Diversität und Konvergenz an der Wurzel: Perspektiven der Romanistik in Zeiten der Globalisierung

Bernhard Teuber

Festrede beim Tag der Romania Diversités toujours am 2. Juli 2015 im Rahmen der 350-Jahr-Feier der Christian Albrechts-Universität zu Kiel

I. Wieder eine Studienreform

Vor einigen Monaten berichteten verschiedene Medien über ein umstrittenes Vorhaben des nordrhein-westfälischen Schulministeriums: Den Studenten der Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch für das Lehramt an Sekundarschulen bzw. Gymnasien soll der Nachweis des Großen Latinums erlassen werden. Das erinnerte mich an eine seinerzeit ebenfalls kontroverse Reform, in deren Genuss kurz nach meinem Dienstantritt 1995 in Kiel die Studenten der Christian-Albrechts-Universität kamen: Damals wurde der bis dahin flächendeckend geforderte Nachweis von Lateinkenntnissen für die geisteswissenschaftlichen Fächer abgeschafft und nurmehr dort verlangt, wo er auf Grund der Besonderheit des Faches notwendig sei. Dies führte dazu, dass an der Philosophischen Fakultät Latein nurmehr für wenige Fächer obligatorisch war: für viele Altertumswissenschaften natürlich, darunter vor allem die Klassische Philologie, und – wie konnte es damals anders sein? – für die Romanistik, da wir uns als eine philologische Disziplin verstanden, deren Gegenstand – die romanischen Sprachen, Literaturen und Kulturen – eben aus den lateinischen und römischen Vorstufen hervorgegangen und ohne Rückgriff auf diese nicht zu verstehen sei. Der nordrhein-westfälische Reformplan hingegen nimmt auf die Spezifizität der einzelnen Fächer keine Rücksicht mehr, sondern er ist wirklich flächendeckend, soll auch die Romanistik betreffen.

Erwartbarerweise hat das Vorhaben des nordrhein-westfälischen Ministeriums, das bislang noch nicht verbindlich geworden ist, auch zu Widerspruch geführt, vor allem auf den Leserbriefseiten der Zeitungen. Wie in diesen Fällen üblich wurde auf den Bildungswert des Lateinischen, auf dessen Bedeutung für historische Disziplinen, auf die Herkunft der romanischen Sprachen, auf die Etymologie so vieler deutscher und englischer Wörter sowie auf den Vorbildcharakter der Antike für die neueren Literaturen hingewiesen. Aber es gab natürlich ebenso Gegenstimmen, welche das Reformvorhaben begrüßten, unter ihnen der Leserbrief eines Gießener Emeritus der romanischen Literaturwissenschaft, der zwar nicht prinzipiell gegen das Lateinische war, aber seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass es heute bedeutend Wichtigeres gebe.

Die sinnlose Energie, die Generationen von Studierenden des Fachs Französisch in diese Paradedisziplin der Altphilologen [scil. ins Lateinische] investiert haben, wäre besser angelegt etwa in der Erarbeitung von Grundkenntnissen der französischen Kolonialgeschichte oder auch des Islam oder Ähnlichem – jedenfalls dann, wenn zukünftige Französischlehrer ihren Schülern Informationen über die Strukturen und Konflikte der heutigen multikulturellen Gesellschaft Frankreichs vermitteln wollen. Die sind allemal wichtiger als beispielsweise die Kenntnis der Lautverschiebungen vom Lateinischen zum Altfranzösischen, mit der ich stattdessen in meinem Studium traktiert worden bin.1

Lieber also eine Einführung in die Islamwissenschaft (fragt sich ob mit oder ohne Grundkenntnisse des Arabischen) statt eines weithin nutzlosen Latinums! Eine vielleicht radikale, aber keineswegs absurde Meinung in Zeiten der Globalisierung, wo die Sprachen und Kulturen der Welt in ihrer unleugbaren Diversität miteinander in Kontakt treten und der von Alexander Kluge schon vor Jahren gefürchtete „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ oder gar eine „breite Gegenwart“ (so der feuilletonistische Terminus des Vordenkers Hans Ulrich Gumbrecht) den Rückblick auf vergangene Epochen weniger relevant erscheinen lässt.

II. Diversitäten und Konvergenz

Etwa drei Wochen nach dem genannten Leserbrief erschien Michel Houellebecqs jüngster und viel beachteter Roman Soumission, und am selben Tag, dem 7. Januar 2015, fand auch das schreckliche Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo statt, nur zwei Tage später dann die blutige Geiselname in einem koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes. Hätte es also noch eines Beweises bedurft, an den Vorgängen in Paris war zu erkennen, wie sehr unsere modernen Gesellschaften und Lebenswelten in eine globalisierte Welt verstrickt sind, für welche der Terminus „multikulturell“ vielleicht ein Euphemismus ist, so dass wir zutreffender mit Samuel Huntington von einem ‚Zusammenprall der Kulturen‘ oder einem clash of diversities – noch eleganter gesagt: von einem choc des diversités – sprechen müssten. Für ein angemessenes Verständnis solcher Vorgänge ist der Rückgriff auf die Antike kaum hinreichend, Vertrautheit mit entfernteren Kulturen und Traditionen wäre unbedingt wünschenswert.

