Post vom weißen Tyrannen: erste kommunikations- und mediengeschichtliche Monographie zu Grimms Correspondance littéraire – Kirill Abrosimovs Aufklärung jenseits der Öffentlichkeit

Jonas Hock

Kirill Abrosimov, Aufklärung jenseits der Öffentlichkeit: Friedrich Melchior Grimms ‚Correspondance littéraire‘ (1753–1773) zwischen der „république des lettres“ und europäischen Fürstenhöfen (Ostfildern: Thorbecke, 2014).

„Voici un monument – de savoir, de passion, mais aussi de rigueur. Un monument au passé de l’Europe, à la splendeur des Lumières, à la richesse de la culture française et à son large épanouissement.“1 Die Worte, mit denen Roland Mortier sein Vorwort zum ersten Band der historisch-kritischen Ausgabe von Friedrich Melchior Grimms Correspondance littéraire beginnt, sparen nicht an Pathos. Angemessen ist dieser Überschwang allemal, angesichts der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Grimm’schen Textkorpus einerseits, und der beeindruckenden Editionsarbeit andererseits, die seit der Jahrtausendwende von einem Team unter der Leitung von Ulla Kölving am Centre International d’Étude du XVIIIe Siècle in Ferney Voltaire geleistet wird. Das handschriftliche Periodikum, das eine beinahe lückenlose Chronologie des Pariser Geistes- und Kulturlebens seiner Zeit darstellt, wird damit erstmals, zumindest für die Jahre 1753 bis 1773, in einer vollständigen annotierten und indexierten wissenschaftlichen Ausgabe zugänglich. Vielleicht ist der hier zu besprechende Band ein erstes – glanzvolles – Vorzeichen für weitere Studien zu dieser ganz besonderen correspondance littéraire, die dank der Neuausgabe erstmals auf eine verlässliche Textgrundlage zurückgreifen können werden.

Die Correspondance littéraire, philosophique et critique war bei weitem nicht die einzige literarische Korrespondenz, die Adelige in ganz Europa gegen fürstliche Bezahlung über die wichtigsten literarischen Neuheiten, die aktuellsten Theater- und Musikaufführungen, politische Entwicklungen, philosophische Diskussionen, Modetrends und oft vor allem über den neusten Salonklatsch aus Paris informierte.2 Grimms Correspondance hob sich von anderen, teilweise konkurrierenden, jedoch vor allem durch seinen Umfang – sowohl den einzelner Lieferungen wie auch durch die lange zeitliche Kontinuität – sowie durch Qualität und Quantität des Autoren- und Empfängerkreises hervor: So waren Louise d’Épinay und Denis Diderot oft direkt an der Texterstellung beteiligt und übernahmen nicht selten die Redaktion, wenn Grimm auf Reisen war; viele weitere bekannte und weniger bekannte Aufklärer beteiligten sich ‚indirekt‘ durch Text- und Debattenbeiträge. Zu Hochzeiten hatte Grimm mehr als zwölf Abonnentinnen und Abonnenten, darunter u.a. Katharina II., das schwedische Königspaar Luise Ulrike und Gustav III., den polnischen König Stanislaw Poniatowski und zeitweise Friedrich II.

Der ‚weiße Tyrann‘3 verstand es, zwischen seinen Mitautoren, Zulieferern und Lesern ein Netz zu knüpfen, in dessen Mitte er selbst gleichsam als Spinne saß, die kleinsten Schwingungen aufnahm, weiterleitete oder blockierte und mit seinen Reparaturen der ‚Fäden‘ für eine ungewöhnliche und dauerhafte Stabilität sorgte. Dass dieses ‚Spinnennetz‘ als „‚ego-zentriertes‘ Teilnetzwerk“ (233) beschrieben werden kann, weiß man nach der Lektüre von Kirill Abrosimovs Aufklärung jenseits der Öffentlichkeit, einer am Forschungszentrum Europäische Aufklärung in Potsdam entstandenen Dissertation. Während die Correspondance littéraire als spezifisches Medium bisher kaum im Fokus der Forschung stand4 und eher als beinahe unerschöpfliche Quelle für Details, Anekdoten, Primärtexte aus der Herzkammer der Aufklärung diente5, ist es Abrosimovs Anliegen, sie als Medientypus zu verstehen, dem unter den vielfältigen Kommunikationsstrategien der Aufklärer eine spezifische Funktion zukam. Seinen Ansatz versteht der Autor dabei als kulturgeschichtliche Erweiterung der Medien- und Kommunikationsgeschichtsschreibung: Neben der Materialität des Mediums und seiner technischen Dimension soll auch die kommunikative Praxis, sprich die soziale Interaktion berücksichtigt werden. So entsteht einerseits eine mediengeschichtliche Detailstudie zur Correspondance littéraire als Spezifikum innerhalb der Menge der literarischen Korrespondenzen und andererseits eine kommunikationsgeschichtliche Neubewertung der Aufklärungszeit, die sich als Korrektur des Habermas’schen Öffentlichkeitsmodells versteht. Denn trotz des Fortschritts, den Habermas’ Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit, die kollektiv, kritisch und rational der Wahrheit zustrebe, gegenüber einer reinen Geistesgeschichte der Aufklärung darstellt, „verdeckt das Habermas’sche Deutungschema mehr, als es sichtbar macht“ (12), wie es in der Einleitung heißt. „Durch die normative Festlegung der öffentlichen Kommunikation auf Rationalität, Universalität und Transparenz“ (12) werde nämlich eine allzu starke Verengung des Blicks und Vereinheitlichung des Gegenstandes vorgenommen, was komplexeren Kommunikationsphänomenen wie eben der Grimm’schen Correspondance nicht gerecht werden könne.

