Tagungsbericht „Schnittstelle(n) (der) Philologie“
Luca Melchior, Johannes Mücke und Verena Schwägerl-Melchior
Die Sektion „Schnittstelle(n) (der) Philologie“ fand anlässlich des 9. Kongresses des Frankoromanistenverbandes „Schnittstellen/Interfaces“ (24. – 27. September 2014) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter der Leitung von Luca Melchior, Johannes Mücke und Verena Schwägerl-Melchior statt. Die Vorträge und die sich anschließenden Diskussionen beleuchteten das Sektionsthema aus verschiedenen Perspektiven. Die Sektionsbeschreibung findet sich online.1
Ein Impulsreferat zu Beginn der Sektionsarbeit (Verena Schwägerl-Melchior) zeigte das Potential des Begriffs der „Schnittstelle“ für die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit (per se interdisziplinärer) Fachgeschichte, insbesondere mit Blick auf das für die Ausdifferenzierung der Philologien entscheidende 19. Jahrhundert, auf. Der bereits zeitgenössisch mehrere Lesarten zulassende Begriff der „Philologie“ wurde anhand von mehreren Zitaten Hugo Schuchardts und anderer Wissenschaftler problematisiert. Davon ausgehend wurden die wichtigsten im 19. Jahrhundert feststellbaren Verschiebungen, Ausdifferenzierungen und Verschränkungen unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche skizziert, um im Anschluss die für die Sektionsarbeit maßgebliche Verknüpfung der Begriffe „Schnittstelle“ und „Philologie“ zu illustrieren, die sich auf drei Leitfragen synthetisieren ließ: Inwieweit kann Philologie – als Methode, als Disziplin, als Namensgeber für universitäre Fächer, als Oberbegriff – eine interdisziplinäre Schnittstelle im ausgehenden 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bilden? Handelt es sich historisch gesehen bei Überschneidungen in Grenzbereichen zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft und zwischen den Einzelphilologien schon um interdisziplinäre literatur- und sprachwissenschaftliche Schnittstellen? Oder um Schnittstellen zwischen Einzelphilologien bzw. noch um intradisziplinäre Schnittstellen der Philologie? Inwieweit war und ist Philologie damals wie heute für die Sprach- und Literaturwissenschaften sowie für die Einzelphilologien noch eine Schnittstelle im Sinne eines verbindenden und auch fächer- und disziplinenübergreifend identitätsstiftenden Elements?
Im ersten Vortrag der Sektion „Philologie im Blindflug — ein Zwischenruf!“ ging Wulf Oesterreicher (München) zunächst auf die wichtige Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Disziplinen und Fächern ein und wies dabei auf das Fehlen einer „wissenschaftstheoretischen Reflexion über die sprachtheoretisch dimensionierten gegenstandsbezogenen Grundlagen der Disziplin ‚Sprachwissenschaft‘, auf ihre metatheoretischen Optionen in Methodologie und Präsentationstheorie sowie auf die intradisziplinären sachbezogenen Gliederungen der Linguistik“ hin. Als einen nötigen Schritt zur Überwindung der aufgezeigten Missstände nannte Oesterreicher in der Folge für die Linguistik die „Herausarbeitung des paradigmatischen Kerns der Disziplin“, welche erst eine richtige Konzeptualisierung von intra- und interdisziplinären Optionen ermöglicht habe, und stellte einen auf Coserius Drei-Ebenen-Modell des Sprachlichen beruhenden Vorschlag zur Eingrenzung des „die Sprachwissenschaft konstituierende[n] umfassende[n] Formalobjekt[s]“ vor, welches als Verbindungsglied intradisziplinärer Partialisierungen besteht. Nach einer kurzen Darstellung der Bedeutung der ‚Linguistik‘ und der ‚Literaturwissenschaft‘ als ‚Zentralbereiche der Philologien‘ wies Oesterreicher abschließend auf die Wichtigkeit der klaren Gegenstandsbestimmung der Disziplin Sprachwissenschaft für erfolgreiche, den Kern der Linguistik im Blick behaltende, interdisziplinäre und fächerübergreifende Kooperationen – eine „reflexive Interdisziplinarität“ – hin.
