Vom Terrorismus zum Wandel durch Annäherung: Houellebecqs Soumission
Wolfgang Asholt
Political Correctness in der Literaturwissenschaft?
Als ich vor 15 Jahren in einer Sektion des Frankoromanistentags in Dresden einen Vortrag zu Houellebecq hielt,1 war eine solche Themenwahl fast ein Verstoß gegen die Regeln dessen, was als literaturwissenschaftswürdig zu gelten hatte. In noch höherem Maße galt dies für einen gleichzeitig entstandenen Aufsatz Rita Schobers zu Houellebecq, der 2001 in der Romanistischen Zeitschrift für Literaturgeschichte erschien,2 sowie ihre folgenden Houellebecq-Studien, vor allem jene des Jahres 2002, die den programmatischen Titel trägt: „Renouveau du réalisme? Ou de Zola à Houellebecq?“3 Diese Aufsätze haben der HU-Romanistin viel Kritik eingetragen. Houellebecqs Romane hatten nicht nur in der französischen Literaturkritik zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, für die Rita Schober beispielhaft auf einen Figaro littéraire-Artikel mit dem Titel „Michel Houellebecq: porno-misère“ verweist,4 ähnliche Ausschlußverfahren werden auch von der universitären Kritik unternommen. Jochen Mecke, der nächste Romanist, der sich Houellebecq widmet, attestiert ihm in der Zusammenfassung seines Aufsatzes eine desaströse Strategie: „Denn sie opfert eine mühsam erworbene relative Autonomie des literarischen Feldes der ökonomischen Gewinnmaximierung.“5 Rita Schober verweist bei ihrem Zola-Houellebecq-Vergleich auf die berühmte Thérèse-Raquin-Kritik von Louis Ulbach (im Figaro des 23. Januar 1868), und der Gewinnmaximierungsvorwurf Meckes ist auch gegenüber Zola, der nicht ohne Grund einen Essay „L’argent dans la littérature“ (1880) geschrieben hat, erhoben worden. Die Ablehnung Houellebecqs in der französischen Literaturwissenschaft hat teilweise Formen angenommen, die als (Selbst-)Zensur bezeichnet werden können. Bis heute hat sich keiner der bekannteren Gegenwartsliteraturwissenschaftler diesem Autor gewidmet, und es ist bezeichnend, dass Rita Schober die Einzige ist, die sich in der 2004 erschienenen Bilanz, Le roman français au tournant du siècle, mit Houellebecq auseinandersetzt.6 Dies hat sich inzwischen zwar geändert, doch es ist bezeichnend, dass die beiden ersten Kolloquien zu Houellebecq in Edinburgh (2005) und in Amsterdam (2007) stattgefunden haben. Erst 2012 organisiert der Houellebecq-Spezialist Bruno Viard ein großes Kolloquium in Marseille (32 Teilnehmer), doch auch hier fehlen die renommierten Gegenwartsliteraturspezialisten ausnahmslos.7 Trotz der inzwischen generell akzeptierten Veränderungen der französischen Literatur seit Beginn der 1980er Jahre, die häufig unter dem Etikett des „retour du récit“ resümiert werden, die man aber mit Dominique Viart als ein dreifache Erneuerung (der „écritures de soi“, des „écrire l’histoire“ und des „écrire le monde“) der Fragestellungen präzisieren kann, scheint der „néo-naturalisme provocateur“ Houellebecqs für die Literaturwissenschaft immer noch eine so große Infragestellung eigener Gewissheiten zu repräsentieren, dass man es vorzieht, sich nicht mit ihm zu befassen. Außerhalb von Frankreich hat sich die Situation allerdings seit langem geändert, wie etwa das von Jörn Steigerwald und Agnieszka Komorowska 2011 in lendemains herausgegebene Dossier „Michel Houellebecq: questions du réalisme aujourd’hui“, das in gewisser Weise an die zehn Jahre zuvor von Rita Schober gestellte Frage, „Renouveau du réalisme?“ anschließt, illustriert.
Houellebecq und der „Terrorismus“
Der Terrorismus ist kein dominierendes Thema in den Romanen Houellebecqs, auch wenn es nicht wenige Ideologeme gibt, die mit ihm in Verbindung gebracht werden können.
Dazu gehören die kulturell-religiös-rassischen Differenzen, deren Instrumentalisierung die sechs Romane durchgehend prägt. Ein Individualterrorimus auf solchem Hintergrund spielt schon in Extension du domaine de la lutte, mit dem Houellebecq 1994 einen bemerkenswerten ersten Erfolg hat, eine gewisse Rolle, auch wenn es sich um eine Art Testlauf handelt. Gegen Ende des Romans versucht der Protagonist und Ich-Erzähler seinen Arbeitskollegen Raphaël Tisserand, der mit seinen Annäherungsversuchen bei einer jungen Frau einem Mischling (métis) unterlegen war, dazu zu bringen, seinen Konkurrenten umzubringen:
Mais oui! fais-toi donc la main sur un jeune nègre! […] Il te faudra bien sûr tuer le type, avant d’accéder au corps de la femme. Du reste, j’ai un couteau à l’avant de la voiture.8
Mit der tabubrechend intendierten Wortwahl (métis, nègre) wird deutlich, dass es sich nicht nur um eine individuelle Auseinandersetzung handelt, zumindest für den erzählenden Protagonisten. Freilich schreckt der Bekannte im letzten Moment vor dem Mord zurück, um bei der anschließenden Rückfahrt nach Paris tödlich zu verunglücken.
Welche Bedeutung rassistische Ideologeme für Houellebecq haben, verdeutlicht der zweite Roman, Les particules élémentaires (1998), mit dem ihm der Bestseller-Durchbruch gelingt.
