Festrede bei der Abschiedsfeier für Charles Grivel an der Universität Mannheim, 12. Juli 2002

Joseph Jurt

I

Charles Grivel hat schon bei seiner Geburt Glück gehabt. Er ist in Genf geboren. Er reiht sich ein in eine prominente Reihe, die von Rousseau bis Saussure reicht. Für Rousseau war aber die Geburt der Beginn einer Serie von Unglück. Nicht so bei Charles Grivel. Denn er ist Sohn einer französischen Mutter und eines Schweizer Vaters; er verfügt über zwei Staatsangehörigkeiten. In Genf auch Franzose zu sein ist etwas Besonderes. So erklärte mir unlängst eine Frau, die aus einer französischen Grenzgemeinde kommend das Gymnasium in der Calvinstadt besuchte: „Tu as de la chance, tu es française“ – Du hast Glück, denn du bist Französin, das hätten ihr immer ihre Genfer Schulkameradinnen gesagt. In Genf schaut man in der Tat mit einer gewissen Bewunderung hoch zum großen französischen Bruder. Charles hatte Glück: er war selber der große Bruder.

Zunächst wurde er geprägt durch seine Heimatstadt. Er absolvierte das Collège Calvin und studierte dann bis zum Lizenziat bei den berühmten Literaturwissenschaftlern der Genfer Schule, die ganz wesentlich zur Öffnung einer im Positivismus erstarrten Literaturbetrachtung beitrugen: Marcel Raymond, Jean Rousset und Jean Starobinski.

In der Schweiz ist man nicht einfach Bürger eines Staates, sondern Bürger einer Gemeinde. Diese Heimatgemeinde und nicht der Geburtsort ist im Pass eingetragen. Und diese Heimatgemeinde muss für einen aufkommen, wenn man verarmt; dort hat man einen Platz im Altersheim sicher. Nun, die Heimatgemeinde von Charles hat einen besonders schönen Namen; einen besseren Ursprungsort könnte sich ein Literaturwissenschaftler, ein Gelehrter, der ein Leben lang mit Büchern zu tun hat, nicht ausdenken. Der Heimatort von Charles Grivel heißt schlicht und einfach: Saint-Livres.

Charles Grivel ist nun aber keineswegs einer, der sich über seine Wurzeln bestimmen lässt. Wurzeln haben die Bäume, die immer am selben Ort stehen. Charles Grivel hat nicht so sehr Wurzeln; er hat Flügel. Nach seinem Lizenziat in Genf wechselte er nicht bloß die Universität; er wechselte den Kontinent; er war während eines Jahres Stipendiat an der französischen Universität in Dakar, betrieb dort Forschungen im Bereich der Kunst-, Kultur- und Religionsgeschichte sowie der Kulturanthropologie. Seine Felderkundungen führten ihn über Senegal hinaus bis nach Guinea und Mali.

Nach einem Jahr Afrika begann für ihn wieder eine neue Etappe, ein neues Land, wo er auch wieder Feldforschung betreiben konnte, Feldforschung einer anderen Art. Charles Grivel kam 1961 nach Deutschland. Ich weiß nicht, ob er damals ahnte, dass diese Beziehung von Dauer sein sollte, eine Beziehung, die bis heute anhält, und die uns hier zu dieser Feierstunde in Mannheim zusammenführt. 1961 wurde Charles Grivel Lektor für Französisch am Institut für Romanistik in Gießen bei Hans-Robert Jauß. Eine Linie, die schon in Genf begonnen hatte, setzte sich so fort: die Begegnung mit berühmten Persönlichkeiten des wissenschaftlichen Lebens. Charles Grivel blieb aber bloß zwei Jahre in Gießen. Dann begann seine holländische Periode. Von 1961 bis 1975 war er Assistent und dann Oberassistent für zeitgenössische französische Literatur und Literaturtheorie an der Freien Universität von Amsterdam. 1973 hatte er sich in Leyden habilitiert, lehrte dann in Amsterdam und Groningen, wo er 1980 zum Lehrstuhlinhaber berufen wurde.