Insofern darf man also fragen, ob die Disziplin der Romanistik den heutigen Zeitumständen nicht hoffnungslos hinterher hinkt. Geht sie nicht von einer anachronistischen Einheitlichkeit, von einer Identität ihres Gegenstandsbereichs aus, für den die Abkunft vom Lateinischen geradezu exemplarisch ist? Das vielgescholtene Latinum wäre somit das Komplement oder Korollar, vielleicht sogar das Symptom einer leicht verstaubten Disziplin, die sich als Wissenschaft einer durch die geschichtlichen Epochen durchgehaltenen Identität der Romania versteht, gar als das Phantasma eines identitären Diskurses über Romanitas, dessen Trägerschichten möglicherweise dem in Frankreich sogenannten bloc identitaire angehören würden, wie er mittlerweile in vielen europäischen Gesellschaften anzutreffen ist. Dem gegenüber sollte es dann wohl eher gelten, die Romanistik als eine zeitgemäße, moderne Disziplin zu etablieren, die sich als eine Wissenschaft von den unhintergehbaren Diversitäten der Romania versteht und damit auch erklären kann, was Vielsprachigkeit, Multikulturalität und Interkulturalität sind und wie sie funktionieren.

Die Debatte um die Änderung der Studienanforderungen für Nordrhein-Westfalen zeigt damit auch, wie sehr sich die Romanistik selbst in den vergangenen Jahrzehnten als Disziplin weiter entwickelt und wie sehr sie ihr Profil verändert hat. Hierbei sind natürlich auch die institutionellen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die durch den Bologna-Prozess vorgegeben und durch die Modularisierung sämtlicher Studiengänge realisiert wurden. Aber darüber möchte ich heute gar nicht sprechen, sondern lieber über die Perspektiven, die sich unserem Fach bieten angesichts der Herausforderungen durch Diversität und Globalisierung einerseits, andererseits durch den ererbten Reichtum der Gegenstände und Traditionen, deren Studium diesem Fach anvertraut sind. Meine Frage, die ich auch als These formulieren möchte, zielt in folgende Richtung: Ist Diversität als ein ubiquitäres und permanentes Phänomen – diversité partout et toujours – zu verstehen und zu verhandeln ohne Rekurs auf ein oppositives Konzept, welches gleichsam das Gegenteil repräsentiert und der Rede von der Diversität erst ihren Sinn verleiht?

Man könnte hier an Ferdinand de Saussures klassisches Zeichenverständnis anknüpfen, der sowohl die Signifikanten als auch die Signifikate der Sprache nicht aus sich selbst heraus, sondern jeweils in Differenz oder Opposition zueinander definieren möchte. Man könnte auch an die Etymologie von diversitas denken: ein Substantiv, das vom Verbum divertere abstammt und klassisch meist devertere geschrieben wird; es kann zwar heißen: ‚sich unterscheiden‘, meint aber ursprünglich: ‚sich abwenden‘‚ ‚auseinander gehen‘, ‚vom Weg abweichen‘ – und darum bedeutet devertere / divertere auch ‚einkehren‘, nämlich in ein diversorium oder deversorium, also in eine ‚Herberge‘, in ein ‚Wirtshaus‘. Diversität ist demnach Abwendung, Verschiedenheit, Unterschiedenheit von etwas – etwa vom Weg, den man zu gehen hat und von dem man abweicht. Die gegenteilige Aktivität zu devertere besteht in convergere, im ‚Zueinanderstreben‘, im ‚Zusammentreffen‘, im ‚Sich-gemeinsam-auf-ein-Ziel-hin-Ausrichten‘. So schreibt Isidor von Sevilla in seinen Etymologien über die Figur des Kreises: „circulus […], cuius in medio punctus est, quo cuncta convergunt, quod centrum geometrae vocant, Latini punctum circuli nuncupant“2 – ‚der Kreis […], in dessen Mitte der Punkt ist, auf den hin alles miteinander zustrebt, was die Geometer das Zentrum, die Lateiner aber den Zirkelpunkt nennen‘.

Konzeptuell betrachtet bedarf die Diversität der Konvergenz, eines ihr entgegen gesetzten Zentrums, an dem sich alles ausrichtet und von dem sich die Diversität überhaupt erst abstoßen, von dem sie sich fortbewegen kann. Was aber wäre das Zentrum, aus welchem die Diversität der Romania entsprungen ist oder weiterhin entspringt? Historisch betrachtet sind das die zahlreichen Vorgängerstufen der heutigen romanischen Sprachen, Literaturen und Kulturen, die in der Tradition des Faches bis auf ihre lateinische beziehungsweise römische Wurzel zurückgeführt wurden; aber die Besonderheit der Romanistik liegt nun doch auch darin, dass ihre eigentlichen Gegenstände zwar die diversifizierten und dynamisierten Derivate des Lateinischen sind, nicht aber das ihnen voraufliegende, statische Zentrum der Latinität selbst. Mehr noch: Wenn wir die Gegenstände der Romanistik als dynamische Abweichungen von einem römisch-lateinischen Zentrum betrachten, dann heißt dies auch, dass die Ausrichtung hin auf ein Zentrum ein dynamischer Prozess ist, dass sie selber in Bewegung ist, so dass das Zentrum von jedem Fluchtpunkt aus neu konstruiert und neu austariert werden muss. Es geht folglich hier um eine retrospektive oder retroaktive Zentralität.

