Formen der europäischen Rezeption hingewiesen, die zum Teil bereits erforscht, die jedoch im Lichte der neuen Erkenntnisse des vorliegenden Buches zu vertiefen bzw. mit den Ergebnissen Rivolettis zusammenzuführen sind.
Sowohl Scott in England als auch Stendhal in Frankreich waren beide erklärte Bewunderer des Ariostschen Modells. Mit dem Verweis auf die Pluralität der Handlungsstränge, die er vom italienischen ‚digressive poet‘ übernimmt, rechtfertigt Scott seine eigene Digressionstechnik – jedoch nicht, ohne die Notwendigkeit zu bekräftigen, die Vielfältigkeit der Handlungen mit der Kontinuitätswahrung der Geschichte in Einklang zu bringen und beide Elemente in einen kohärenten und einheitlichen Erzählrahmen einzubetten. Im Zentrum der Scottschen Aufmerksamkeit steht das Problem der Zeit in der Erzählung und Ariost verstand sich besser als alle anderen auf die Zerstückelung der Zeit (und die Erzeugung von Gleichzeitigkeitseffekten der Handlung), ohne dabei jedoch die Kohärenz der Geschichte zu beeinträchtigen.
Was Stendhal anbelangt, so hat er von Ariost die Technik der Montage gelernt. Diese wird durch ein ironisches Prinzip bestimmt, demzufolge die Episoden des Orlando Furioso nicht isoliert, sondern vielmehr in der Sequenz zu betrachten sind, in der sie angeordnet, nebeneinandergestellt werden, wodurch kontrapunktische und relativierende Effekte erzielt werden. Mit Stendhal vollendet sich die Wirkungsgeschichte Ariosts: Hier zeigt sich, dass der unterhaltsame, hellsichtige und phantasievolle Ariost ernsthaft ein Lehrmeister in Sachen narrativer Technik für nachfolgende Generationen von Romanschriftstellern werden konnte.
Giancarlo Mazzacurati, Effetto Sterne: la narrazione umoristica in Italia da Foscolo a Pirandello (Pisa: Nistri-Lischi, 1990).↩
Friedrich Schlegel, „Gespräch über die Poesie“, in Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hrsg. von Hans Eichner (Paderborn: Schöningh, 1967), 333.↩
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