Doch sein wissenschaftlicher Ruf war in der Zwischenzeit weit über Holland hinausgedrungen. Schon 1970/71 hatte er in Konstanz den Lehrstuhl von Hans-Robert Jauß vertreten. 1980 wirkte er als Gastprofessor an der Universität Bochum. 1981 war der große Einschnitt. 1981 begann nicht bloß eine neue Zeitrechnung in Frankreich, sondern auch in Mannheim. 1981 wurde Charles Grivel auf einen Lehrstuhl für Romanische Philologie an dieser Universität berufen und er ist dieser Universität, wie man schön sagt, bis heute treu geblieben. Sein Wirken an der Mannheimer Universität ist bereits schon von der Dekanin der Philosophischen Fakultät ausführlich gewürdigt worden. Die Treue bedeutet aber nicht, dass Charles Grivel in Mannheim zum Stubenhocker wurde. Er verschloss sich auch hier nicht ehrenvollen Einladungen an ausländische Universitäten. So nahm er Gastprofessuren in Québec, an der Sorbonne Nouvelle, in Montréal, in Salzburg wahr.

Wenn man alle die Orte aufzählen würde, wo Charles Grivel zu Gastvorträgen eingeladen wurde, und sie mit einer Stecknadel auf einer Weltkarte markieren würde, dann bekäme man ein sehr farbiges Bild. Ich zähle bloß einige Orte der letzten Jahre auf, wo Charles Grivel Vorträge hielt: Paris, Montpellier, Cerisy-la-Salle, Montréal, Besançon, Dunkerque, Cáceres, , Sofia, Dresden, Trient, São Paulo, Cuiabá (Mato Grosso), Campinas, Venedig, Aix-en-Provence, Bordeaux, La Réunion, Osnabrück, Dortmund, Löwen, Strasbourg, Budapest, Düsseldorf, Bochum, Vezelay, Weimar, , Albi, Lyon, Bielefeld, Toulouse, Jena, Kassel, Trier, Salzburg, , Santiago de Compostela, Siegen, Versailles, Dublin, Cergy-Pontoise, Antwerpen, Konstanz, Grenoble, Fès, Münster, Poitiers, Bad Homburg, Lille, Valencia, Nantes, Turin, Clermont-Ferrand, San José (Costa-Rica), Bahia, Recife, Berkeley, Passau, Freiburg. Ich breche hier willkürlich ab. Das sind bloß Einladungsorte der letzten zehn Jahre. Die Liste spricht für sich.

„Charles Grivel ist doch ein Holländer“, meinte kürzlich ein Kollege zu mir. Das ist durchaus bezeichnend. Denn er ist nicht schlicht einer festen, unbeweglichen Identität zuzuordnen. Er ist Schweizer, er ist Franzose, er ist deutscher Beamter, er wirkte lange in Holland. Ich würde jetzt nicht einfach sagen, er ist ein Europäer. Das wäre zu vordergründig. Er gehört zum Collegium invisibile der Gelehrten, ein Collegium, das nicht durch nationale Grenzen und Zuordnungen bestimmt wird, ein Collegium, das früher einmal ‚La République des lettres‘ hieß, eine Republik, deren Bürger aus unterschiedlichsten Ländern stammten und die die Liebe zur Philologie, zur Literatur einte. Charles Grivels Weg ist eine beispielhafte internationale Karriere, wie sie leider heute noch so selten ist, da die Wissenschaftssysteme noch so stark national geprägt sind, auch und gerade in der Romanistik. So lassen sich die französischen Lehrstuhlinhaber im Fach Romanistik an den achtzig deutschen Universitäten an einer Hand aufzählen. Es war gut, dass Charles Grivel da war und auch da ist. Er hat frischen Wind in die deutsche Romanistik gebracht.

Dass Charles Grivel, der Internationale, in Mannheim während zwei Jahren eine interdisziplinäre Forschungsgruppe zum Thema ‚Regionale Identität‘ leitete, ist nur scheinbar ein Paradox. Gerade weil er über eine so intensive internationale Erfahrung verfügt, weiß er um die Notwendigkeit, aber auch um die Relativität des regionalen Bezuges. Dazu legte er einen schönen Text „Identitätsräume“ vor. Darin betont er, dass der Hang zum Nomadentum beim Menschen nie ganz verschwunden sei und dass nationale, regionale oder private Gebiete in ihrer Entstehung vollkommen zufallsbedingt seien.

