Tagungsbericht: „Literaturwissenschaften in Frankfurt, 1914 – 1945“

Fachgeschichtliche Rückblicke auf die universitäre Germanistik und Romanistik in Frankfurt am Main

Frank Estelmann

Im Rahmen des Kongresses „Literaturwissenschaften in Frankfurt, 1914 – 1945“, der von Bernd Zegowitz (Germanistik) und Frank Estelmann (Romanistik) am 20. und 21. Juni 2014 an der Universität Frankfurt am Main organisiert wurde, gaben 13 Vortragende an zwei Tagen Einblicke sowohl in die Geschichte als auch in exemplarische Werke von Literaturwissenschaftlern, die in der Zeit zwischen der Universitätsgründung im Jahr 1914 und dem Ende des Nationalsozialismus 1945 an der Universität Frankfurt lehrten und forschten.

In der ersten Sektion des Kongresses skizzierte zunächst der Direktor des Universitätsarchivs der Universität Frankfurt, Michael Maaser, die Geschichte der Universitätsgründung insbesondere im Blick auf die Philosophische Fakultät, in der die Literaturwissenschaften ihren Platz hatten. Ihm ging es besonders um strukturelle Fragen nach der personellen Ausstattung und der methodischen Ausrichtung der Fakultät ebenso wie um statistische Fragen nach den Studierenden, die die dort beheimateten Fächer anfänglich studierten. Maaser skizzierte in seinem Vortrag ein institutionelles Kräftefeld, bestehend aus Vertretern der Universität wie dem Germanisten Friedrich Panzer, der Stadt Frankfurt, den kaiserlichen Bildungsinstitutionen in Berlin und den anderen hessischen Universitäten, in dessen Mitte die universitären Literaturwissenschaften in Frankfurt entstanden.

Alexander Kalkhoff (Regensburg) setzte in seinem folgenden Vortrag einige Lebensläufe namhafter deutscher Romanisten wie Oskar Schultz-Gora oder Eduard Wechssler (Der Neuphilologe zu Felde in Frankreich1) in ein Verhältnis zur patriotischen Weltkriegsbegeisterung zwischen 1914 und 1918. Deren Äußerungen im Umkreis des Krieges stellte er die weitaus nüchterneren Beiträge von Literaturwissenschaftlern an den universitären Neugründungen in Hamburg (wie Bernhard Schädel) und Frankfurt (wie Matthias Friedwagner) gegenüber. Die Gründe für die diesen letzteren Beiträgen eignende Zurückhaltung band Kalkhoff an das Fachverständnis der genannten Literaturwissenschaftler ebenso zurück wie an den Einfluss des liberalen städtischen Umfeldes, deren weitere gemeinsame Geschichte er bis in die 1920-er Jahre nachvollzog.

Michael Ott (Heidelberg) analysierte in seiner Darstellung des Frankfurter Wirkens des Begründers des Germanistenverbandes, Friedrich Panzer, besonders die Gründungsphase der Universität Frankfurt im Übergang von der Vorgängerinstitution, der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften. Neben Panzers Arbeiten zur Inschriftenkunde und dessen ebenfalls markantem Interesse an zeitgenössischer Literatur, die er für die höhere Lehrerbildung fruchtbar machen wollte, stand sein Beitrag zur Universitätsgründung und sein institutionelles Wirken in Frankfurt im Zentrum von Otts Interesse. Ott diskutierte ausführlich, warum bereits die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften mit Panzer einen Philologen zu ihrem Rektor gewählt hatte.

Bernd Zegowitz (Frankfurt) beschäftigte sich in seinem Vortrag danach mit dem Werdegang und Werk des später an die Universität Berlin wechselnden Frankfurter Neugermanisten Julius Petersen. Zegowitz betonte dabei Petersens wenig bekanntes Engagement für das literarische Leben der Stadt Frankfurt – er war z.B. an Volksvorlesungen beteiligt – und die Tatsache, dass Petersen noch vor seiner weitaus besser bekannten Berliner Zeit eine moderne Theaterwissenschaft im Sinne der Theaterreformbewegung in Frankfurt begründete.

