„Oh Europa! Europa!“
Zu Roland Alexander Ißlers Untersuchung der Rezeption des Europa-Mythos in den romanischen Literaturen
Anne Kraume
Roland Alexander Ißler, Europa Romanica: Stationen literarischer Mythenrezeption, Analecta Romanica 84 (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2015).
Europa und Europa – mit dem Verweis auf eine rhetorische Pointe aus Friedrich Nietzsches Jenseits von Gut und Böse umreißt die umfangreiche Dissertation des Bonner Romanisten Roland Alexander Ißler das Spannungsfeld, das die Rede über Europa immer ausgemacht hat: So zeigt das Nietzsche-Zitat mit seiner Apostrophe „Oh Europa! Europa!“, dass der Name Europa seit jeher eine doppelte Semantik transportiert, weil er sich eben nicht nur auf den Kontinent und dessen wechselvolle Geschichte bezieht, sondern auch auf die in Homers Ilias erstmals erwähnte mythische Figur gleichen Namens. Die Verbindung und teilweise Gleichsetzung zwischen dem Europa und der Europa ist allerdings, das hebt Ißler in seinen einleitenden Überlegungen im Anschluss an Nietzsches polemischen Ausruf hervor, keineswegs so evident, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. So bezweifelt schon Herodot, dass die Benennung des Kontinents tatsächlich auf den Mythos von der Entführung der phönizischen Prinzessin durch den Göttervater Zeus zurückgeht, wenn er in seinen Historien darauf verweist, dass die Prinzessin aus Asien stamme und nie in den Erdteil gekommen sei, der ihren Namen trägt.
Homer mit seinem Hinweis auf Europa als eine von mehreren Liebschaften des Göttervaters Zeus und Herodot mit seinem Zweifel an der Gleichsetzung von Prinzessin und Kontinent begründen auf diese Weise zwei unterschiedliche Europadiskurse, die im Verlauf der folgenden Jahrhunderte nur schwer voneinander abzugrenzen sein werden, und deren Wechselwirkung sich bis in die moderne Ikonographie nachverfolgen lässt: Wenn Karikaturen den Kontinent auch heute noch im Rückgriff auf das mythische Bild von der Prinzessin und dem Stier darzustellen versuchen, dann zeigt sich darin einmal mehr die nur scheinbar unproblematische Verbindung dieser beiden Diskurse, nämlich des einen, der das Augenmerk vor allem auf die Geschichte der Entführung der mythischen Prinzessin legt, und des anderen, der Europa als politische und geographische Entität in den Blick nimmt. Ausgehend zunächst von Nietzsches fundamentaler Infragestellung der Eponymie und in der Folge der Feststellung der daraus resultierenden grundsätzlichen Ambiguität des Europabegriffs trennt nun allerdings die Studie von Roland Alexander Ißler scharf zwischen den beiden Rezeptionssträngen: Ihr Interesse gilt, das macht der Verfasser von Anfang an deutlich, allein dem Strang des Mythos von der phönizischen Prinzessin und ihrer Entführung, denn die Rezeptionsgeschichte des historischen Werdens des (geo-) politischen und kulturellen Europa-Gedankens sei dank einer ganzen Reihe von Publikationen gerade aus den letzten Jahren weitgehend aufgearbeitet. Vor diesem Hintergrund hebt Ißler allerdings zu Recht hervor, dass der Europamythos wie alle Mythen alles andere als eindeutig interpretierbar und festschreibbar ist: Vielmehr hat die Geschichte von der Entführung der Prinzessin durch den göttlichen Stier (die man wahlweise als glückliche Brautreise oder aber als rücksichtslose Vergewaltigung interpretieren kann) im Laufe der Zeit die unterschiedlichsten Lektüren provoziert, je nach Interesse, Herangehensweise und Kontext.