„Dennoch“, so führt er weiter aus, „impliziert die Vergabe einer Identität ein Gebiet, und zwar sowohl auf der Ebene der Gemeinschaft (beispielsweise der Nation) als auch auf der individuellen Ebene (des Wohnorts und der eigenen vier Wände). In diesem Rahmen drücken Empfinden und Erleben der Identität eine Beziehung der Befriedigung aus, die den Menschen an einen Ort bindet. Identität setzt voraus, dass der Mensch sich zumindest minimal wohlfühlt.“ Charles Grivel fügt dann in Klammern hinzu: „Dieses ‚Wohlbefinden‘ äußert sich u.a. bei offiziellen Anlässen und Festen: wir müssen hier allerdings auch die Tatsache berücksichtigen“, so schreibt er weiter, „dass es sich hierbei eher um ein gemeinschaftliches Zurschaustellen von Wohlbefinden, denn um eine einfache Kundgabe desselben handelt.“

Ich glaube indes behaupten zu dürfen, dass es sich zumindest heute nachmittag, bei diesem Fest zu Ehren von Charles Grivel, sicher um mehr handelt, als um ein gemeinschaftliches Zurschaustellen von Wohlbefinden.

II

Wenn Charles Grivel nicht nur in Deutschland, sondern international auf so große Resonanz gestoßen ist, dann liegt es an seinem Werk, am spezifischen Profil seines literaturwissenschaftlichen Schaffens. Das, was dieses Schaffen zuallererst auszeichnet, das ist Originalität. Charles Grivel ist nicht ausgetretene Pfade gegangen. Er hat nicht abgegraste Wiesen noch einmal gemäht. Schon seine Habilitationsschrift von 1973 Production de l’intérêt romanesque ließ aufhorchen. Dieses Projekt schrieb sich nicht mehr in die traditionelle Literaturhermeneutik ein, die von einer nicht hinterfragten vor-wissenschaftlichen Selbststilisierung ausging und die Literatur auf kanonisierte Werke kanonisierter Autoren reduzierte.

Charles Grivel definierte Literatur ohne vorgängige Valorisierung als ein Ensemble von Texten, für die eine Analysemethode gefunden werden sollte, die auch auf andere bedeutungsgenerierende Praktiken angewandt werden könnte, ein Verfahren, das unter dem Namen Semiotik den Platz beanspruchte, der an der Schnittstelle von Linguistik und Philosophie offen blieb. Das Verfahren, das Charles Grivel hier anwandte, war sehr subtil. Von verschiedenen fortschreitenden Analyseebenen ausgehend untersuchte er sein Corpus, das aus Romantexten bestand, zunächst unter den allgemeinen Gesichtspunkten der Kommunikationstheorie, um dann zu einer strukturalistischen Feinanalyse überzugehen, um schließlich die spezifische Wirkung zu ermitteln, die die beschriebene Textsorte innerhalb der kulturellen Institution ‚Literatur‘ erzielt. Als Corpus dient hier das Gesamt der französischen Romane, die zwischen 1870 und 1880 veröffentlicht wurden, das heißt etwa 3000 Werke, aus denen 200 repräsentative Exemplare ausgewählt wurden. Die Analyse beschränkte sich aber nicht auf den Romantext, sondern bezog auch die interpretativen, didaktischen oder parodistischen Texte mit ein, die auf den Romantext aufgepropft wurden. Der Text wird so nicht als ein abgeschlossenes System, sondern als Prozess betrachtet. Schon in diesem Werk findet man eine ganz persönliche Handschrift, eine Schreibweise, die mit dem üblichen akademischen ausgewogenen Stil bricht, eine Schreibweise, die unzählige Referenzen aus der riesigen Text- und Theorieproduktion beschwört und den Mut zu radikaler These über das Romaneske findet und über den Weg, wie man wieder aus dem Romanesken herausfindet.