Ich möchte diese Konstellation mit einem Ausdruck des spanischen Dichters und Essayisten José Ángel Valente als convergencia por la raíz bezeichnen – als ‚Konvergenz an der Wurzel‘.3 Die Konvergenz an der Wurzel ist freilich eine Hinwendung im Verlauf, in der Bewegung, nicht etwas schon Vorgegebenes oder Vorausliegendes, sondern etwas, worin die rückblickende Perspektive einen Bezugs- und Haltepunkt findet, den sie immer wieder neu herstellen muss. Die Romanistik ist somit weniger eine polyzentrische, sondern eine geradezu zentrumslose, eine azentrische Disziplin, da sie notwendigerweise immer jene Bereiche und Gegenstände erfasst, die sich von ihrem Zentrum schon entfernt und abgewandt haben und die im Hinblick auf das verlassene Zentrum peripher sind; aus der zu Grunde liegenden Wurzel sind sie heraus gewachsen und haben sich immer weiter verzweigt. Gleichwohl wäre eine Verortung und Selbstdefinition des Faches ohne Rückblick auf das verlorene Zentrum, ohne Bewusstsein von einer möglichen Konvergenz an der Wurzel, ohne Erinnerung an die eindrucksvolle Geschichte der Dissemination wenig sinnvoll.

Ein großes Kapital der Romanistik besteht nun darin, dass sie die Diversität, die Vielzahl der Sprachen und Dialekte, der historischen Entwicklungsstufen, der linguistischen, der literarischen und der kultur- und medienwissenschaftlichen Betrachtungsweisen aushalten und beieinander halten kann. Ansonsten blieben nur eine Sezession der Fachgebiete und eine Zersplitterung in zahllose Einzeldisziplinen, die gerade den angestammten Reichtum der Romanischen Philologie aufs Spiel setzen müssten – ich meine ihre wie in einem rückwärts gerichteten Brennspiegel sammelnde, konvergierende Schau auf die disiecta corporis membra des eigenen Gegenstandes – und ein Schelm ist, wer dabei an Walter Benjamins Engel der Geschichte denkt, der auf das Vergangene zurückblickt, aber vom Wind immerzu vorwärts getrieben wird: Die Konstellationen, mit denen es die Romanistik zu tun hat, lassen sich demnach fassen als ein Benjamin’sches Denkbild.

Noch eine andere Überlegung kann an dieser Stelle weiterhelfen: Gerade die Medienwissenschaften operieren dort, wo sie systemtheoretisch ausgerichtet sind, gerne mit Niklas Luhmanns Dichotomie von Medium und Form, die ihrerseits auf die scholastische Unterscheidung von substantia et forma (ὕλη καὶ μορφή) zurückzugehen scheint, vielleicht aber von einer zeitlich (und in Kiel auch räumlich) näher liegenden wissenschaftlichen Schnittstelle weitervermittelt wurde, nämlich vom Cercle linguistique de Copenhague und seinem Gründer Louis Trolle Hjemslev. Auch Hjemslev unterscheidet Substanz und Form, und Luhmann bezeichnet eben Hjemslevs Substanz als ein Medium, von dem unterschiedliche Formen (wir könnten beinahe sagen: Gattungen) Gebrauch machen. Während die Kopplung der einzelnen Zeichen an die jeweils vorgegebene Form fest ist, sind das Medium und die Form nur lose aneinander gekoppelt. Das Medium stellt gleichsam die semiotische Substanz bereit, die dann zugerichtet und in klar strukturierte Formen eingepasst wird. Substanz und Form oder Medium und Form sind in den genannten Modellen selbstverständlich als synchron gegeben und verfügbar gedacht, aber wie wäre es, wenn man das Verhältnis von Medium und Form verzeitlichen, temporalisieren könnte? Dann ließe sich Antike, Latinität oder auch Romanität als eine ὑπόστασις, eine Substanz, linguistisch gesprochen: als ein Substrat betrachten, das lose mit einer Vielzahl diverser Formen gekoppelt ist, die sich im Laufe ihrer Entwicklung dieses Mediums, seiner phonischen, morphischen oder semischen Substanz bedienen, um diese dann von Fall zu Fall in eine strukturierte Prägung umzuwandeln: in eine romanische Volkssprache, in einen Dialekt, in ein Kreol. Romanistik wäre somit auf eine sehr eigenwillige Weise Medienwissenschaft, nämlich die Wissenschaft von einem Medium, von einer Substanz, von einem Substrat, das zwar nicht selbst, aber dessen Avatare legitime Gegenstände des Fachs sind.