In ihrer Präsentation „Die gemeinsamen Anfänge der ‚Modernen‘: Zur (Be-)Gründung der ‚neusprachlichen Philologien‘ im 19. Jahrhundert“ ging Ursula Schaefer (Dresden/Freiburg) auf die frühe Phase der Philologie moderner Fremdsprachen im 19. Jahrhundert ein. Die Beschäftigung etwa mit dem Französischen und dem Englischen fand zunächst unter dem gemeinsamen Dach der ‚Neuphilologie‘ oder ‚neueren Philologie‘ statt, die sich dadurch von der klassischen, altsprachlichen Philologie des Lateinischen oder Altgriechischen unterschied, dass sie sprachforscherische und handfeste bildungspolititische Motive miteinander verband. Mit der wachsenden Nachfrage nach Lehrkräften für den Fremdsprachenunterricht an den Schulen kam zumindest im deutschsprachigen Raum der ‚Neuphilologie‘ auch berufsbildende Funktion zu. Nichtsdestotrotz geschah dies gleichzeitig mit dem allgemeinen wissenschaftlichen Aufschwung in den philologischen Fächern im 19. Jahrhundert, der zur fachlichen und disziplinären Ausdifferenzierung, zur fortschreitenden Institutionalisierung und zur allgemeinen Professionalisierung der sprachbezogenen Wissenschaft führte. Im Spannungsfeld „zwischen den extern bildungspolitischen Motiven und der sich zuerst zögernd herausbildenden wissenschaftlichen Profilierung dieser Disziplinen“, so Schaefer, kam es schließlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Trennung von romanischer und englischer Philologie bzw. Romanistik und Anglistik, wie sie noch heute in der deutschen Universitätslandschaft zu finden ist.
Mit ihrem Beitrag „Zwischen Transzendenz und Positivismus: Friedrich Diez und die Anfänge der Romanischen Philologie als ‚moderne‘ Wissenschaft“ intendierte Johanna Wolf (Salzburg), einen Blick auf Friedrich Diez, den „Begründer der romanischen Philologie“ zu werfen, der möglichst frei von jeglicher Versuchung einer ex-post Interpretation und den Gefahren einer invertierten Teleologie ist. Sie setzte eine mehrdimensionale Analyse, welche die Ideen und Konzepte, die den Rahmen für die Entstehung der romanischen Philologie bildeten, berücksichtigt, als notwendige Anforderung an die historiographische Rekonstruktion an. Sie versuchte am Beispiel des Werks Diez’ die Entstehung und Entwicklung der romanischen Philologie in ihrer Anfangsphase als einen Spannungsprozess zwischen der kantischen Philosophie und der daraus entstehenden Hermeneutik einerseits und den sich in der Wissenschaft allmählich durchsetzenden positivistischen Gedanken andererseits darzustellen, die sich in der Alternanz unterschiedlicher sich kreuzender Diskurse, welche dominant wurden oder verschwanden, widerspiegelt. Die Vielfalt der Einflüsse, die sich darin zeigen, kann, so Wolf, als Erklärungsansatz für die unterschiedlichen gegenwärtigen Konzeptionen der romanischen Philologie gesehen werden.
Silvio Moreira de Sousa (Graz) und Philipp Krämer (Potsdam) beleuchteten in ihrem Beitrag „Le triangle de la créolistique du XIXe siècle: Rapports textuels et intellectuels entre les créolistes français, portugais et germano-autrichiens“ die zahlreichen Verbindungen, die sich zwischen den französischen und portugiesischen Kreolisten sowie dem Vorreiter der Kreolistik im deutschsprachigen Raum Hugo Schuchardt im 19. Jahrhundert etablierten. Hierbei wurde zunächst das Korrespondenznetzwerk in den Blick genommen, danach wurden aber auch andere textuell-diskursive Zusammenhänge illustriert und schließlich insbesondere anhand der ideologischen Ausrichtung der unterschiedlichen Autoren und der von ihnen vertretenen Thesen epistemologische Aspekte in den Blick genommen. Die gemeinsame und verknüpfte Betrachtung der verschiedenen „nationalen“ Traditionen der Kreolistik deckte mannigfache Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen einzelnen Akteuren und Gruppen von Akteuren auf.