Charles Grivel hat sich, wie gesagt, schon hier nicht bloß an die kanonisierte Literatur gehalten. In dem bereits genannten Text über Identitätsräume definiert er Identität einerseits als bestehende oder angestrebte Existenz mit einer Gruppe auf deren Gebiet, andererseits als das, was sich manchmal bestätigt, aber öfter durch Bücher (Erzählliteratur) oder Bilder in Frage gestellt wird. Selbst wenn man versuche, durch nationale oder regionale Zeremonien Wohlbefinden darzustellen, reiche dies aber als symbolischer Überbau nicht aus, schreibt Charles Grivel, um dann fortzufahren:

Denn die Fiktion eines Missstandes, welcher beispielsweise die Literatur – die nicht öffentliche Meinung – permanent in Umlauf bringt, zersetzt und destabilisiert den offiziellen Diskurs. Hier steht Repräsentation gegen Repräsentation, keine der Identitäten wird sich definitiv behaupten können.

Charles Grivel hat so immer wieder Literatur untersucht, die die bestehenden Gewissheiten in Frage stellt. Eine Literatur, die nicht im Zentrum steht, sondern die vom Rande her das Zentrum in Frage stellt. Dazu zähle ich das schöne Buch über das Fantastische und die Fiktion, Fantastique – Fiction, das 1992 im Verlag Presses Universitaires de France erschienen ist. Charles Grivel überschreitet hier aber auch die engen Grenzen der Literaturwissenschaft in Richtung visueller Kunst, indem er ein ganzes Kapitel Max Ernst widmet. Das ist noch offensichtlicher im Sammelband, den er 1997 in der Reihe ‚Cahiers de l’Herne‘ herausgab und der Dracula galt, der Vampir als fantastische Figur, der im Text, im Bild, im Film seine Wiederkehr findet.

Das Interesse Charles Grivels gilt überdies dem roman populaire. So widmete er zahlreiche Studien Alexandre Dumas, Féval, Gaston Leroux. Innerhalb dieses Forschungsgebietes nahm er auch wichtige forschungsorganisatorische Funktionen wahr. Von 1993 bis 1999 war er Präsident der Association des Amis du Roman populaire und Leiter der Zeitschrift dieser Vereinigung Tapis-Franc. Überdies stellte er ein Netzwerk der Forscher, die sich dem französischen Volksroman widmen, auf die Füße, das vor allem Forscher aus Limoges, Paris VII, Montréal und Löwen vereint.

Ein weiterer Schwerpunkt stellt die Literatur des Fin de siècle dar. Ich erwähne hier die von ihm besorgte Taschenbuchausgabe Tout Ubu von Alfred Jarry, die Arbeiten über Villiers, Lorrain, Rachilde und die Brüder Goncourt. Seit letztem Jahr gehört er auch dem Redaktionskomitee der Cahiers Edmond et Jules de Goncourt an.

Schließlich darf ich auch das Forschungsinteresse für den Surrealismus und die Avantgarden erwähnen (mit den Studien über Breton, Aragon, Rigaut, Soupault) sowie für die zeitgenössische Literatur (Cendrars, Bousquet, Ollier).

Charles Grivel zeichnet sich so durch eine stupende Kenntnis der französischen Literatur auch in ihren nicht-konventionelle Formen aus. Bei einem Romanistischen Kolloquium in den 80er Jahren, das der französischen Klassik galt, stellte er Tabarin vor. Diesmal sei Charles Grivel zu weit gegangen, meinte einer der Verantwortlichen des Kolloquiums. Er habe einen Autor erfunden. Nur Tabarin, ein Pseudonym für einen damals berühmten Farceur, existierte sehr wohl; er gehörte bloß nicht zum Kanon der in der deutschen Romanistik behandelten Autoren. Charles Grivel brachte so nicht nur neuen Wind in die Romanistik, er erweiterte auch ihren gängigen literarischen Kanon.