Abrosimov betont dagegen von vornherein die zur Zeit der Aufklärung stark ausdifferenzierte Kommunikationskultur, die nicht zuletzt von den Aufklärern durch ihr strategisches Kommunikationsverhalten mitgeprägt wurde. „Dementsprechend stellten aufklärerische Kommunikationsstrategien zumeist komplexe Mischformen von Publizitäts- und Exklusivitätspraktiken dar, wobei den letzteren zuweilen strukturbildende Funktion zukam.“ (13) Auf diese zentrale These stützt sich die Untersuchung der Correspondance littéraire, welche in zweierlei Hinsicht eine Mischform darstellt: gattungs- bzw. medientypologisch sowie bezüglich der strategischen Funktion innerhalb des Kampfes um und für aufklärerische Ideen.

Im ersten Kapitel, „Mediale und kulturelle Rahmenbedingungen“, wird zunächst die correspondance littéraire als Medientypus bestimmt, der sich vom gelehrten Briefwechsel, der gedruckten Zeitschrift, eher tagespolitisch ausgerichteten nouvelles à la main und offizieller diplomatischer Korrespondenz trotz verschiedener Überlappungen unterscheidet. Das Grundmerkmal dieses Medientypus, „dass es sich in erster Linie um einen Informationskanal zwischen der französischen Metropole Paris/Versailles und den europäischen Höfen handelte“ (17), trifft auch auf die Correspondance von Grimm zu, die Abrosimov als Neuinterpretation der literarischen Korrespondenz versteht, wobei Grimm deren kommunikationsstrategisches Potential in besonderer Weise für sein aufklärerisches Projekt fruchtbar gemacht habe: Neben den typischen Merkmalen (Handschriftlichkeit und Verschickung in Briefform, Adressierung an Herrschaftseliten, Bezahlung des Abonnements usf.) weist Grimms Periodikum Spezifika auf, die es gerade nicht als Musterbeispiel für die ‚klassische‘ literarische Korrespondenz erscheinen lassen, wie Abrosimov betont. Das so umfangreiche wie exzellente dritte Teilkapitel bildet mit seiner dichten und präzisen Beschreibung der Spezifika der Correspondance littéraire philosophique et critique das Herz der Arbeit. Dargestellt wird Grimms persönliche Priorisierung seiner Tätigkeit als Korrespondent, die für ihn weniger Nebenverdienst denn wahrer Fulltimejob war, „seine tiefe Abneigung gegenüber dem Pariser Klatsch und Tratsch“ (84), welcher in anderen correspondances viel Raum einnahm, seine Selbstverortung als philosophe und die entsprechende Ausrichtung seiner Kulturberichterstattung. Als Sprachrohr des parti philosophique sei das Periodikum jedoch nicht auf die Meinung seines Redakteurs festgelegt gewesen, sondern der „kollektive Charakter“ seiner Produktion und die daraus resultierende „programmatische Vielstimmigkeit“ dienten „der von Grimm und seinen Mitstreitern angestrebten Entfaltung der kritischen Polyperspektivität“ (94), also einem aufklärerischen Kernanliegen. Dem gegenüber stand die Konstruktion eines kollektiven Adressaten und einer einseitigen Gerichtetheit – die Untersuchung dieser Aspekte gehört zu den erhellendsten Seiten der Arbeit (vgl. 103–112). Immer auf seine Autonomie bedacht, entindividualisierte Grimm seine Correspondance und achtete auf eine streng einseitige Kommunikation, welche die Fürstinnen und Fürsten auf die passive Rolle anonymer Empfänger festlegte. Erst diese „Außerkraft-Setzung der hierarchischen Sender-Empfänger-Konstellation“ (110) – Briefwechsel lagerte Grimm in seine private Korrespondenz aus – schaffte den geschützten Raum, innerhalb dessen die beteiligten philosophes ihr aufklärerisches Projekt entfalten konnten; außerdem war es so möglich, Wünsche und Versuche der Einflussnahme einzelner fürstlicher Empfänger zu neutralisieren. Textuell schlugen sich diese Strategien beispielsweise im konsequenten Verzicht auf Briefform und Etikette, materiell in der Verwendung kleinerformatigen Briefpapiers durch, als für den Briefverkehr mit Adeligen vorgeschrieben.