Einer der beiden Brüder-Protagonisten verfasst ein „pamphlet raciste“, das er an Philippe Sollers schickt. Diesem haben zwei Passagen besonders gefallen. Die erste steht in Zusammenhang mit dem virtuellen Individualterrorismus der Extension: „Nous envions et nous admirons les nègres parce que nous souhaitons à leur exemple redevenir des animaux, des animaux dotés d’une grosse bite et d’un tout petit cerveau reptilien, annexe de leur bite.“, was Sollers kommentiert: „C’est corsé, enlevé, très talon rouge. Vous avez du talent.“ Und danach zitiert Sollers die zweite Passage:
Seuls les Juifs échappent au regret de ne pas être nègres, car ils ont choisis depuis longtemps la voie de l’intelligence, de la culpabilité et de la honte. Rien dans la culture occidentale ne peut égaler ni même approcher ce que les Juifs sont parvenus à faire à partir de la culpabilité et de la honte; c’est pourquoi les nègres les haïssent tout particulièrement.9
Doch Sollers lehnt es ab, das Pamphlet in seiner Zeitschrift L’Infini zu veröffentlichen: „Nous ne sommes plus au temps de Céline, vous savez. On n’écrit plus ce qu’on veut, aujourd’hui, sur certains sujets …“10. Die Political Correctness, d.h. die Selbstzensur des Zeitschriftenherausgebers und ehemaligen Tel-Quelisten dient selbstreflexiv dazu, die Kühnheit des Autors Houellebecq zu betonen, der anders als der alt gewordene Avantgardist die heutige Subversion repräsentieren will. Beide Ideologeme tauchen immer wieder in Houellebecqs Romanen auf, so dass sie zweifelsohne ein wichtiges Element ihrer ‚vision du monde‘ bilden.
Der eigentliche Terrorismus spielt allerdings erst in Verbindung mit dem in den beiden Zitaten abwesenden Dritten, dem Islam, im dritten Roman Houellebecqs, Plateforme (2001) eine entscheidende Rolle. Aufgrund der zeitlichen Koinzidenz, der Roman erscheint unmittelbar vor nine-eleven, am 24. August 2001, ist Plateforme als „roman prémonitoire“ bezeichnet worden.11 Und das Attentat von Bali, am 12. Oktober 2002, liefert eine weitere, nun auch geographische Bestätigung des Terrorismus-Propheten Houellebecq. Da Huxley für unseren Autor ein literarisches Modell darstellt, in den Particules wird ihm eine „extraordinaire justesse des prédictions faites […] dans Le Meilleur des mondes“12 attestiert, liegt es nahe, in Houellebecq (auch) einen Propheten des Terrorismus zu sehen. André Glucksmann13 vertritt eine ähnliche Position in Hinblick auf seinen Autor und 9/11, und Jean Clair14 hält die Weltkarte der Surrealisten aus dem Jahres 1929, auf der Afghanistan größer als die USA ist, für einen antizivilisatorischen Antiamerikanismus der auch al-Qaida inspiriert habe.
Man kann Houellebecq für Plateforme attestieren kann, dass er das Problem des islamistischen Terrorismus relativ früh literarisch aufgenommen hat. Doch Autoren wie Assia Djebar hatten dies mit Le blanc de l’Algérie (1995) schon Jahre zuvor oder wie Habib Tengour mit Le poisson de Moïse (2001), auch in Hinblick auf Afghanistan, gleichzeitig unternommen. Was Plateforme von ihren Texten unterscheidet, sind weniger die Attentate selbst, als der epitextuelle Kontext, den Houellebecq inszeniert. Im Roman wird das Attentat, bei dem der Protagonist seine Freundin Valérie in Thailand verliert, relativ unspektakulär dargestellt. Doch der Roman, der mit dem Attentat endet, beginnt schon mit einer tödlichen islamischen Bedrohung, denn der Vater des Protagonisten, der mit seiner jungen muslimischen Putzfrau ein Verhältnis hatte, wird von deren Bruder umgebracht, und seine Reaktionen bei der Gegenüberstellung mit diesem Bruder beschreibt der Ich-Erzähler so: „je me laissai lentement envahir par la haine […] si j’avais disposé d’une arme, je l’aurais abattu sans hésitation.“15 der Roman wird also von islamisch fundierter Gewalt gerahmt. Das eigentliche Attentat, und damit die im engeren Sinne islamistische Gefahr, wird dadurch vorbereitet, dass in der Nähe des Eldorador Aphrodite Ressorts von Pattaya Beach, dessen Konzeption Valérie entwickelt hatte, ein junges Paar entführt und „pour comportement contraire à la loi islamique“16 grausam hingerichtet wird. Der eigentliche Überfall auf das Sex-Ressort wird mit der erwähnten Distanz geschildert: ein Boot landet am Strand,
Je distinguai alors les assaillants, trois hommes enturbannés qui progressaient rapidement dans notre direction, une mitraillette à la main. Une deuxième rafale éclata, un peu plus longue […].17
Und nachdem eine Nagelbombe mit desaströsen Folgen gezündet worden war, ist das Attentat vorüber. Der Protagonist wacht mehre Tage später in einem Krankenhaus auf, wird nach Frankreich transportiert, (post)traumatisch in Saint-Anne behandelt und zieht die Bilanz:
L’islam avait brisé ma vie, et l’islam était certainement quelque chose que je pouvais haïr; les jours suivants, je m’appliquai à éprouver de la haine pour les musulmans. J’y réussisais assez bien […].18
Doch auch diese Reaktion geht relativ rasch vorüber. Nach Thailand zurückgekehrt, bereitet sich Michel auf seinen Tod vor:
Jusqu’au bout je resterai un enfant de l’Europe, du souci et de la honte; je n’ai aucun message d’espérance à délivrer. […] Nous avons créé un système dans lequel il est devenu simplement impossible de vivre; et, de plus, nous continuons à l’exporter.19
Dieses weltanschauliche Vermächtnis entspricht dem Grundtenor fast aller Romane Houellebecqs, bis zu La Carte et le territoire (2010). Angesichts der historischen Dimension eines selbstverantworteten Untergangs des Abendlandes kann man sogar soweit gehen, das thailändische Attentat als eine notwendige Reaktion auf das Scheitern des westlichen Systems zu betrachten, und so fühlt sich der Protagonist zu Ende seines Lebens den deutschen Sextouristen sehr nahe, bei denen er festzustellen glaubt: „Plus que tout autre peuple, ils connaissent le désir de leur propre anéantissement.“20 Dabei ein wenig (terroristische) Hilfe zu bekommen, müsste fast willkommen sein.