Pierre Swiggers (Leuven/Louvain) bot mit seinem Vortrag „Plaque tournante et regards croisés: la linguistique européenne orchestrée depuis la Villa Malwine“ methodologische und terminologische Überlegungen für die Fachgeschichtsschreibung. Zunächst unterschied er zwischen den Ebenen der „realités linguistiques“ als „living floor“, der „pratiques et réflexions“, welche die Geschichte der Linguistik bilden einerseits, und der beschreibenden und interpretativen Historiographie der Disziplin andererseits, welche wiederum auf dokumentarischen Grundlagen („épihistoriographie“ in den Worten Swiggers), aber auch auf einem theoretischen Referenzrahmen („métahistoriographie“) basiert. Er plädierte für eine soziologische und anthropologische Ausrichtung der Fachhistoriographie, die sich von einer bloßen thetischen Perspektive befreit. Danach bot er konkrete Einblicke in die fachhistoriographische Arbeit: Nachdem er auf die Mehrdimensionalität der Korrespondenzen zwischen Wissenschaftlern und ihrer Funktionen hingewiesen hatte, illustrierte er am Beispiel von Hugo Schuchardt vor dem sprachwissenschaftlichen und politischen Hintergrund der Zeit – mit der Infragestellung des junggrammatischen Modells, der Öffnung gegenüber der Soziologie und mit dem ersten Herauskommen der Konzepte von „System“ und „Struktur“ einerseits, den politischen Spannungen und kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa zwischen 1848 und 1930 andererseits – einige wichtige Schnittstellen, insbesondere das komplexe Verhältnis Schuchardts zu Frankreich und seine Beziehung zu Meillet. Hier lenkte er den Blick insbesondere auf die Diskussion zwischen den beiden Linguisten über die Frage nach der Sprachverwandschaft, die sich nicht nur in der Korrespondenz manifestiert, sondern auch durch gegenseitige Rezeption und Bezugnahmen bezeugt wird.
Eine wenig bekannte Figur der Fachgeschichte beleuchtete Harald Völker (Zürich) in seinem Vortrag „Charles Bonnier, philologue et socialiste“. Nach der Vorstellung einzelner Quellen zum Leben Bonniers, durch die bereits dessen wissenschaftlichen und politischen Interessen aufgezeigt wurden, illustrierte Völker Bonniers verhindertes akademisches Fortkommen nach der Ablehnung seiner Dissertation durch Paul Meyer. Die von Bonnier angemerkte Divergenz zwischen gesprochenen patois und scriptae der „chartes médiévales“ wurde, wie Völker ausführte, erst sehr viel später wissenschaftlich anerkannt, sie stand damals nicht im Einklang mit der Auffassung Meyers. Im Anschluss an diese Darstellung von „Bonnier philologue et linguiste“ warf Völker Licht auf „Bonnier wagnérien“, dessen Rolle für die Wagner-Rezeption in Frankreich, und „Bonnier socialiste“, dessen politische Positionierung im Rahmen der sozialistischen Bewegung. Abschließend verknüpfte er die verschiedenen biographischen Fäden, um der Frage nachzugehen, ob diese durch ein gemeinsames Leitmotiv zusammen gehalten wurden.
In seinem Vortrag „Einblicke ins Privatarchiv Carlo Tagliavinis. Einige wissenschaftsgeschichtliche Ergebnisse“ präsentierte Elton Prifti (Mannheim) ausgewählte Aspekte seiner Arbeit mit Materialien aus dem Nachlass des italienischen Sprachwissenschaftlers Carlo Tagliavini. Nachdem er die reichen Bestände des Privatarchivs und einige bereits erfolgte bzw. beabsichtigte Analyse- und Publikationsprojekte kurz vorgestellt hatte, illustrierte Prifti anhand von unterschiedlichen Materialtypen (Notizbücher, Briefwechsel, Manuskripte) einige wichtige Gesichtspunkte des Werks von Tagliavini, dessen wissenschaftlichem und privatem Netzwerk sowie seiner Arbeitsweise. Durch die Analyse des Wirkens einer zentralen Figur der europäischen Sprachwissenschaft des 20. Jh. konnte Prifti beispielhaft Momente einer vor allem für die Rumänistik und Balkanologie wichtigen Entfaltungsphase rekonstruieren. Darüber hinaus präsentierte Prifti auch methodologisch-theoretische Überlegungen zur Arbeit mit Archiv- und Nachlassmaterialien für die Rekonstruktion interner und externer Faktoren, die die Entwicklung der Disziplin maßgeblich beeinflussten, wobei er den Fokus „auf die Interdisziplinarität“ legte, wie Prifti selbst betonte.