Diese deutsche Romanistik war ihm ein Anliegen. Bei seinen zahllosen internationalen Beziehungen hätte er sich sagen können: Qu’importe? Was soll’s? Er engagierte sich jedoch insbesondere für das Französische, die Sprache und die Literatur Frankreichs, die in den letzten Jahren an den deutschen Universitäten einen besorgniserregenden Rückgang erlebten. So war er sehr aktiv bei der Gründung des Deutschen Frankoromanistenverbandes beteiligt und wurde 1999 zu dessen ersten Vizepräsidenten gewählt. Sehr aktiv beteiligt er sich auch an den Frankomanisten-Kongressen, die bisher in Mainz, in Dresden stattfanden und dieses Jahr in Aachen. Frankreich hat ihm dafür zu Recht gedankt. 1995 war er mit einem großen französischen Orden ausgezeichnet worden: er wurde zum Officier dans l’Ordre des Palmes académique ernannt.

III

Charles Grivel ist ein großer Literaturwissenschaftler. Er hielt sich aber – zum Glück – nicht an die engen Grenzen seines Fachs. Schon früh erkannte er, dass es neben der Literatur andere symbolische Repräsentationsformen gibt, dass Literatur in einem größeren Medienkontext, in Rivalität zu anderen Medien steht. Charles Grivel spielte hier zweifellos eine Pionierrolle und er verlieh so seinem Fach durch den Aufbau eines Medienschwerpunktes ein spezifisches Profil. Ich erinnere hier an den Sammelband Appareils et machines à représentation, den Charles Grivel 1988 in der Reihe MANA herausgab. Der Band, an dem so viele Kollegen und Kolleginnen aus Mannheim mitarbeiteten, ist gleichzeitig lebendiger Ausdruck der Teamarbeit einer jungen Equipe, die sich um Charles Grivel scharte und die sich mit großem Elan der faszinierenden Medienthematik zuwandte. Hier finden sich Beiträge über die neuen Reproduktionsformen, die sich der Apparate und der Maschinen bedienen wie Photographie, Radio oder Phonograph, die neue symbolische Güter und trotz der maschinellen Reproduktion auch neue Typen von Symbolen schaffen. Charles Grivel veröffentlichte in diesem Band neben einer Studie über den Phonographen einen sehr originellen Aufsatz über die Taschenuhr mit ihren Bildern, ein Apparat, der die Zeit verkörperlicht und den Körper verzeitlicht. Nach der Anspielung auf die jurassischen Uhrmacher, die Anarchisten und auf ein Bild Lenins mit Uhrenkette in Genf spricht Charles Grivel auch von der Rock-Watch, Marke Tissot, die er am 15. Mai 1986 in Genf gekauft hat. Die Apparate führten ihn zurück an seinen Geburtsort. Die Zeiger seiner Uhr waren gelb und rot – die Genfer Farben.

Rouge et jaune sont au drapeau de la République et canton de Genève, lieu natal – j’aime emporter avec moi, moi migrant, exilé volontaire, les signes non patents d’une si improbable origine.

Die Maschine, die die Zeit reproduziert, führte, wie gesagt, Charles Grivel nach Genf zurück, aber auch die Medien. So gab er einen Band des Genfer Schriftstellers und Malers Rodolphe Töpffer aus dem Jahre 1865 neu heraus. Töpffer war nicht bloß für die Ausbildung eine regionalen Westschweizer literarischen Identität wichtig, weil er in seinen Romanen, etwa in Le Presbytère, die Personen auch in ihrer regionalen Variante sprechen ließ. Er war als Maler und Zeichner bedeutsam durch seine Réflexion et menus propos d’un peintre genevois. Denn Töpffer entwickelte eine Konzeption der Illustration und der Zeichnung, die sich von der Malerei zu emanzipieren suchte und die er der neuen Kunst der Photographie entgegenstellte. Er gilt heute als Erfinder des Comics und einer neuen Form der Karikatur im 19. Jahrhundert. Die Neuausgabe dieses Textes war so auch eine Art Archäologie der Medienreflexion. Charles Grivel hatte überdies die gute Idee, in dem genannten Band auch einen Text Töpffers aus dem Jahre 1840 zu den frühen photographischen Versuchen von Daguerre beizufügen. Die Beziehung Bild und Text steht generell im Zentrum des Medieninteresses von Charles Grivel.