Doch der Autor Michel Houellebecq, und dank des Vornamens ist die Konfusion mit dem Ich-erzählenden Protagonisten Michel durchaus beabsichtigt, reagiert anders als sein literarisches Double zu Ende des Romans. In einem spektakulären Lire-Interview antwortet Michel Houellebecq auf die Frage „Pour l’islam, ce n’est plus du mépris que vous exprimez, mais de la haine?“:
Oui, oui, on peut parler de haine. […] je me suis dit que le fait de croire à un seul Dieu était le fait d’un crétin, je ne trouvais pas d’autre mot. Et la religion la plus con, c’est quand même l’islam. Quand on lit le Coran, on est effondré … effondré. La Bible, au moins, c’est très beau, parce que le juifs ont un sacré talent littéraire, ce qui peut excuser beaucoup de choses.21
Die Islamophobie, die sich unmittelbar nach Erscheinen des Romans und vor den Attentaten des 11. September in diesem Interview äußert, hat nicht nur den Effekt, mit den Attentaten einen besonderen Resonanzboden zu erhalten, es liegt zumindest im Bereich des Möglichen, dass sie Anlass und Konstruktionsprinzip dieses Romans darstellt. Dafür spricht nicht nur das zentrale Attentat, bei dem Valérie das Leben und jenes des Protagonisten seinen Sinn verliert, sondern auch der Rahmen: der Roman beginnt und endet mit islamisch motivierten Gewalttaten. Zwischen Terrorismus und Islamismus bzw. Islam wird also eine Identität behauptet, die durch die Attentate von 9/11 und jenes von Bali, das dem von Plateforme nicht nur geographisch ähnelt, eine Bestätigung durch die Realität erfährt. Der Islam, der in den ersten Romanen nicht auftaucht, dient nun als Gegenmodell des dekadenten Westens, das zumindest ebenso gefährlich ist wie dieser. In dieser Situation setzt Houellebecq seine Hoffnung in die Korruptionsfähigkeit der Dekadenz:
L’Islam est miné de l’intérieur par le capitalisme. Tout ce qu’on peut souhaiter, c’est qu’il triomphe rapidement. […] Ses valeurs sont méprisables, mais quand même moins destructrices, moins cruelles que celles de l’Islam.
Der letzte Roman, Soumission, belegt, dass der Autor diese Hoffnung nicht aufgeben hat.
Angesichts der Inszenierungen, mit denen Houellebecq das Erscheinen seiner Romane begleitet, ist allerdings nicht auszuschließen, dass ein wie auch immer großer Teil seiner Bemerkungen zum Islam der Selbstvermarktung per Provokation dienen; dank 9/11 werden die Erwartungen allerdings unerwartet potenziert. Einen Prozess mit dem die anti-islamischen Passagen seines Romans und des Lire-Interviews wegen „provocation à la discrimination, à la haine ou à la violence à l’égard d’un groupe de personnes en raison de son appartenance à une religion“ zensiert werden sollen, gewinnt Houellebecq 2002, allerdings nicht wie beantragt wegen des Fiktionsvorbehalts, sondern weil seine Behauptungen nicht den Muslimen, sondern dem Islam gegolten hätten.
Zusätzlich führt seine quasi uneingeschränkte Unterstützung der israelischen Politik dazu, dass Houellebecq zu einem der prominenten Islamhasser in Frankreich wird und sich offensichtlich in dieser Rolle auch lang Zeit gefällt. Mehrere Interviews, die allerdings erst nach dem Charlie Hebdo-Attentat und dem gleichzeitigen Erscheinen von Soumission gegeben worden sind, lassen allerdings eine Revision dieser Position erkennen. Auf die Frage von Antoine de Caunes: „Vous aviez un commentaire très violent sur le Coran en 2001, que l’islam était la religion la plus con du monde. Je voudrais savoir qu’est-ce qui vous a fait bouger …“, antwortet Houellebecq, sich selbstkritisch gebend und ganz im Einklang mit seinem soeben erschienenen Roman:
Qu’est-ce qui m’a fait changer d’avis? La lecture du Coran surtout, je ne l’avais peut-être pas lu suffisamment bien. Maintenant, je pense qu’une interprétation moyennement honnête du Coran n’aboutit pas au djihadisme. Il faut une interprétation très déshonnête pour aboutir au djihadisme.22
Abgesehen davon, dass dies für einen Schriftsteller eine erstaunliche Lektürekompetenz oder -inkompetenz verrät, widerspricht diese Äußerung diametral den Lektüreerfahrungen zehn Jahre zuvor. Aber es scheint so, als ob nicht nur die Zeiten des islamistischen Terrorismus in Houellebecqs Roman vergangen sind, sondern auch jene einer durchgängigen Islamophobie. Denn wie die französische Presse vom Kölner Deutschlandbesuch (19. Januar 2015) Houellebecqs berichtet, der sich nach dem Charlie Hebdo-Attentat in Frankreich nicht mehr öffentlich äußert, versichert er während dieser Reise wiederholt: „1) que le livre n’est pas islamophobe, et 2) qu’on a parfaitement le droit d’écrire un livre islamophobe“23; eine Ambiguität, die mir für den Autor charakteristisch zu sein scheint.
Wandel durch Annäherung: Political Correctness und Soumission?
In einem Interview mit Josyane Savigneau erklärt Houellebecq 2005:
[…] mes romans sont toujours en trois parties […] Et il y a toujours quelque chose de franchement nouveau qui intervient au début de la deuxième partie […] Quant à la troisième partie, elle est toujours plus méditative et sans événement.24
Nicht nur Plateforme, auch La carte et le territoire (2010) entspricht diesem Schema. Diese Dreiteilung, bei der die Auseinandersetzung mit den sozialen, kulturellen und ideologischen Problemen den zentralen Teil dominiert, wird mit Soumission (2015) aufgegeben. Man kann die fünf Teile, ähnlich wie in Toussaints Salle de bain anhand von zwei Orten strukturieren: I und II spielen in Paris, III in der France profonde des Lot und IV und V wiederum in Paris. Der erste Paris-Teil endet mit der Emigration der Freundin des Protagonisten, Myriam, und ihrer Familie nach Israel, der zweite ist mit der Reise ins Lot, insbesondere dem Besuch von Rocamadour, eine Rückkehr zum und ein Abschied vom Frankreich als der ‚fille aînée de l’Église‘, und etwas wirklich Neues, die Wahl eines islamischen Präsidenten, geschieht erst im Übergang vom zweiten zum dritten Teil, in dem sich die kollektive Unterwerfung Frankreichs und die individuelle des Protagonisten vollzieht.