III. Die fetten Jahre der Theorie

Wenn ich auf die zweite Hälfte der 1990er Jahre zurückblicke, die ich am Romanischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verbringen durfte, und nach dem damaligen Stand des Faches Romanistik frage, dann stand diese Zeit möglicherweise immer noch unter dem Eindruck der großen Versprechungen und der von ihnen ausgelösten großen Erwartungen, welche die Methodendiskussionen und das geschärfte Methodenbewusstsein seit den 1960er Jahren in den Geisteswissenschaften ausgelöst hatten. Gerade die ihrer Natur nach frankophile, oft sogar gallozentrische Romanistik hatte daran einen nicht geringen Anteil. Ihren Vertretern ist es wesentlich zu verdanken, dass der Strukturalismus auch im deutschsprachigen Raum bekannt und rezipiert wurde, war er doch – ungeachtet seiner Anfänge in Genf, in Sankt Petersburg, in Prag und schließlich in den Vereinigten Staaten (wo sich Roman Jakobson niedergelassen hatte) – zunächst vor allem als eine französische Denkrichtung wahrgenommen worden. Es entstand die Utopie, dass eine Methode (beinahe in Analogie zur Heisenberg’schen Weltformel) auf alle Bereiche des geisteswissenschaftlichen Verstehens anwendbar sei, und der Strukturalismus inspirierte ja in der Tat auf unübersehbare Weise Linguisten (Émile Benveniste), Literaturkritiker (Roland Barthes), Ethnologen (Claude Lévi-Strauss), Psychoanalytiker (Jacques Lacan), marxistische Sozialwissenschaftler (Louis Althusser), Historiker (Michel Foucault) oder sogar Philosophen (Jacques Derrida).

Seit Mitte der 1970er Jahre wurde dann das strukturalistische Paradigma von neuen Ansätzen abgelöst, die man faute de mieux dem sogenannten poststruktualistischen oder gar dem postmodernen Denken zurechnete. Gerade die besonders einflussreichen Pariser Scholarchen distanzierten sich allmählich implizit oder auch explizit vom Strukturalismus. Barthes griff in seinen Arbeiten auf außerliterarische Medien wie die Photographie aus und feierte eine anarchische, strukturalistisch nicht mehr kontrollierbare ‚Lust am Text‘, Foucault etablierte die historische Diskursanalyse, und Derrida erfand die Dekonstruktion. Die Beispiele zeigen allerdings auch, dass die Trennlinie zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus unscharf ist, dass die Übergänge fließend sind. Nichtsdestoweniger hat auch in dieser Zeit die Romanistik wichtige Vermittlerdienste geleistet, indem sie die genannten Theoretiker mit deutlich größerer Empathie und mit wohl tieferem Verständnis las als der Mainstream der deutschsprachigen Intellektuellen und indem sie diese Positionen auch in das Geistesleben einbrachte.

Man darf fragen, ob es sinnvoll ist, die Zeit-Takte der politischen Ereignisgeschichte für andere Bereiche zu übernehmen und das Revolutionsjahr 1989, welches das kurze 20. Jahrhundert beendete, als Epoché, als Einschnitt, auch für die ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen anzusetzen. Vielleicht waren es gar nicht die großen Ereignisse, sondern vielleicht war es die innere Logik des Poststrukturalismus selbst, die ihn von innen her aushöhlen musste. Jean-François Lyotard hat in der Condition postmoderne (1979) das naive Vertrauen in die großen ‚Rahmenerzählungen‘ der okzidentalen Kultur kritisiert; und so dauerte es nicht lange, bis die Verheißungen des Strukturalismus und auch des Poststrukturalismus, das Vertrauen in die Erklärungskraft der starken Theorien zu schwinden begann. Das Denken wurde (nach einem Wort des italienischen Philosophen Gianni Vattimo) ‚schwach‘ – pensiero debole –, weil die Wirklichkeit selbst durch Schwäche gezeichnet sei: indebolimento dell’essere also bei Vattimo; ‚Glaubens Schwachheit‘ – faiblesse de croire – bei Michel de Certeau. Mikroanalysen und Mikrogeschichten traten an die Stelle von Makroanalysen. Für marginal und exzeptionell gehaltene Kategorien wie diejenige des homo sacer im altrömischen Recht oder die Rede der kappadokischen Kirchenväter von einer innertrinitarischen Ökonomie wurden plötzlich von Giorgio Agamben entdeckt und fanden Anwendung als wichtige Interpretamente, die eine überraschende, aber doch fragmentarische Sicht auf ebenso wichtige wie beunruhigende Phänomene der Moderne gestatteten: auf den Ausnahmezustand, auf das Lager oder auf die Rationalität eines Regierungshandeln, das sich zunehmend als staatliche Biopolitik gestaltet.

Trotz der genannten Neu-Ansätze kommt es mir heutzutage eher vor, als wären im Wesentlichen die ‚fetten Jahre‘ der Theorie vorbei. Hierzu als Anekdoten drei Erlebnisse aus dem vergangenen Jahr: In einem Seminar, das ich mit einem Pariser Kollegen über „Don Quijote und die Philosophen“ hielt, durfte aus Gründen der wissenschaftsgeschichtlichen Redlichkeit ein Referat über Foucaults Don-Quijote-Lektüre in Les Mots et les Choses (1966) natürlich nicht fehlen. Die engagierten Referenten machten ihre Sache recht gut, und wir führten eine angeregte Diskussion über die zentralen Kategorien von Foucaults Denken, über sein historisches Apriori und dessen Analogisierbarkeit zu Kants Apriori der Apperzeption. Aber es war dies innerhalb des Seminarprogramms ein bloßer Exkurs, der wenig für die Interpretation von Cervantes’ Meisterwerk selbst hergab.