Davon zeugen seine neuesten Publikationen über das illustrierte Buch: Le passage à l’écran: littérature des hybrides (2000). Ich erinnere auch an seine Studien über die photographische Illustration Le roman mis à nu par la photographie [1999], über die filmische Intermedialität, (D’un écran automobile [1999] sowie über die zeitgenössische Photographie: Stella – im Namen des Himmels: die Fotografie nach Alain Fleischer (und einigen Vorläufern) [1997]). Charles Grivel leitete überdies in Mannheim ein Forschungszentrum über die Theorie der Photographiegeschichte in Zusammenarbeit mit der Société Française de Photographie.

Charles Grivel manifestierte mit dem Aufbau dieses Medienschwerpunktes mit dem Hauptakzent Photographie seine große Kreativität. Mannheim wird ihm dankbar sein. Dieser Forschungsschwerpunkt wirkt aber über Mannheim hinaus. Charles Grivel hat hier – wie könnte es anders sein – auch junge Forscher angezogen, die von seiner Kompetenz profitieren wollten und die unter seiner Ägide wichtige Forschungsarbeiten zur Medientheorie und -geschichte vorlegen konnten. Ich denke hier etwa an Bernd Stieglers Habilitationsschrift über die Photographie.

IV

Ich denke, Sie haben mittlerweile auch den impliziten Aufbau meiner Ausführungen erkannt. Es handelt sich um eine klassische Dreiteilung: Charles Grivel, der Internationale; Charles Grivel, der originelle und weitbewanderte Literaturwissenschaftler und schließlich Charles Grivel als innovativer Medientheoretiker. Doch ist wohl eine solche Dreiteilung für Charles Grivel zu klassisch.

Man müsste noch einen weiteren Teil, einen Epilog, hinzufügen, in den man all das aufführte, was man – faute de temps – nicht vertiefen konnte. Man müsste auch von Charles Grivel als Schriftsteller sprechen. Er schrieb nicht nur über Literatur; er schrieb selber Literatur. Stellvertretend seien bloß ein paar wenige Titel erwähnt: Le messager boiteux (1974), Le voyage en Orient (1982), Précipité d’une fouille (1990), La Retenue / La Prisa (1992). Nicht erwähnen konnte ich seine Radio-Beiträge, die Beiträge zu Ausstellungen und Cédéroms oder seinen Auftritt als Schauspieler in Marie-Françoise Plisterts Suite photographique Aujourd’hui.

Schließlich müsste ich noch sehr viel sagen über das, was man so schön und schlicht den Menschen nennt. Wenn Charles Grivel auftritt, füllt er den Raum mit seinem scharfen, neugierigen, aufmerksamen und zugleich leicht schalkhaften Blick. Er ist immer gut für ein Bonmot, eine freundschaftliche Geste. Wenn man bloß seine vielfältigen Aktivitäten, seine zahlreichen Engagements überblickt, stellt man sich einen Gelehrten vor, der sich nur in seiner Studierstube aufhält und kaum Zeit findet. Der Gegenteil ist der Fall. Das, was Charles Grivel neben seiner großen intellektuellen Neugierde so sympathisch macht, das ist sein steter Humor, seine Selbstironie, der ludische Umgang mit seinen Forschungsgegenständen. Diese ludische Haltung kennzeichnet letztlich den Ästheten und den honnête homme, der das absolute Gegenbild zu jeder Pedanterie darstellt.

Eingeladen wurden wir heute zu einer Verabschiedung. Es ist aber kein Abschied. Der Einschnitt ist bloß Ausdruck quantitativer beamtenrechtlicher Vorgaben. Charles Grivels Dynamik ist ungebrochen und das ist gut so. Er wird seine Felder weiter bearbeiten und wir alle werden davon profitieren. Wenn sich eine Tür hier schließt, so öffnen sich viele andere, sagte der andere, André Gide. Wir freuen uns mit Dir, Charles, heute ein Fest zu feiern, das gleichzeitig Ausdruck Deines und unseres Wohlbefindens ist.

Joseph Jurt, 12. Juli 2002





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