Der erste Teil entspricht in seinem Blick auf die sozialen Realitäten und auf die Befindlichkeit des männlichen Protagonisten dem Tenor fast aller Romane Houellebecqs, wobei die ironische Schilderung des Universitätsmilieus des Protagonisten François dessen Situierung in der sozialen Welt verfremdet. Doch die sexuellen Obsessionen und die daraus resultierende Misere und Verzweiflung charakterisieren alle Ich-Erzähler der Houellebecqschen Romane, die zugleich auch fast immer das sind, was Granger Remy mit einer Kategorie der Extension den ‚homme système‘ nennt.25 Im zweiten Teil wird auf dem Hintergrund des sich abzeichnenden Wahlerfolgs des gemäßigten Muslims Mohammed Ben Abbes sozusagen vor Ort die Geschichte des mittelalterlich-christlichen Frankreich rekapituliert, die aufgrund des Materialismus der Moderne unwiderruflich verloren ist. In den wiederum in Paris situierten beiden letzten Kapiteln vollzieht sich zunächst die Anpassung des Alltagslebens an die nun dominierende islamische Kultur, doch zwei Widerstands- oder besser Alternativversuche des Protagonisten, sich dem herrschenden Modell zu entziehen, scheitern. Dies gilt für den Besuch bei Escorts ebenso wie den in der Abtei von Ligugé, wo der Huysmans-Spezialist vergeblich zu sich selbst finden will. Doch wie er auf der Rückfahrt im TGV bekennt: „J’avais renoncé avec facilité, et même avec un vrai soulagement, à toute responsabilité d’ordre professionnel ou intellectuel“.26 In allen drei Teilen kommt der ‚neue‘ Realismus Houellebecqs zum Tragen, der mit einzelnen ‚effets de réel‘ arbeitet, anstatt eine realistische Gesamtschau anzubieten.27
In dieser Situation kann die ‚Soumission‘ beginnen: zuerst mittels eines Angebots, die Huysmans-Pléiade-Ausgabe zu verantworten, doch dieses Angebot dient nur dazu, François zu bewegen, wieder an der nun von Saudi-Arabien finanzierten Sorbonne zu arbeiten. In einem langen Gespräch mit dem neuen Präsidenten der Sorbonne und zukünftigen Wissenschaftsminister, Robert Rediger, der bezeichnenderweise im früheren Haus von Jean Paulhan wohnt, nicht so sehr weil er den Direktor der Nouvelle Revue française (NRF) schätzt, sondern weil dort Dominique Aury die Histoire d’O geschrieben haben soll, entwickelt Rediger seine These vom historisch notwendigen und gerechtfertigten Sieg des Islam, dessen System dem einst christlichen Europa, das am Ende der in Valérys „Crise de l’esprit“ beschriebenen Entwicklung steht, in jeder Hinsicht überlegen ist.
C’est la soumission, dit doucement Rediger. L’idée renversante et simple, jamais exprimée auparavant avec cette force, que le sommet du bonheur humain réside dans la soumission la plus absolue. […] il y a pour moi un rapport entre l’absolue soumission de la femme à l’homme, telle que la décrit Histoire d’O, et la soumission de l’homme à Dieu, telle que l’envisage l’Islam.28
Mit seinem Namen repräsentiert Rediger die veränderten Verhältnisse, freilich nicht nur was die politisch-religiöse Situation angeht. Unübersehbar verweist der Robert Rediger des Romans auf den Philosophieprofessor Robert Redeker, der 2006 im Figaro einen Artikel29 veröffentlicht hatte, wo er u.a. den Koran als „un livre d’inouïe violence“ und den Islam als „une religion qui, dans son texte sacré même, autant que dans certains de ses rites banals, exalte violence et haine“ bezeichnet hatte. Redeker wird deshalb mit einer Fatwa belegt und hat sich seitdem integristisch radikalisiert. Houellebecqs Rediger hatte ebenfalls einer identitären Bewegung angehört, bis er an einem Abend (allerdings nicht in einer Moschee) sein Bekehrungserlebnis hat: „Et puis tout a basculé, en un jour – exactement, le 30 mars 2013; je me souviens que c’était le weekend de Pâques.“30, mit der unmittelbar folgenden Konversion wird die christliche zu einer islamischen Auferstehung transformiert.
Jenseits von Redeker-Rediger, also der Saulus-Paulus-Konversion wird oft übersehen, dass sowohl Houellebecq, der in dem zitierten Lire-Interview diese Auffassungen fast wörtlich vertritt, als auch Michel, der Protagonist von Plateforme, noch weiter gehen als der reale Robert Redeker. Houellebecq hatte behauptet: „Oui, oui, on peut parler de haine. […] Et la religion la plus con, c’est quand même l’islam. Quand on lit le Coran, on est effondré… effondré.“ Und sein Protagonist steht dem nicht nach: „l’islam était certainement quelque chose que je pouvais haïr; les jours suivants, je m’appliquai à éprouver de la haine pour les musulmans.“ Der Houellebecq von Plateforme entspricht also dem echten Redeker, der im übrigen auch die Houellebecqschen Dekadenzauffassungen teilt, und der Houellebecq von Soumission dem Quasi-Homonym Redekers (Rediger), inklusive der Verabschiedung der eigenen anti-islamischen Vergangenheit. Dass Houellebecq seinen radikalen Meinungswandel auf Kosten Redekers mit der Figur seines Protagonisten Rediger in den Roman montiert, kann als literarische Manipulation, aber auch als eine Rechtfertigung der eigenen Anpassung interpretiert werden.