Nach dieser Engführung erweitert das zweite Kapitel die Perspektive wieder und untersucht die Correspondance „als Medium der französischen Aufklärung“, indem einzelne Aspekte wieder aufgegriffen und in den Kontext der Kommunikationsstrategien der Aufklärer gestellt werden. So wird zunächst das Verhältnis von Grimms striktem Geheimhaltungspostulat zum Öffentlichkeitsdiskurs untersucht, wobei Abrosimov Grimms Unternehmen als „eine Antwort auf die tiefgreifende Krise der Gelehrtenrepublik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ (127) interpretiert. Dem von den technisch-ökonomischen und politischen Bedingungen der Zeit überholten Ideal der freien Kommunikation zwischen Gleichen/Gelehrten setze Grimm ein Modell ‚esoterischer‘ Kommunikation entgegen, bei der eine „Gemeinschaft der Auserwählten“ (165) sich einen Schutzraum schafft, in dem die „vrais philosophes“ – der Ausdruck stammt von Grimm –, also die „wahrhaft aufgeklärten, mit analytischem Vermögen und ästhetischer Sensibilität begabten Individuen“ (166) gleichsam als Avantgarde der Suche nach Wahrheit und Erzeugung von Wissen nachgehen können, um erst in einem zweiten Schritt für beider Verbreitung zu sorgen. Mit dieser Feststellungen löst die Arbeit das Versprechen der oben bereits angesprochenen Erweiterung bzw. Korrektur des Habermas’schen Öffentlichkeitsparadigmas ein. Das wird nicht nur präzise aus dem umfassenden Korpus explizit mit strategischen Fragen sich befassender Texte Grimms und seiner Mitstreiter herausgearbeitet, sondern auch an einer Fallstudie anhand von Grimms und Diderots Bemühungen um eine umfassende Bühnenreform exemplifiziert, woran das Funktionieren und die Wirksamkeit der Grimm’schen Kommunikationsstrategie aufschlussreich nachgezeichnet werden.

Dass der Kommunikationsraum, den die Correspondance herstellte, als konstitutiver Teil eines Netzwerkes betrachtet werden kann, zeigt das letzte Kapitel, in dem das komplizierte Verhältnis von Aufklärung und Absolutismus anhand der Funktion von Grimms Periodikum „als Kommunikationsplattform der französischen Aufklärer und europäischen Fürsten“ diskutiert wird, wie es im Titel heißt. Um das Agieren sowohl der philosophes als auch der princes éclairés „nicht als Folge ihrer inneren Überzeugungen“ (217) erklären zu müssen – deren Rekonstruktion immer problematisch ist –, setzt Abrosimov auf die Netzwerkanalyse, die es erlaubt, Positionen eher relational, als Interessenkonstellationen zu analysieren. Er zeigt auf, dass sowohl auf Produzentenseite als auch auf Abonnentenseite das Netzwerk der Correspondance littéraire konzentrisch strukturiert war: mit Grimm im Zentrum auf der einen Seite und seinen ältesten und treuesten Abonnentinnen auf der anderen (Luise Dorothea von Sachsen-Gotha, Karoline von Hessen-Darmstadt, Sophie Erdmuthe von Nassau-Saarbrücken). Spezifika des Netzwerkes waren u.a. die „hohe Beziehungsdichte“ (238) – Grimm bemühte sich, nicht selten gar durch Heiratsvermittlungen, um intensive Verbindungen zwischen seinen Abonnenten –, die „‚multiplexen‘ Beziehungen“ der Beteiligten und die „große Reichweite“ (239) der Correspondance. Geschlossen wird das Kapitel mit einer Darstellung des Netzwerkes „als Börse symbolischen Kapitals“ (240), von der Produzenten wie Rezipienten, philosophes wie Fürsten gleichermaßen profitieren konnten, wobei vor allem letztere als ‚Hauptgewinn‘ die Adelung als prince éclairé erhalten konnten.