Ganz anders hingegen eine Sitzung über die Melancholie des Don Quijote: Dort bezogen sich die Referenten auf Harald Weinrichs Ingenium des Don Quijote (1956) und auf Saturn und Melancholie, das erst viel später erschienene Grundlagenwerk von Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl (englisch 1964, deutsch 1990); diese Beiträge ermöglichten nicht nur Wissen über ein historisches Krankheitsbild, sondern eben auch einen erhellenden Zugang zum Text und zum Charakter des Protagonisten, zum Caballero de la Triste Figura. Ähnlich verhielt es sich übrigens, als wir die in den Don Quijote eingefügte Novela del curioso impertinente behandelten, die Geschichte von Anselmo, der aus ‚aberwitziger Neugier‘ und weil er als unverbesserlicher Empiriker die Treue seiner Frau Camila im Experiment auf die Probe stellen will, am Ende die Ehe mit seiner Frau, das Leben seines Freundes Lotario und auch sich selbst zerstört.

Es bot sich förmlich an, dieses warnende exemplum contrarium im Licht der Studien des in Kiel gut bekannten Hans Blumenberg und insbesondere seines Prozesses der theoretischen Neugierde (1973) auszulegen. Denn Cervantes’ Novelle bestätigt ja nicht einfach die sehr weitreichende Hypothese Blumenbergs vom Triumph der theoretischen Neugierde seit der Kopernikanischen Wende. Vielmehr stellt Cervantes in der Schwellensituation, in der er schreibt, höchst skeptisch die bei Blumenberg skizzierte Entwicklung in Frage, so dass Blumenbergs Hypothese selbst die Züge eines fragwürdigen grand récit anzunehmen scheint. Alle drei Erinnerungen aus dem Don-Qujote-Seminar legen möglicherweise den Schluss nahe, dass das Ende der großen Theorien und der mit ihnen verknüpften Rahmenerzählungen der Sache der Literatur nicht unbedingt schaden muss, sondern dass gerade in Zeiten methodologischer Sedisvakanz die Sache des Literarischen und des Ästhetischen selbst befördert wird.

IV. Was in Zukunft zu tun bleibt

Es wird Zeit, zu den aktuellen Perspektiven zu kommen, die sich der Romanistik bieten. Es dürfte einsichtig geworden sein, dass ich gar nicht den Versuch unternehmen möchte, das Fach auf eine neue Methode, auf ein neues Paradigma, auf eine panacée (ein ‚Allheilmittel‘) einzuschwören. Auch sehe ich nicht, dass im Fach selber in absehbarer Zeit ein solches Paradigma konzipiert, propagiert oder gar exportiert werden könnte. Schon früher sind ja – wie das Beispiel des Strukturalismus und des Poststrukturalismus gezeigt hat – einflussreiche Entwicklungen oft von außen her an die Romanistik herangetragen und dann im Innenbereich des Fachs fortgeführt, weiterentwickelt und verfeinert worden. Ich denke aber, dass die Romanistik auf zahlreichen und überaus diversen Forschungsfeldern, die im Augenblick bestellt werden, eine interessierte und kreative Gesprächspartnerin sein kann; dass sie dort wichtige Erkenntnisse über die Natur ihrer eigenen Gegenstände gewinnen wird, aber dass sie sich auf der Grundlage ihrer fachspezifischen Wissensbestände und Erfahrungswerte nicht nur affirmativ, sondern ebenso kritisch zu den vorgeschlagenen Arbeitsweisen und Annahmen verhalten sollte. So will ich thesenhaft – das heißt in unstatthafter Kürze und erschreckender Oberflächlichkeit – einige Bereiche Revue passieren lassen, die in jüngerer Zeit von sich reden gemacht haben und übrigens nicht selten englische Labels tragen:

1. Digital Humanities

Die Digitalisierung großer Datenmengen und die damit verbundenen Möglichkeiten geben den Materialien, mit denen die Romanistik hantiert, eine teilweise völlig neue Physiognomie. Das sind natürlich einerseits Text-Corpora, die nun leichter zugänglich und relativ mühelos auf das Vorkommen bestimmter Elemente überprüft werden können. Was für die Sprachwissenschaft schon lange üblich ist (der Umgang mit Corpora), wird auch die Literaturwissenschaft beeinflussen. Eingesehen werden können nicht nur neue Werkausgaben, sondern auch alte Editionen und gegebenenfalls Handschriften. In vielen Fällen können somit Lay-out, mise en page oder Illustrationen zur unmittelbaren Interpretation herangezogen werden, während diese Charakteristika früher oft nicht beachtet wurden. Schwieriger ist es, auf digitalem Weg an die Semantik von Textcorpora heranzukommen: Da muss für die gesuchten beziehungsweise für die zu findenden Elemente ein Tagging erfolgen, welches doch sehr stark von der individuellen Einschätzung und subjektiven Entscheidung des Bearbeiters abhängt. Dass dann solche Tags über Algorithmen verarbeitet und miteinander korreliert werden, gibt dem Resultat einen Anschein von intersubjektiver Nachprüfbarkeit und Allgemeingültigkeit, welcher der Sache nach nicht gerechtfertigt ist.