Die Konversion des Huysmans-Spezialisten und ehemaligen wie zukünftigen Sorbonneprofessors hat mehrere Ursachen. Materielle, denn die saudi-arabische Sorbonne zahlt unvorstellbar hohe Gehälter und sorgt für luxuriöse Wohnungen (s. Rediger); sexuelle, denn mit der Polygamie werden auch entsprechende Frauen bereitgestellt, auch für weniger attraktive oder ältere Professoren. Nicht zuletzt aber auch kulturell-ideologische, denn im Vergleich mit dem Werteverfall des ehemals christlichen Abendlandes stellt der Islam verbindliche Normen bereit, die zudem den Vorteil haben, die soziale und sexuelle Hierarchie zu rechtfertigen.31
Damit hat der autodiegetische Ich-Erzähler von Soumission das vollzogen, was man als einen Wandel durch Annäherung bezeichnen kann. Am Beispiel des Huysmans-Spezialisten wird auf das Fehlen jeglicher Kriterien und Maßstäbe bei Universitätsprofessoren, die sich als „homme[s] de gauche“32 betrachten oder betrachteten, hingewiesen und ihre besondere Anpassungsfähigkeit betont. D.h. diejenigen, die eigentlich das kulturelle Erbe Frankreichs und des Abendlandes vertreten sollten, stehen für dessen Krise und Dekadenz. Die ‚Crise de l’esprit‘, die Valéry33 vor knapp hundert Jahren analysierte, ist omnipräsent und unwiderruflich. Mit dieser Krise der europäischen Moderne, die ihren ersten Höhepunkt im Ersten Welkrieg findet, argumentiert auch Robert Rediger in seinem langen Gespräch mit François:
Tout s’est terminé par cette folie injustifiable de la Première guerre mondiale. Freud ne s’y est pas trompé, Thomas Mann pas davantage: si la France et l’Allemagne, les deux nations les plus avancées, les plus civilisées du monde, pouvaient s’abandonner à cette boucherie insensée, alors c’est que l’Europe était morte.34
Die Zivilisationen sind also sterblich, und angesichts des sterbenden christlichen Abendlandes bietet der Islam eine Alternative, die man ergreift und der man sich gern unterwirft. Im Falle des Huysmans-Spezialisten fällt dies umso leichter, als die Unterwerfung mit den erwähnten persönlichen Vorteilen verbunden ist. So endet der Roman mit den Worten: „une nouvelle chance s’offrirait à moi; et ce serait la chance d’une deuxième vie, sans grand rapport avec la précédente. Je n’aurais rien à regretter.“35 Die ‚Soumission‘ ist vollzogen, Edith Piaf lässt grüßen.
Von der individuellen Ebene des Erzählers abgesehen, findet ein Wandel durch Annäherung jedoch auch kollektiv-national, ja eigentlich auf europäischer Ebene statt. Von Frankreich ausgehend setzen sich moderate islamische Regierungen in den meisten europäischen Staaten durch, und zweieinhalb Jahrhunderte nach der Revolution wird das neue französische Modell zu dem eines geeinten mediterranen Europas in römischer Tradition, mit dem Französischen als gemeinsamer Sprache: „Avec l’adhésion des pays arabes, l’équilibre linguistique européen va se déplacer en faveur de la France.“36 Die meisten Franzosen arrangieren sich mit der islamischen Kultur, die Minderheit der Christen wird geduldet und gefördert, nur das jüdische Leben kommt zum Erliegen. Doch der Wandel durch Annäherung ist gegenseitig. Der neue Staatspräsident, Mohammed Ben Abbes sieht sein Vorbild in Augustus: „il a une idée de l’Europe, un véritable projet de civilisation“37. Ben Abbes „est un musulman modéré, voilà le point central […] il considère les terroristes comme des amateurs“38, und seine Politik entzieht dem Islamismus die Grundlage. Das nie direkt proklamierte Modell ist jenes des konstantinischen Römischen Reiches: wie seinerzeit der Sieg des Christentums einen Wandel durch Annäherung bedeutet, übernimmt jetzt der gemäßigte Islam die Macht in einem spätantik-dekadent gewordenen Europa und eignet sich einen Teil dessen kultureller Traditionen an, wie das Beispiel der Sorbonne zeigt.
Wenn man die Vison von Soumission mit jener von La Carte et le territoire vergleicht, so liegt beiden der Befund eines orientierungslosen und an sich selbst zweifelnden Frankreich und Europa zugrunde. In La Carte wird dieses Frankreich zu einer Art Reservat, einem Riesendisneyland, das für Touristen aus aller Welt eine Reise in eine idyllische Vergangenheit darstellt. Angesichts eines Frankreichs, das selbst nicht die Energie besitzt, eine Zukunftsvision zu entwickeln, stellt der moderate Islam eines Ben Abbes eine Alternative dar, die allerdings eine „Soumission“ voraussetzt, einen dritten Weg sieht Houellebecq für den Moment nicht. In Soumission ist Frankreich zu einem kulturellen Reservat geworden, Saudi-Arabien kauft die Sorbonne als Symbol der abendländischen Kultur ein, so wie Katar sich Oxford geleistet hat: Houellebecq spielt darauf an, dass sowohl der Louvre wie die Sorbonne eine Zweigstelle in Abu Dubai errichtet haben. Trotz dieser euro-orientalischen Perspektiven in Soumission und der angedeuteten globalen in La Carte ist der politisch-kulturell-ideologische Kontext dieser wie aller anderen Romane Houellebecqs jedoch zutiefst französisch; Europa oder auch nur die unmittelbaren französischen Nachbarn spielen keine wirklich eigenständige Rolle, wenn ihre Präsenz erforderlich ist, werden sie dem französischen Modell angepasst.
Anti-Correctness oder Markstrategie?
Von Extension und Plateforme abgesehen enden alle Romane Houellebecqs mit einer mehr oder weniger detailliert entwickelten utopisch-dystopischen Perspektive. Nur die genannten beiden Romane finden ihr Ende in unserer Gegenwart. In dieser Hinsicht bildet Soumission eine Synthese zwischen Gegenwartsorientierung und Zukunftsvision. Die Zukunft, in der der Roman während eines knappen Jahres situiert ist (2022/23), ist so nah an der Gegenwart, dass sie mit deren Maßstäben verstanden werden kann. Zum ersten Mal lässt sich Houellebecq extensiv auf die politischen Verhältnisse Frankreichs ein, bis hin zur Vermessung der Zukunft. Nachdem Hollande 2017 mangels Alternativen gegen Marine Le Pen wiedergewählt worden ist, beginnt die „Zukunft“ mit dem Präsidentschaftswahlkampf fünf Jahre später, also 2022. Das bietet Zeit genug dafür, dass sich die Verhältnisse grundlegend ändern können, gestattet aber immer noch, sie mit heutigen Kenntnisse zu beurteilen, was wiederum entsprechende politisch-ideologische Reaktionen garantiert.