Angesichts dieser Ambiguität des Mythos versteht sich seine Dissertation deshalb als „systematische […] Beschreibung der Mythosrezeption Europas“ (24) in den romanischen Literaturen vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert. Das Ziel der Studie ist es insbesondere, wenig erforschte und bisher kaum erschlossene Texte ausfindig zu machen, sie zu kontextualisieren und zu kommentieren, so erklärt der Autor in seiner Einleitung (vgl. 25), und entsprechend ist seine Vorgehensweise strikt literaturgeschichtlich und philologisch. Auf die systematisch argumentierende Einleitung zur doppelten Rezeption Europas (eben als Mythos einerseits und als Kontinent andererseits) folgen chronologisch geordnete Einzelkapitel, die beginnend mit einem kurzen Aufriss zu Antike und Spätantike und endend mit einer Darstellung des Mythos im Symbolismus und in der Moderne jeweils eine literarhistorische Epoche und deren jeweilige Rezeption des Europamythos in den Blick nehmen. Ihren Abschluss findet die Untersuchung mit einer knappen Zusammenfassung der Ergebnisse der einzelnen Analysen, in der noch einmal die wechselvolle Rezeptionsgeschichte des Mythos über die Jahrhunderte hinweg in den Blick genommen und in der schließlich dessen zeitlose Gültigkeit jenseits der unterschiedlichen Rezeptionsmuster und deren sich wandelnder Relevanz konstatiert wird.
Bereits in früheren Publikationen hat sich Roland Alexander Ißler als Experte für eben die Frage nach dem „Mythos Europa“ und seiner Rezeptionsgeschichte profiliert, die er jetzt in seiner Dissertation systematisch aufarbeitet; hervorzuheben sind hier seine 2006 unter dem Titel Metamorphosen des ‚Raubs der Europa‘: der Mythos in der französischen Lyrik vom frühen 14. bis zum späten 19. Jahrhundert (Bonn: Romanistischer Verlag, 182 S.) publizierte Magisterarbeit und vor allem ein im Jahr 2009 zusammen mit Almut-Barbara Renger herausgegebener und mehr als 30 Beiträge umfassender Band Europa – Stier und Sternenkranz: von der Union mit Zeus zum Staatenverbund (Bonn: University Press, 656 S.), der auch einen Beitrag der beiden Herausgeber zu ‚Stier und Sternenkranz: Europa in Mythos und Geschichte‘ (und also abermals eine Reflexion der doppelten Rezeption Europas) enthält. Tatsächlich gründet die Dissertationsschrift auf den genannten Arbeiten, ihr Anspruch geht aber weit darüber hinaus: So zeichnet sie sich nicht nur durch ihre historische Tiefenschärfe, sondern auch durch ihre geographische und kulturelle Breite und entsprechend durch einen die Literatur nahezu der gesamten Romania umfassenden und durchaus kenntnisreichen Zugriff auf ihren Stoff aus, der es dem Autor erlaubt, Aktualisierungen des Mythos beispielsweise durch Ronsard und Du Bellay ebenso zu kommentieren wie Versionen von Giambattista Marino, Luis de Góngora, Giacomo Leopardi, André Chenier, Victor Hugo, Federico García Lorca oder auch Rubén Darío. Dass nun ein solch breiter Zugriff notwendigerweise auch die unterschiedlichsten literarischen Gattungen und deren jeweilige spezifische Herangehensweisen miteinander in Verbindung setzt (ein Kapitel widmet sich so beispielsweise „Europa im Theater und in der Musik“ im 17. und 18. Jahrhundert), das trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass Ißlers Studie umfassend im besten (nämlich nicht nur quantitativen) Sinne genannt werden kann.
Sein Vorgehen in den einzelnen Kapiteln ist dabei durchaus konventionell, ohne dass dieser Umstand dem Werk zum Schaden gereichen würde. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass die Kapitel in Aufbau und Methodik jeweils demselben Muster folgen, trägt entscheidend zur Übersichtlichkeit ebenso der einzelnen Analysen wie der Argumentation im Ganzen bei. Eine entscheidende Qualität der Arbeit ist darüber hinaus ihr abstrahierender Blick auf das zu untersuchende Phänomen. So verliert sich Roland Alexander Ißler niemals in seinen stellenweise durchaus kleinteiligen Einzelinterpretationen, sondern es gelingt ihm immer wieder aufs Neue, aus einzelnen Beobachtungen verallgemeinerbare Gesetzmäßigkeiten und größere Zusammenhänge herauszudestillieren, die es ihm erlauben, ausgehend von seiner Frage nach der Mythenrezeption grundsätzlichere Schlüsse über die Entwicklung der europäischen Literatur zu ziehen. So widmen sich beispielsweise drei aufeinander folgende Kapitel zum spanischen Siglo de Oro einem Phänomen, das der Autor als „typisch spanisch […]“ (380) charakterisiert, nämlich der Tatsache, dass der Stier in seinen literarischen Aktualisierungen in unterschiedlicher Weise funktionalisiert werden kann, nämlich nicht nur als mythischer Entführer Europas, sondern auch als dessen Tierkreiszeichen und gerade im spanischen Zusammenhang nicht zuletzt auch als konkreter Stier der Corrida. Entsprechend separiert auch Ißler sein barockes Textkorpus in drei Teile und untersucht in drei aufeinander folgenden Kapiteln zunächst die mythologisch inspirierte Liebesdichtung des spanischen Siglo de Oro, sodann den Stierkampf und zuletzt die astronomischen Implikationen der Geschichte des Raubs der Europa (vgl. 380).