Kürzlich hörte ich einen Vortrag über ein in Stanford betriebenes Forschungsprojekt: Unter der Ägide von Franco Moretti hatte man mit viel Aufwand und bei großzügiger Budgetierung für eine ansehnliche Anzahl von englischen Romanen des 19. Jahrhunderts die Lexeme happiness und Synonyme taggen und über einen Algorithmus in Korrelation zu den im Kontext erwähnten Stadtteilen von London setzen lassen. Es kam heraus, dass im englischen Roman des 19. Jahrhunderts die Einwohner Londons im wohlhabenden Westend am glücklichsten sind. Sie können sich denken, dass in der Büchersendung „Druckfrisch“ von Denis Scheck ein Forschungsbericht dieses dürftigen Inhalts in der Mülltonne landen würde. Sprich: In den Digital Humanities gibt es noch viel Luft nach oben, und die Romanistik kann da Vieles besser machen.

2. Spatial Turn

Der sogenannte Spatial Turn verspricht, die Situierung der Kommunikation im Raum ernst zu nehmen; ja, er geht davon aus, dass Raum in der Kommunikation nicht nur inszeniert, sondern in vielerlei Hinsicht überhaupt erst konstituiert wird und dass Raumzugehörigkeit immer wieder von Neuem performiert werden muss; darum wird auch eine besondere Affinität der raumorientierten Kulturwissenschaften zu den Geowissenschaften behauptet. Diese Thesen sind durchaus bedenkenswert. Haben nicht die Kieler Geistes- und Kulturwissenschaften, als sie sich 1999 zum Graduiertenkolleg „Imaginatio borealis – Perzeption, Rezeption und Konstruktion des Nordens“ zusammenschlossen, am Zustandekommen des Spatial Turn aktiv mitgewirkt? Dennoch wird man feststellen dürfen, dass für die Romanistik nicht alles am Spatial Turn völlig neu ist: Als ich nach Kiel kam, wurde ich erstmals aus der Nähe Zeuge, wie man sich mit Fragen der Sprachgeographie und der linguistischen Feldforschung befassen kann, die dann ihren Niederschlag in der von Harald Thun herausgegebenen Reihe Dialectologia Romanica pluridimensionalis des Westensee-Verlags fanden.

Eine besonders wirkungsmächtige und zugleich anschauliche Version der ‚Spatialisierung‘, der Verräumlichung von Literatur stellt das an sich konventionelle Narrativ über die Entstehung der romanischen Liebesdichtung im Mittelalter dar. Die frühesten Texte aus dem 10. und vor allem 11. Jahrhundert sind die ḥarağāt oder jarchas, die romanischsprachigen Schlussverse klassisch-arabischer oder biblisch-hebräischer Liebesgedichte mit männlichem Sprecher, an deren Ende eine weibliche Stimme das Wort eben in der romanischen Volkssprache ergreift.4 Vielleicht nicht völlig unabhängig von den jarchas, die man im maurisch beherrschten Al-Ándalus pflegt, entsteht seit dem späten 11. und dem 12. Jahrhundert im benachbarten Südfrankreich die altoccitanische Liebesdichtung der Troubadours, wo sich der Sänger der angebeteten Dame wie ein Vasall seinem Lehnsherrn unterwirft. Diese Dichtung wandert im Lauf des 12. Jahrhunderts weiter nach Norden, wird von den Trouvères übernommen und ins Altfranzösische übertragen: Amour im Femininum als personifizierte Liebesmacht oder Amour im Maskulinum als Liebesgott spielen nunmehr eine wichtige Rolle. Mit dem Zug der Normannen gelangt solche Dichtung nach Sizilien, das ihnen vom Papst als Lehen übereignet wurde, und in Sizilien bildet sich die erste italienische Form der Liebesdichtung heraus, die dann hinüber aufs Festland und nach Norden hin ausgreift: Der Liebesgott bleibt präsent, aber im Mittelpunkt steht jetzt eine engelgleiche Dame, die der Dichter gleich einem göttlichen Wesen hingebungsvoll verehrt: geboren ist der Dolce Stil Novo, an dessen Topoi sich noch Dante und Petrarca abarbeiten werden.