In einem bemerkenswerten Beitrag zum Edinburgh-Kolloquium des Jahres 2005 hat Olivier Bessard-Banquy die Strategie Houellebecqs so resümiert: „Plus il s’enfonce dans une rhétorique de l’outrance et de l’agressif, plus il capitalise“39, und er verweist auf Daniel 1, den Künstler und Schriftstellerprotagonisten der Possibilité d’une île, der demonstrativ bekennt: „le plus grand bénéfice […] c’est de pouvoir se comporter comme un salaud en toute impunité, et même de pouvoir grassement rentabiliser son abjection“40 Für Bessard-Banquy funktioniert dieses System Houellebecq, das er mit jenem Célines vergleicht, weil es auf einer politischen Ambiguität beruht, die unterschiedliche, ja sich widersprechende Lektüren zulässt:
Pour les uns, la description apocalyptique de la société marchande moderne […] est la meilleure preuve d’une dénonciation virulente des travers du libéralisme et de ses excès. Pour les autres, la peinture complaisante et répétitive d’une sorte de darwinisme total [est] au contraire la marque d’un esprit inapte à toute forme d’empathie sociale.41
Mit beiden Positionen kann Houellebecq jedoch deshalb so großen Erfolg haben, weil er im Feld der Gegenwartsliteratur ein Quasi-Monopol für solche Themen und den provokativen Umgang mit ihnen besitzt.
Freilich wissen wir spätestens seit Foucaults „Préface à la trangression“ (1963) dass es unmöglich ist, solche Provokationen auf Dauer zu stellen. Trotz aller Ambiguitäten riskieren sie, sich zu erschöpfen (worauf auch die hohen, aber allmählich sinkenden Verkaufszahlen der Romane hindeuten). Nach Plateforme hat Houellebecq mit Soumission allerdings erneut eine Thematik gefunden, die nicht nur ein Provokationspotential garantiert, sondern auch so wirkt, als würde erneut gegen ein gesellschaftliches Tabu, sprich eine Selbstzensur der Literatur verstoßen. Bei Plateforme betraf diese Enttabuisierung neben der Apologie der Prostitution und des Sextourismus die Kombination von Islam und Terrorismus. In Soumission geht es um die heikle Frage eines französischen Islam, dessen Status und dessen Zukunft. Mit der als nah bevorstehend geschilderten Vision einer islamischen Machtergreifung in Frankreich provoziert Houellebecq nicht nur die gesamte politische Klasse, sondern auch das Selbstbild eines Teils der Franzosen, gerade auf Seiten der republikanisch-laizistischen Linken, deren sozio-kulturellen Errungenschaften wie der „mariage pour tous“ in der islamischen Republik keine Rolle mehr spielen.
Die Frage, mit der uns der Fall Houellebecq konfrontiert, ist jene nach dem Verhältnis von beanspruchter Enttabuisierung, dem was Martina Stemberger das „contre le politiquement correct“ nennt und dem Markterfolg. Kann der Autor, der mit seinen Romanen stets Bestseller produziert, zugleich gegen den politisch-kulturellen Mainstream anschreiben? Und wenn Olivier Bessard-Banquy 2005 fragt: „Les médias seront-ils d’accord pour faire du prochain Houellebecq, puis du suivant, et ainsi de suite, l’événement de la rentrée?“42, so ist dies zumindest für den nächsten, La carte et le territoire (2010), der den Goncourt erhält, genauso eingetreten wie für den auf ihn folgenden, Soumission. Es fragt sich allerdings, ob Romane, die bisher ohne Ausnahme von den Medien so gefördert werden, dass sie zum Event der herbstlichen Rentrée werden, politisch so unkorrekt sein können, wie Houellebecq und ein großer Teil der Medien dies beanspruchen? Oder könnte es nicht so sein, dass die Enttabuisierung einen Teil der politischen Korrektheit bildet und insofern das System mehr stabilisiert als kritisiert.
In einem Interview mit Christian Authier behauptet Houellebecq „Si je suis politiquement correct, qu’est-ce que j’y gagnerai?“, um paradoxerweise hinzuzufügern: „L’expression négative n’est plus acceptée“,43 es gebe also eine Zensur. Anders als von Houellebecq gemeint, kann man das „qu’est-ce que j’y gagnerai“ durchaus wörtlich nehmen, d.h. mit der Anti-Correctness ist mehr zu verdienen, als mit dem was als „korrekt“ bezeichnet wird. Und entweder ist die „expression négative“ nicht so kritisch wie sie sich ausgibt, oder sie bildet einen Teil des Systems, gerade dort, wo sie dies zu kritisieren scheint.
Die Negativität, die Houellebecq in Anspruch nimmt, ist zudem extrem anpassungsfähig. In dem zitierten Interview äußert er sich zum islamistischen Terrorismus folgendermaßen:
On a commencé à dire dans certains journaux [nach 9/11, W.A.] ce que je pensais depuis longtemps, c’est-à-dire que l’intégrisme islamique n’est pas spécialement une dérive par rapport à l’islam du Coran. C’est juste une interprétation du Coran, qui se tient tout à fait. Ce qui me fascine, c’est de voir qu’une grande majorité des gens dans les médias continue à répéter que le message de fond de l’islam est un message de tolérance, qui interdit le meurtre, plein de respect pour les autres croyants.44
In Soumission zeigt er hingegen einen friedlichen, in vieler Hinsicht toleranten Islam, dem es zudem gelingt, der terroristischen Verirrung ein Ende zu setzen. Und da es sich um eine, wenn auch nahe Zukunftsvision handelt, kann das Charlie-Hebdo-Attentat auch weniger als ein Dementi denn als Beweis für die Notwendigkeit einer solchen Entwicklung gesehen werden.
Politisch unkorrekt kann Soumission allenfalls in Hinblick auf die gegenwärtigen politischen Parteien und das Links-Rechts-Schema in Frankreich sein, dessen reflexartige Automatismen das politische Leben immer stärker dominieren und wirkliche Debatten verhindern. Doch mit der Kritik an diesem System steht Houellebecq nicht allein, er rennt vielmehr offene Türen ein. Seit langem bestätigen Meinungsumfragen, aber auch proportionale Wahlen, wie die zum Europaparlament immer wieder, wie groß die Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen und der Unfähigkeit zu wirklichen Reformen in Frankreich ist.