Angesichts der Fülle des Materials, mit dem Ißler arbeitet, hat diese explizit abstrahierende Vorgehensweise den Vorteil, dass seine Leser und Leserinnen die Analysen und deren wesentliche Erkenntnisse rasch überblicken können, dass der Gedankengang und die Argumentation stets nachvollziehbar bleiben und dass auf diese Weise der Eindruck der Unübersichtlichkeit vermieden werden kann, den das umfangreiche Textkorpus anderenfalls leicht hervorrufen könnte. Auch die kurzen, aber immer präzisen Verweise innerhalb der Arbeit selbst funktionieren ähnlich: Auch hier dient beispielsweise der Blick zurück auf schon behandelte Themengebiete der Abstraktion von sehr konkreten Analysen und damit nicht zuletzt auch der Verallgemeinerbarkeit der Überlegungen.
Unter der Überschrift „Zwischen Lust und ‚Desengaño‘: Europa in der spanischen Liebeslyrik des ‚Siglo de Oro“‘ baut auf diese Weise das erste der drei erwähnten Kapitel zum spanischen Barock explizit auf die vorangegangenen Ausführungen zur Neubelebung des Mythos in der europäischen und vor allem italienischen Renaissance auf, um so die Anfänge der literarischen Rezeption des Mythos auf der iberischen Halbinsel plausibel zu machen. Dabei entfaltet die Analyse ihre eigene Produktivität aber vor allem in einem Kontext, in dem es darum geht, die spezifisch spanischen Besonderheiten vor diesem allgemein literaturgeschichtlichen Hintergrund der europäischen Renaissance herauszuarbeiten und etwa aufzuzeigen, dass der Mythos in dieser Zeit gerade in Spanien oftmals negativ konnotiert ist und dass dort ungleich häufiger als in Frankreich oder Italien moralische Verurteilungen des Ehebruchs zu verzeichnen sind, den Zeus mit Europa begeht. Solche über die konkrete Fragestellung hinausgehenden literatur- und kulturgeschichtlichen Erkenntnisse sind es, die Ißlers Studie auch für ein Publikum lesenswert machen, dessen Interesse womöglich nicht unmittelbar der Frage nach den Aktualisierungen des Europamythos gilt: Am Beispiel dieses Mythos schreibt Ißler vielmehr eine exemplarische Geschichte der romanischen Literaturen seit der Spätantike, deren Anschaulichkeit die Herangehensweise vieler überblicksartig angelegter Handbücher und Nachschlagewerke in den Schatten stellt, deren analytische Präzision sich zugleich aber mit derjenigen von einschlägigen thematisch organisierten Monographien zu einzelnen Autoren oder bestimmten Epochen messen kann. Dass die Studie mit einer Betrachtung des „Europamythos als Projekt der Avantgarde“ endet und dass insofern große Teile des 20. Jahrhunderts und das beginnende 21. Jahrhundert ausgeklammert bleiben, muss dabei kein Manko sein. Vielleicht gilt es vielmehr, die Frage nach dem Europa-Mythos gerade für die Jahrzehnte neu zu stellen, in denen es nach der Konstituierung der Europäischen Union auch zu einer veränderten Auseinandersetzung mit dem antiken Mythos kommt. Der ambivalente Verweischarakter des Namens „Europa“ (als Heldin einer Liebesgeschichte und als Kontinentalevokation) eröffnet der Literatur jedenfalls auch in der Gegenwart immer neue Möglichkeiten der Entwicklung.
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