Doch neben der Linie, die aus Occitanien und insbesondere aus der Provence nach Norden und dann wieder nach Sizilien und Italien führt, gibt es eine andere Linie, die von Südfrankreich über die aragonesischen Pyrenäen oder entlang der katalanischen Küste auf die Iberische Halbinsel zielt. Die Dichtung der Troubadours gelangt somit – nicht ohne Hilfe der vielen Pilger, die auf dem Jakobsweg nach Compostela wallen – bis nach Galicien und Portugal, wird wieder adaptiert und um das Motiv einer tief sitzenden Melancholie bereichert – der unerfüllten, weil unerfüllbaren Liebessehnsucht, die sich noch heute in den lusophonen Kulturen galicisch als moriña und portugiesisch als saudade artikuliert; und in die galicisch-portugiesische Liebesdichtung, die man ab dem 13. Jahrhundert verschriftlicht, werden auch volkstümliche ‚Frauenlieder‘ aufgenommen, die oft in frappierender Weise an die thematischen Motive der jarchas erinnern. So schließt sich mit den portugiesisch-galicischen Cantigas de amigo nach Ablauf von vielleicht zwei Jahrhunderten der Kreis, der in den Jahren um 1000 herum in Al-Ándalus seinen Ausgang genommen hatte, nur dass der Weg nicht direkt von Spaniens Süden in den äußerten Nordwesten geführt hat, sondern dass ein Umweg genommen wurde, auf dem Südfrankreich, Nordfrankreich, die Normandie, Sizilien, Italien, Aragonien mit Galicien und Portugal in Verbindung traten. Poetische Diversität erweist sich als Produkt der sich verzweigenden und sich überkreuzenden Kommunikationswege, welche sich die Landschaften der Romania durchfurchen und so einen literarischen Raum konstituieren. Über den genauen Verlauf und über die Zusammengehörigkeit dieser Wegstrecken wissen wir aber noch immer zu wenig. Romanistische Raumstudien sollten getrost an dieser Stelle weiterforschen.

3. Postcolonial Studies

Insbesondere im angelsächsischen Bereich haben sich in den vergangenen Jahrzehnten die sogenannten Postcolonial Studies entwickelt, in denen die Verflechtung von Sprache, Literatur und Kultur unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses erforscht wird, das zwischen unterdrückten, kolonisierten oder unabhängig gewordenen Gemeinschaften und den jeweiligen Hegemonialmächten oder Imperien besteht. Dank der Reichweite des Englischen und der Tatsache, dass Indien, Pakistan, Bangladesch sowie große Teile Afrikas zum Britischen Weltreich gehörten, ist dieser Aspekt in der globalisierten Welt überaus bedeutsam. Die Romanistik darf in dieser Debatte mit einem ganz eigenen Talent wuchern: Schon vor dem britischen gab es bekanntlich das spanische und das portugiesische Weltreich, das auf eine wesentlich längere Geschichte der Kolonisierung und auf eine wesentlich längere Geschichte der Entkolonialisierung und Unabhängigkeit zurückblicken darf.

Die hispano-amerikanischen und die luso-amerikanischen Literaturen entstehen schon kurz nach Entdeckung und Eroberung, also im 16. Jahrhundert. Sie behandeln und verhandeln sowohl die kolonialzeitlichen Zustände in den fünf amerikanischen Vizekönigreichen Neuspanien, Peru, Neugranada, Rio de la Plata und Brasilien als auch die Epoche der Befreiung und Nationenbildung seit dem frühen 19. Jahrhundert. Die berühmte Frage, die 1988 von der indisch-bengalischen Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak in einem Essay gestellt wurde: „Can the Subaltern Speak?“ erscheint angesichts des Umfangs und der ästhetischen Qualität des lateinamerikanischen Schrifttums ausgesprochen naiv. Denn seit der Kolonialzeit artikuliert die hispanoamerikanische und brasilianische Literatur, wenn man sie denn genau genug liest, die Stimme der Unterdrückten und Ausgegrenzten überaus deutlich, und sie lehrt, dass die sogenannten Subalternen nicht nur sprechen, sondern auch ausgezeichnet schreiben können.

4. Gender Studies

Die Gender Studies gehen davon aus, dass es neben dem anatomisch-biologischen Geschlecht der Menschen (englisch sex) auch eine sozial und kulturell überformte, ja überhaupt erst konstruierte Geschlechterrolle (englisch gender) gebe, die in je unterschiedlichen Situationen aufgeführt, performiert werde und die von Fall zu Fall zur biologisch-anatomischen Disposition quer stehe. Während zwischen den anatomischen Geschlechtern Differenz zu bestehen scheint, entfaltet sich die Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Geschlechterrollen im Bereich der Diversitäten. Somit verleihen Sprache, Literatur und Kultur Genderkonstruktionen nicht nur Ausdruck, sondern sie bringen diese in gewisser Hinsicht überhaupt erst hervor. Die aktuellen angelsächsischen Gender Studies verstehen sich häufig als Queer Studies und untersuchen signifikante Abweichungen von einer vorherrschenden Norm, die auf der heterosexuellen Differenz basiere und zu Unrecht als naturgegeben betrachtet werde. Es entsteht somit eine leidenschaftlich geführte Kontroverse darüber, was φύσει beziehungsweise natura und was θέσει beziehungsweise placito Geltung besitzt, was von Natur aus gegeben und was durch gesellschaftliche, kulturelle, vertragsmäßige Setzung vereinbart ist. Eine radikale These der nordamerikanischen Philosophin Judith Butler geht sogar davon aus, dass die gleichgeschlechtliche Ununterschiedenheit der heterosexuellen Differenzierung vorausgehe, somit homosexuelle Diversität quasi natürlicher sei als heterosexuelle Differenz.