Die Zukunft in einer islamisch geworden V. Republik zu sehen, mag auf den ersten Blick politisch unkorrekt erscheinen. Dies umso mehr, als vor allem Grundüberzeugungen der Linken zur Disposition gestellt werden, insbesondere was das weitgehend privatisiert-islamische Schulwesen angeht. Aber: „Au-delà de cette agitation superficielle, la France était en train d’évoluer rapidement, et d’évoluer en profondeur.“45 Das schließt jedoch bestimmte Kontinuitäten nicht aus: „le caractère indépassable de l’économie de marché était à présent unanimement admis“46, mit dem von Chesterton und Belloc inspirierten Distributismus knüpft Ben Abbes aber auch an das kleinbürgerliche Modell der III. Republik an, und die „restauration de la famille, de la morale traditionnelle“47 macht ihn für konservative Wähler akzeptabel, wohingegen „Tétanisée par son antiracisme constitutif, la gauche avait été depuis le début incapable de le combattre“48. Der Distributismus schließt die ökonomischen Konsequenzen der Marktwirtschaft im Sinne eine „répartion très inégalitaire des richesses“49 nicht aus, inklusive der Literaturprofessoren:
[…] un écart considérable entre la grande masse de la population, vivant dans une pauvreté décente, et une infime minorité d’individus fasteusement riches, suffisamment pour se livrer à des dépenses exagérées, folles, qui assurerait la survie du luxe et des arts.50
So sehr die Vision der islamischen Republik Frankreich auf den ersten Blick politisch unkorrekt wirkt, so sehr achtet der Autor darauf, politisch „korrekte“ Angebote zu machen, bis hin zu einem künftig französisch dominierten Europa in der Tradition des Römischen Reiches. Wenn dies die „expression négative“ der aktuellen Gegenwart ist, so ist sie zumindest in weiten Teilen höchst akzeptabel, und nicht nur für offensichtlich besonders leicht mit Sex und Geld zu korrumpierende Professoren.
Bessard-Banquy spricht in Hinblick auf die Editionsstrategie Houellebecqs vom „principe du clair-obscur politique“51, es scheint mir, dass dieses Prinzip auch für Houellebecqs Romane als solche gilt, und zumindest in dieser Hinsicht unterscheidet sich der neue vom alten Zola. Pierre Jourde wiederum gibt dem Houellebecq-Kapitel seiner immer noch aktuellen La littérature sans estomac (2002) den Titel „L’individu louche“. Schon zu diesem Zeitpunkt, also nach den ersten drei Romanen, konstatiert er: „Houellebecq est provocateur mais prudent“,52 und anderer Stelle spricht er von der „ambiguïté“ der Protagonisten, die zu einem „malaise à propos de Houellebcq, [au] sentiment qu’il y a quelque chose de louche“53 führe. Diese Ambiguität betrifft auch die literarisch-ideologische Positionierung Houellebcqs. Aus einer Bourdieuschen Perspektive nimmt er im Feld der Gegenwartsliteratur eine nicht ungewöhnliche Position ein: einem großen ökonomischen Kapital entspricht ein relativ geringes symbolisches, dies erklärt auch die Abstinenz der meisten Gegenwartsliteraturwissenschaftler ihm gegenüber. Was die ideologische Positionierung angeht, versucht Houellebecq nicht ohne Erfolg, trotz seiner Marktstrategie im Kontext eines großen Verlages (Flammarion/Hachette), sich marginal zu positionieren, um in den kulturellen, sozialen und politischen Debatten die Aura des Tabubruchs in Anspruch zu nehmen, als des nahezu einzigen französischen Schriftstellers, der es in Zolascher Tradition wagt, eine Position einzunehmen, die mit der politischen Correctness bricht.
Dies kann man schon für Zola bezweifeln,54 bei Houellebecq umso mehr. Seine Romane zeichnen sich auch in dieser Hinsicht durch ein „clair-obscur“ aus: der Tabubruch, die Grenzüberschreitungen, die Verstöße gegen die politische Correctness sind stets von Rückversicherungstrategien begleitet. Die Strategie „à savoir qu’il suffit de longer avec délice dans la grande mare de la provocation graveleuse pour encaisser toujours plus de dividendes“,55 reicht als solche nicht aus, um die Provokation auf Dauer zu stellen. Denn sie wird schon innerhalb der Romane selbst durch Angebote austariert, die mehrere Lektüren ermöglichen.
Zwar sieht es so aus, als ob diese „Angebote“ (etwa die politische Landschaft in Soumission mit Figuren wie Hollande und Bayrou) durch den zynischen Humor Houellebecqs relativiert werden. Dennoch sind sie unverzichtbar und führen dazu, um es noch einmal mit Pierre Jourde zu sagen: „il y a là quelque chose de louche.“ Bei Jourde ist damit der „nihilisme“ und „cette manière d’universaliser la bassesse“56 gemeint. Mir scheint jedoch, dass die Kombination und Kopräsenz von politisch vielleicht „unkorrektem“ Nihilismus mit Absicherungsstrategien, die mit diesem konkurrieren, dem Werk seinen undurchsichtigen und fragwürdigen Charakter verleihen.