Peter-Erwin Jansen (Frankfurt/Koblenz) nahm sich in seinem Vortrag über den Soziologen und Literaturwissenschaftler Leo Löwenthal u.a. die wenig bekannten Vorträge dieses Mitbegründers der Kritischen Theorie im jüdischen Lehrhaus Frankfurt in den 1920-er Jahren vor. Er zeigte dabei, dass Löwenthal in dieser Zeit auch dank seines demokratischen Bildungsideals in praktisch noch unerforschter Intensität das literarische Leben der Stadt Frankfurt geprägt hatte. Die in Frankfurt erarbeiteten philologischen Positionen, die ihn als einen gerade im akademischen Kontext der Universität Frankfurt nonkonformistischen Begründer der modernen Literatursoziologie ausweisen, zeichnete Jansen dann bis in die Zeit von Löwenthals Emigration in die USA nach.

Schließlich konnte Astrid Dröse (Tübingen) im letzten Vortrag des ersten Tages dem weniger bekannten Arnold Hirsch nicht nur ein Gesicht geben, das diesen als streng neuphilologisch orientierten und an der Gegenwartsliteratur interessierten Nachwuchswissenschaftler im Kontext der Frankfurter Germanistik der 1920-er Jahre zeigt. Hirschs starkes Interesse an literatursoziologischen Fragestellungen indiziert, dass die Frankfurter Universität mit der gleichzeitigen Vertreibung von Löwenthal und Hirsch im Jahr 1933 die Chance zu einer methodischen Neuorientierung der Literaturwissenschaften verpasste. Die Überzeugung Hirschs, dass die Literatur als soziologisches Gewissen ihrer Zeit zu verstehen sei, die an Löwenthals Satz von der Literatur als ‚geborgter Erfahrung‘ erinnert, und die gleichzeitige kulturwissenschaftliche Öffnung, die Hirsch damit verband, wurden auf diese Weise aus Frankfurt verbannt. Gleiches geschah mit Löwenthals Interesse an einer Verbindung von literatursoziologischen und psychoanalytischen Fragestellungen.

Olaf Müller (Mainz) eröffnete den zweiten Kongresstag mit einem Beitrag zu den essayistischen Weltkriegsschriften des Romanisten Helmut A. Hatzfeld. Deren völkerverständigende, pazifistische Zielrichtung betonte er und hob sie von den kriegshetzerischen Schriften einiger romanistischer Kollegen ab. Hatzfeld kam dann durch die Vermittlung Friedwagners Anfang der 1920-er Jahre nach Frankfurt, wo er die Sache der Völkerverständigung in Wort und Tat weiter verfolgte.

Ulrich Wyss (Frankfurt) warf im Anschluss einen intensiven Blick in die kaum bekannte Frankfurter Habilitationsschrift des Germanisten Max Kommerell aus dem Jahr 1930. Er zeigte dabei, wie sehr diese nicht publizierte Studie (mit dem Titel Die Stabkunst des deutschen Heldenliedes2) auf das sich erst im Laufe der 1930-er Jahre in Frankfurt und Marburg eigentlich entfaltende akademische Werk Kommerells vorauswies. Kommerells bekanntlich selbst schon literarische ‚Orakelsprache‘ war, wie sich zeigte, einer der Gründe für die Kontroversen innerhalb der Philosophischen Fakultät über diese Qualifikationsschrift, die Wyss ebenfalls rekonstruierte.

Ernst Beutlers Wirken in und für die Universität zwischen 1928 und der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 stand dann im Zentrum der Ausführungen von Joachim Seng (Freies Deutsches Hochstift/Goethe-Haus, Frankfurt). Von der Überzeugung, die Universität sei ein Ort der geistigen Freiheit, bis hin zum Anteil Beutlers an den reeducation-Maßnahmen bei der Wiedereröffnung der Universität (am 1. Februar 1946), reicht dabei die historische Chronologie einer Karriere, die vom Freien Deutschen Hochstift aus von Beutler in Verwaltung, Lehre und Forschung in mannigfaltiger Art mit der Universität verknüpft wurde.

Der Vortrag von Frank Fürbeth (Frankfurt) über den Altgermanisten Julius Schwietering schloss thematisch daran an, legte allerdings einen größeren Schwerpunkt auf die Aktivitäten Schwieterings in der Zeit des Nationalsozialismus. Schwieterings Verstrickungen in das NS-Regime und dessen Universitätspolitik erweisen sich dabei als beträchtlicher als gemeinhin angenommen, und dies nicht nur auf institutioneller Ebene, auf der sich Schwietering erst in Frankfurt und dann in Berlin mit den Nationalsozialisten mehr als arrangierte. Schwieterings wissenschaftliche Interessen dieser Periode sind ebenfalls zeitgeschichtlich geprägt, wie es etwa sein Insistieren auf dem deutschen Gehalt des Parzival in der Parzival-Studie (monographisch 1946 unter dem Titel Parzivals Schuld3 publiziert) oder seine Beiträge zur sog. „Aktion Ritterbusch“ Anfang der 1940-er Jahre dokumentieren.