Nachdem Abrosimov Grimms Correspondance littéraire als „eigenes Kommunikationsmodell“ bestimmt hat, mit dem dieser eine „esoterische Kommunikationsstrategie“ verfolgte, um einen geschützten „Ort der aufklärerischen Wissensproduktion“ und eine „Ordnungs- und Integrationsinstanz der philosophischen Allianz“ (261) herauszubilden, deutet er im Schlusswort Gründe für das langsame Ende dieses Modells an. Vor dem Hintergrund des Wandels der Kommunikationskultur und des intellektuellen Diskurses insgesamt, Konflikten innerhalb des parti philosophique und seiner allmähliche Desintegration sowie politischen Verschiebungen, übergab Grimm ‚seine‘ Correspondance Mitte der 1770er Jahre schrittweise an seinen langjährigen Sekretär Jakob Heinrich Meister6. Die verstärkte Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit, die weitere Ausdifferenzierung von Briefkultur und Zeitschriftenwesen sowie eine immer weniger einseitig an Paris orientierte Kulturberichterstattung für informationshungrige Adelige und zunehmend solvente Bürgerliche dürften nur einige Gründe für das langsame Aufgehen der literarischen Korrespondenz im professionellen Journalismus als Korrespondentenbericht gedruckter Zeitschriften sein. Aber wird die Post des ‚weißen Tyrannen‘ an die mehr oder weniger tyrannischen und aufgeklärten Fürstinnen und Fürsten Europas tatsächlich durch weniger exklusive und günstigere Zeitschriftenabonnements abgelöst? Zumindest führt Meister die Correspondance bis ins Jahr 1813 weiter, wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Nach der Lektüre von Abrosimovs Untersuchung des Zeitraums bis in die 1770er Jahre wünscht man sich eine ebenso exzellente kommunikations- und mediengeschichtliche Untersuchung der sich anschließenden Meister’schen Phase. Auf jeden Fall kann den Universitätsbibliotheken geraten werden, jeweils drei Exemplare dieses Bandes anzuschaffen: eines für das ‚Aufklärungs-Regal‘ der Geschichtswissenschaft, eines für die historische Abteilung der Medienwissenschaften und nicht zuletzt das für das Grimm-Regalbrett der Romanistik.


  1. Roland Mortier, „Préface“, in Correspondance littéraire, hrsg. von Ulla Kölving, tome I: 1753–1754 (Ferney-Voltaire: Centre International d’Étude du XVIIIe Siècle, 2006), v–ix, v.

  2. Einen guten Überblick über diese ‚Gattung‘ mit Ausschnitten aus über 20 Korrespondenzen bietet der einschlägige Band von Jochen Schlobach, Correspondances littéraires inédites: Études et extraits (Paris/Genf: Champion-Slatkine, 1987).

  3. Die Wandlung des Regensburger Pastorensohns zum ‚Pariser‘ Aufklärer wurde durch einen markanten Stilwechsel begleitet: Sein übermäßiger Gebrauch von Puder und anderen Kosmetika brachte Grimm nicht nur die Verachtung Rousseaus, sondern auch den Spitznamen „Tyran le Blanc“ ein; vgl. Kai Nonnenmacher, „Der weiße Tyrann aus Regensburg, Aufklärer und Diplomat: Friedrich Melchior Grimm“, in: Kleine Regensburger Literaturgeschichte, hrsg. v. Rainer Barbey (Regensburg: Pustet, 2014), 177–183 sowie das „Livre neuvième“ von Rousseaus Confessions.

  4. Ansätze finden sich im Umkreis der Pionierarbeiten Jochen Schlobachs; vgl. beispielsweise den Tagungsband: Bernard Bray, Jochen Schlobach, Jean Varloot, Hrsg., La ‚Correspondance littéraire‘ de Grimm et de Meister (1754–1813) (Paris: Klincksieck, 1976).

  5. Es sei lediglich beispielhaft daran erinnert, dass Diderots Jacques le Fataliste zunächst in der Correspondance erschien, sodass u.a. Goethe und Schiller, die beide Zugang zur Correspondance hatten, das Werk früh wahrnehmen konnten und, im Falle Schillers, sogar eine Teilübersetzung publizieren.

  6. Vgl. die Habilitationsschrift von Maria Moog-Grünewald, Jakob Heinrich Meister und die ‚Correspondance littéraire‘ (Berlin: De Gruyter, 1989), die bis heute die einzige umfassendere Untersuchung der Meister-Periode darstellt; eine Grundlagenarbeit, die weniger kommunikationsgeschichtlich orientiert ist, sondern Meisters Werke, und v.a. die Correspondance, „in ihrer Vielfalt und Kontinuität erstmals vorzustellen“ (19) beabsichtigt.





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