Wolfgang Asholt, „Ecritures du quotidien bei François Bon und Michel Houellebecq“, in Der französischsprachige Roman heute: Theorie des Romans – Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie, hrsg. von Andreas Gelz und Ottmar Ette, Cahiers lendemains 4 (Tübingen: Stauffenberg, 2002), 93–110.↩
Rita Schober, „Weltsicht und Realimus in Michel Houellebecqs utopischem Roman ‚Les particules élémentaires‘“, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1/2 (2001): 177–211.↩
Rita Schober, „Renouveau du réalisme? Ou de Zola à Houellebecq?“, in La représentation du réel dans le roman: mélanges offerts à Colette Becker, hrsg. von Monique Gosselin-Noat und Anne-Simone Dufief (Paris: Eds. Oseá, 2002), 333–44.↩
Éric Ollivier, „Michel Houellebecq: porno-misère“, Le Figaro, 10. September 1998.↩
Jochen Mecke, „Der Fall Houellebecq: zu Formen und Funktionen eines Literaturskandals“, in Europäische Verlage und romanistische Gegenwartsliteraturen, hrsg. von Giulia Eggeling und Silke Segler-Messner (Tübingen: Narr, 2003), 194–217, hier 215.↩
Rita Schober, „Vision du monde et théorie du roman, concepts opératoires des romans de Michel Houellebecq“, in Le roman français au tournant du xxe siècle, hrsg. von B. Blanckeman u.a. (Paris: Presses de la Sorbonne nouvelle, 2004), 505–15.↩
Sabine van Wesemael und Bruno Viard, Hrsg., L’unité de l’œuvre de Michel Houellebecq (Paris: Classiques Garnier, 2013).↩
Michel Houellebecq, Extension du domaine de la lutte (Paris: Maurice Nadeau, 1994), 136.↩
Michel Houellebecq, Les particules élémentaires (Paris: Flammarion, 1998), 242.↩
Houellebecq, Les particules élémentaires, 243↩
So der Titel des Aufsatzes von Jean-Luc Arza, „Le roman prémonitoire“, Stella: études de langue et littérature françaises 21 (Dez. 2002).↩
Houellebecq, Les particules élémentaires, 194↩
André Glucksmann, Dostoïewski à Manhattan (Paris: Laffont, 2002).↩
Jean Clair, Du surréalisme considéré dans ses rapports au totalitarisme et aux tables tournantes (Paris: Mille et une nuits, 2003).↩
Michel Houellebecq, Plateforme (Paris: Flammarion, 2001), 27.↩
Houellebecq, Plateforme, 317.↩
Houellebecq, Plateforme, 340.↩
Houellebecq, Plateforme, 357.↩
Houellebecq, Plateforme, 369.↩
Houellebecq, La Carte et le territoire, 369.↩
Michel Houellebecq, „Interview avec Didier Sénécal“, Lire, 1. September 2001.↩
Michel Houellebecq, „Interview“, Le Grand Journal, Canal plus, 12. Januar 2015.↩
Michel Houellebecq, Paris Match, 20. Januar 2015↩
Michel Houellebecq, „Interview mit Josyane Savigneau“, Le Monde, 21./22. August 2005.↩
Granger Remy, „Houellebecq et le monde“, in Houellebecq et le monde, hrsg. von Gavin Bowd (University of Glasgow: French and German Publications, 2010), 4.↩
Michel Houellebecq, Soumission (Paris: Flammarion, 2015), 227.↩
Vgl. hierzu die Einleitung des lendemains-Dossiers von Jörg Steigerwald und Agnieszka Komorowska, lendemains 142/143 (2011): 6–17.↩
Houellebecq, Soumission, 260.↩
„Face aux intimidations islamistes, que doit faire le monde libre?“, Figaro, 19. September 2006.↩
Houellebecq, Soumission, 255.↩
Schon in der Extension heißt es: „En système économique parfaitement libéral, certains accumulent des fortunes considérables; d’autres croupissent dans le chômage et la misère. En système sexuel parfaitement libéral, certains ont une vie érotique variée et excitante; d’autres sont réduits à la masturbation et solitude. Le libéralisme économique, c’est l’extension du domaine de la lutte, son extension à tous les âges de la vie et à toutes les classes de la société.“ Houellebecq, Extension du domaine de la lutte, 115; die Schlussfolgerung hatte der Protagonist schon zuvor gezogen: „La sexualité est un système de hiérarchie sociale.“ Ebd., 106. Bemerkenswert ist jedoch, dass das letzte Kapitel, also die eigentliche Konversion und die Wiederaufnahme in die Sorbonne, im Konditional geschrieben ist. Auch wenn es sich, wie in anderen Romanen, eindeutig um einen Übergang von der zukünftigen Vergangenheit in die Zukunft handelt, klingt zumindest phonetisch die Konnotation der Möglichkeit aber nicht Notwendigkeit einer solchen Entwicklung an.↩
Houellebecq, Soumission, 30.↩
Paul Valéry, „La Crise de l’esprit“, in Œuvres de Paul Valéry, IV. D. Variété, premier volume (Paris: Éditions du Sagittaire, 1934).↩
Houellebecq, Soumission, 257.↩
Houellebecq, Soumission, 299–300.↩
Houellebecq, Soumission, 291.↩
Houellebecq, Soumission, 160.↩
Houellebecq, Soumission, 154.↩
Olivier Bessard-Banquy, „La vie éditoriale de Michel Houellebecq“, in Houellebecq et le monde, hrsg. von Gavin Bowd (University of Glasgow: French and German Publications, 2010), 18.↩
Houellebecq, La possibilité d’une île (Paris: Flammarion, 2005), 23.↩
Bessard-Banquy „La vie éditoriale de Michel Houellebecq“, 18–9.↩
Bessard-Banquy „La vie éditoriale de Michel Houellebecq“, 19.↩
Michel Houellebecq, „Entretien avec Christian Authier“, in Interventions 2 (Paris: Flammarion,2009), 206 und 204. Das Interview stammt aus dem Jahr 2002.↩
Houellebecq, „Entretien avec Christian Authier“, 195–6.↩
Houellebecq, Soumission, 201.↩
Houellebecq, Soumission, 153.↩
Houellebecq, Soumission, 153.↩
Houellebecq, Soumission, 154.↩
Houellebecq, Soumission, 271.↩
Houellebecq, Soumission, 272.↩
Bessard-Banquy „La vie éditoriale de Michel Houellebecq“, 19.↩
Pierre Jourde, La littérature sans estomac (L’Esprit des péninsules, 2002), 223. Jourde ist u.a. Huysmans-Spezialist, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Houellebecq ihn zumindest teilweise mit seinem Protagonisten anvisiert.↩
Jourde, La littérature sans estomac, 236.↩
Vgl. Wolfgang Asholt, „Eine lebenswissenschaftliche Kritik des Naturalismus? Die Debatte um das naturalistische Programm zwischen Jules Vallès und Emile Zola“, in Anfänge vom Ende: Schreibweisen des Naturalismus in der Romania, hrsg. von Lars Schneider und Xuan Jing (München: Fink, 2014), 143–56.↩
Bessard-Banquy, „La vie éditoriale de Michel Houellebecq“, 19.↩
Jourde, La littérature sans estomac, 236.↩
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