Von der Aussage, dass nicht nur literarische, sondern auch wissenschaftliche Texte komplexe Konstellationen seien, näherte sich Michael Waltenberger (Frankfurt) dem Werk Friedrich Ohlys, der seine wissenschaftliche Karriere in den 1930-er Jahren in Königsberg und dann in Frankfurt begann. Waltenberger las Ohlys 1938 abgeschlossene Doktorarbeit zu Sage und Legende in der Kaiserchronik4 und insbesondere dessen Lektüre des Rolandslieds sowohl in wissenschaftshistorischer wie zeitgeschichtlicher Perspektive. Er zeigte dabei produktive Spannungen in der wissenschaftlichen Arbeit Ohlys auf, gegenüber dem national verformten, literarhistorischen Blick ebenso wie gegenüber dem kollektiven Kriegswillen Ende der 1930-er Jahre.

Frank Estelmann (Frankfurt) schließlich las die Geschichte der Frankfurter Romanistik mit Blick auf Cervantes’ Don Quijote. Anhand der Beiträge und Reden, die Frankfurter Literaturwissenschaftler wie Matthias Friedwagner, Helmut A. Hatzfeld oder Hellmuth Petriconi zwischen 1906 und 1948 über Cervantes’ Ritter mit der traurigen Gestalt schrieben und hielten, rekonstruierte er die Geschichte einer produktiven Rezeption, die biographisch, methodisch und institutionell die Geschichte der Frankfurter Romanistik abzubilden gestattet. Zudem hat diese Geschichte durch die Braunfels’sche Übersetzung des Werks Frankfurter Ursprünge, die bis in das späte 19. Jahrhundert zurückreichen.

Die Vorträge, die auf dem Kongress „Literaturwissenschaften in Frankfurt, 1914 – 1945“ gehalten wurden, konnten von den Ergebnissen eines studentischen Lehrforschungsprojekts zur Wissenschaftsgeschichte der Frankfurter Literaturwissenschaften profitieren. Dieses Projekt war in den beiden Semestern zuvor bereits in einer Lehrkooperation zwischen dem Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik und dem Institut für Romanische Sprachen und Literaturen von den beiden Organisatoren des Kongresses an der Universität Frankfurt durchgeführt worden. Dessen Ergebnisse waren in einer Online-Ausstellung dokumentiert worden, die eine Reihe von detaillierten Forscherbiographien5 und studentischen Essays enthält. Einzusehen ist diese Ausstellung weiterhin unter der Adresse: http://www.uni-frankfurt.de/49616340/LitwissinFfm. Die Kongressakten werden im Wallstein-Verlag (Göttingen) erscheinen.


  1. Eduard Wechssler, Der Neuphilologe zu Felde in Frankreich: ein Gruß aus der akademischen Heimat (Marburg: Elwert, 1918).

  2. Vgl. Viola Grossbach, Christina Lena Koch und Leona Winkler, „Frankfurter Literaturwissenschaftler“, http://use.uni-frankfurt.de/literaturwissenschaftler/kommerell.

  3. Julius Schwietering, Parzivals Schuld: zur Religiosität Wolframs in ihrer Beziehung zur Mystik (Frankfurt a.M.: Klostermann, 1946).

  4. Ernst Friedrich Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik: Untersuchungen über Quellen u. Aufbau d. Dichtung (Münster: Aschendorff, 1939).

  5. Bis dato zu den Literaturwissenschaftlern Hennig Brinkmann, Wilhelm Emrich, Matthias Friedwagner, Hans Hermann Glunz, Helmut Anthony Hatzfeld, Arnold Hirsch, Max Kommerell, Germann August Korff, Josef Kunz, Leo Löwenthal, Erhard Lommatzsch, Bodo Mergell, Ernst Erich Noth, Friedrich Ohly, Friedrich Panzer, Julius Petersen, Hellmuth Petriconi, Franz Schultz, Julius Schwietering und Martin Sommerfeld.





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