Bernhard Hurch (Graz) erläuterte in seinem Beitrag „Vascoromanica: Eine Reprise. Zur Rolle des Baskischen im 19. Jahrhundert und danach“, inwiefern einzelne Sprachforschende die fachlichen und disziplinären Grenzen der Romanistik immer wieder durch ihre eigenen Forschungsinteressen verschoben. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Baskischen im Verhältnis zu allgemeiner Linguistik und Romanistik ist hierbei exemplarisch. In einem weiten Bogen von Humboldt zu Schuchardt ging Hurch der Fachgeschichte der Baskologie im 19. Jahrhundert nach und zeigte dabei, wie zahlreich und individuell die verschiedenen Ansätze zur Untersuchung der baskischen Sprache vor allem im deutschsprachigen Raum waren. Die Veränderungen im wissenschaftlichen Kommunikationssystem, der Einfluss von Informationsvermittlung durch Postsystem und Zeitschriftengründungen bei einer gleichzeitig bleibenden ‚gefühlten Exotik‘ des Baskenlandes im übrigen Europa führten am Ende des Jahrhunderts in eine neue, wissenschaftlich fundierte Untersuchung des Baskischen. „Es war ein großes Verdienst Hugo Schuchardts, nicht immer als solches erkannt, das Baskische in die Romanistik geholt, oder zumindest die Romanistik ans Baskische herangeführt zu haben“, resümierte Hurch.
Die Beiträge der Sektion erfüllten in ihrer inhaltlichen Spannbreite ein bereits von Schwägerl-Melchior im Impulsreferat für die Sektionsarbeit skizziertes Anliegen, indem sie Schnittstellen der Philologie unterschiedlichster Natur aufdeckten: Personen, Methoden und Theorien, Gegenstände, Publikationsorgane und -formen, Institutionen sowie geographische, politische und sprachliche Einheiten und Grenzen. Diese fungierten als inter- bzw. intradisziplinäre Verbindungsglieder zwischen „der“ Philologie und anderen Wissenschaften bzw. zwischen „der“ Philologie und den sich daraus etablierenden Disziplinen Sprachwissenschaft, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, zwischen „der“ Philologie und den Einzelphilologien, zwischen verschiedenen Einzelphilologien, sowie zwischen diesen und anderen Wissenschaften.
Entfallen mussten leider die geplanten Präsentationen von Klaus Grübl (München) zum Thema „Gaston Paris, Hermann Suchier und das ‚Franzische‘: zur Konstruktion eines nationalphilologischen Mythos im deutsch-französischen Wissenschaftstransfer des 19. Jahrhunderts“, von Rainer Schlösser (Jena) zum Thema „Schnittstelle Mittelmeer“ sowie von Maria Selig (Regensburg) zum Thema „Grimm und Diez oder: Philosophische Spekulation, emphatischer Historismus und empirische Methode“.
Eine Open-Access-Sammelpublikation der Sektion wird derzeit geplant.
Verena Schwägerl-Melchior und Johannes Mücke sind im FWF-Projekt „Netzwerk des Wissens“ (Projektnummer P 24400-G15) beim Institut für Sprachwissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz unter der Leitung von Prof. Bernhard Hurch tätig, das sich der Aufarbeitung der Materialien aus dem Nachlass Hugo Schuchardts widmet (http://schuchardt.uni-graz.at). Auch Luca Melchior trug in den letzten Jahren als externer Mitarbeiter zahlreiche Editions- und Forschungsarbeiten zum Thema bei.
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