Warum man sich in eine norditalienische Stadt im Meer begeben sollte, oder: Das Deutsche Studienzentrum in Venedig
Romedio Schmitz-Esser
A parte il barista sbadigliante e la matrona assisa dietro il registratore di cassa, immobile, simile a un Buddha, tutt’intorno non si vedeva un’anima. Ma noi tre non potevamo far molto l’uno per l’altro, perché io avevo già dilapidato quasi tutto il mio capitale di italiano: il termine “espresso” l’avevo già usato due volte.1
Die Erfahrung der Einsamkeit in einer Bar am venezianischen Bahnhof Santa Lucia, von der Iosif Brodskij hier in der italienischen Version seiner Fondamenta degli incurabili erzählt, kennt wohl jeder Reisende, der sich über seine Verständigungsgrenzen hinaus in ein Land begeben hat, dessen Sprache er kaum beherrscht. Und nicht selten geht es dem deutschen Reisenden in der Lagunenstadt, wie es Goethe in seinen Venezianischen Epigrammen beschreibt:
Müde war ich geworden, nur immer Gemälde zu sehen,
Herrliche Schätze der Kunst, wie sie Venedig bewahrt.
Denn auch dieser Genuß verlangt Erholung und Muße;
Nach lebendigem Reiz suchte mein schmachtender Blick.2
Den meisten Romanisten und Geisteswissenschaftlern mit Italienbezug wird dieser Typus von Bildungsreisendem zwar nicht völlig fremd sein, doch sind – anders als für die zahllosen Touristen in der Lagune – weder die Sprachschwierigkeiten noch die Sinnenüberflutung hier das Problem. Vielmehr suchen viele junge Forscherinnen und Forscher einen Ort, an dem man längere Zeit verweilen kann, um aus einem bildungsbürgerlichen Städtetrip einen Forschungsaufenthalt zu machen. In Venedig bietet das Deutsche Studienzentrum, das im Palazzo Barbarigo della Terrazza seinen malerischen Sitz direkt am Canal Grande hat, die Möglichkeit solch eingehenden Studiums der Markusstadt, ihrer Geschichte und ihrer Gegenwart.
Gegründet wurde das Deutsche Studienzentrum in Venedig nach der großen Flut von 1966 als Beitrag der Bundesrepublik zur Erhaltung und Erforschung des kulturellen Erbes der Serenissima. Es wird getragen von einem Verein, der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen Sparten zusammenbringt, die sich in der Erforschung Venedigs ausgezeichnet haben; die Finanzierung liegt dabei bei der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. Anders als in den zahlreichen deutschen Auslandsinstitutionen in Italien werden in Venedig unter demselben Dach sowohl geisteswissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte der Stadt und ihres ehemaligen Einflussbereiches im Mittelmeer und auf der Terraferma gefördert, wie auch Stipendien für Künstlerinnen und Künstler vergeben, so dass hier der Literat mit der Kunsthistorikerin, die Bildende Künstlerin mit dem Historiker, der Byzantinist mit der Komponistin diskutiert. Dieses Nebeneinander von Kunst und Geisteswissenschaft zeichnet das Haus aus, dessen Palazzo zugleich Wohnsitz der stets sieben Stipendiatinnen und Stipendiaten ist. Im Herzen Venedigs gelegen, bietet es einen ausgezeichneten Ausgangspunkt für alle Vorhaben zur Erforschung der Stadt, etwa durch Besuch des Archivio di Stato oder der Biblioteca Marciana.
Als Direktor des Studienzentrums möchte ich die nächsten Jahre vor allem dem Themenkomplex der Stadt und ihres Verhältnisses zur Bewegung widmen. Die Bewegung von Menschen, Ideen und Waren bildet das Fundament des venezianischen Reichtums im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, und die durch das Wasser verursachten Bewegungen stellen bis heute die größte Herausforderung der Stadt neben dem allgegenwärtigen Tourismus dar. Die Veränderungen der Altstadt, die kaum mehr 50.000 Einwohner besitzt und täglich eineinhalbmal so viele Besucher erhält, regt zum Nachdenken über Zukunftsperspektiven im Umgang mit der reichen europäischen Vergangenheit an. Der Totengesang auf Venedig, von Goethes Vergleich der Gondeln mit Särgen bis zu Thomas Mann, ist lange, und bietet zugleich vielfache Anknüpfungspunkte für Arbeiten zur deutschen und italienischen Literaturgeschichte. In der Kunst eröffnet die Bewegung zugleich neue Aspekte wie die Performance-Kunst, das Ballett oder das Figurentheater.
Neben einem Einblick in die Gegenwart der Markusstadt führt ein Stipendium am Deutschen Studienzentrum zugleich in das reiche venezianische Kulturleben ein, das hier hautnah erlebt werden kann. Ein umfangreiches Tagungsprogramm, Abendvorträge, Lesungen und Konzerte, die im Deutschen Studienzentrum organisiert werden, ermöglichen zudem eine aktive Partizipation an der aktuellen Forschung zu venezianischen Themen. Mit zwei Publikationsreihen, den vom Präsidenten des Centro herausgegebenen „Studi“ und den vom Direktor betreuten „Venetiana“, ist das Studienzentrum direkt an den aktuellen deutschen Forschungsbeiträgen zu Venedig beteiligt. Nähere Informationen zur Bewerbung um einen Stipendienplatz bietet die Homepage des Centro unter www.dszv.it, auf der sich auch das aktuelle Veranstaltungsprogramm einsehen lässt.
Iosif Brodskij, Fondamenta degli Incurabili (Venezia: Consorzio Venezia Nuova, 1989). Dt: Joseph Brodsky, Ufer der Verlorenen, aus dem Amerikan. von Jörg Trobitius (München: Hanser, 1991).↩
Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke: Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bibliothek deutscher Klassiker 9 (Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1997), 216.↩
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