Die romanistische Literaturwissenschaft hat es in ihrem Corpus mit einer Reihe großer Autoren und Regisseure zu tun, die als homosexuell orientiert angesehen werden – Michelangelo, Proust, Gide, Lorca, Pasolini, Almodóvar. Sie alle können Anlass zu weiteren Untersuchungen im Sinn der Queer Studies geben. Wichtiger aber scheint mir ein anderer Gesichtspunkt: Gerade die Romanistik hat seit ihren Anfängen das angeblich naturgegebene Modell der heterosexuellen Liebe zwischen Mann und Frau als eine soziokulturelle und literarische Konstruktion kenntlich gemacht, die sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert. Man denke an die Emergenz der höfischen Liebe bei den Troubadours im Mittelalter (und wie sehr sie sich von antiken und arabischen Vorgaben unterscheidet), man denke an die petrarchistische Schmerzliebe, an die hedonistisch befriedigte Begierde der Libertins, an den romantischen Wunsch nach Verschmelzung des Liebespaares und an das Scheitern des romantischen Paradigmas in so vielen Werken der Moderne. Ohne literarische Imagination und Inszenierung wären diese Bilder heterosexueller Konstellationen niemals möglich gewesen.

Gibt demnach die Romanistik der radikalen Gender-Theorie recht, dass alles immer nur soziokulturelle Konstruktion ist. Ja … und nein! Ja, selbstverständlich sind Geschlechterrollen und Rollen in der Liebe von Gesellschaft und Kultur mit konstruiert. Aber auch nein, Konstruktion durch die Kultur bedeutet nämlich gerade nicht, dass hier Konstruktion gegen Natur stünde, sondern vielmehr dass die Praxis der Konstruktion und des Konstruierens selbst schon zu einem Teil der Natur, zumindest der menschlichen Natur geworden ist. Hier lohnt es sich, wenn auch die Geisteswissenschaften von anderen Disziplinen hinzu lernen – sowohl von der Evolutionsbiologie als auch von der philosophischen Anthropologie. Die Evolutionsbiologie lehrt, dass jede Spezies im Laufe ihrer Entwicklung Anpassungsleistungen vollbringt, die ihr das Überleben und die Fortentwicklung im eigenen Habitat ermöglichen und die in ihren genetischen Bauplan, in ihre Natur eingehen. Die philosophische Anthropologie betrachtet den Menschen als ein Mängelwesen, das der Werkzeuge, der Zurichtungen und der Einrichtungen bedarf.

Aus evolutionsbiologischer Sicht wäre die größte Anpassungsleistung des Homo sapiens die Entdeckung, Erfindung und Hervorbringung einer Kultur, die fortan zu seiner Wesensnatur gehört. Aus anthropologischer Sicht wäre die Institution der Kultur das Dispositiv, welches dem angeborenen Mangel des Menschen abhilft und sein Leben in Welt und Gemeinschaft sichert. Das Angewiesensein auf die Kultur erfasst alle Bereiche der Spezies Mensch, sogar die Konstruktion des Leibes, des Geschlechts, der eigenen Natur. Die Eigentümlichkeit des Menschen besteht darin, dass grundlegende Gegebenheiten seiner Existenz wie die Diversität der zu spielenden Geschlechterrollen, die Differenz der anatomischen Geschlechter, ja sogar die Fortpflanzung der Art nie nacktes Leben, nie reine Natur allein sind, aber genauso wenig bloße Konstruktion, sondern dass sie im Überschneidungsbereich zwischen Natur und Kultur ausgehandelt werden müssen. Wie das gehen kann, zeigen uns auch die unzähligen Liebesgeschichten und Liebesgedichte der romanischen Literatur.

5. Ethical Turn

An fünfter und letzter Stelle sei schließlich auf den sogenannten Ethical Turn hingewiesen, der Literatur als Auseinandersetzung mit moralischen und ethischen Fragen versteht, ja darüber hinaus als Appell an den Leser, sich ethisch zu verhalten. Gerade französische Theoretiker haben zu dieser – im Grunde genommen wiederentdeckten – Vorstellung wichtige Beiträge geleistet. Foucault spricht in Le Souci de soi (1984) von einer Kultur der ‚Sorge um sich‘, in der sich das Selbst zu einem freien Subjekt formiert und heranbildet – gerade auch mit Hilfe des literarischen Schreibens und Lesens; und Emmanuel Levinas begründet in Totalité et infini (1961) die Ethik grundsätzlich im verpflichtenden Verhältnis des Selbst zum Antlitz des Andern, dessen Anruf es gerecht werden soll, für den es Verantwortung zu übernehmen hat. Viele Texte der modernen Lyrik von René Char bis hin zu José Lezama Lima und Octavio Paz lassen sich als Inszenierung eines solchen Gesprächs auslegen – als in den Raum der Schrift geworfene Frage nach dem Ethischen oder aber als tastende Antwort auf einen geheimnisvollen Ruf, den vielleicht niemand Anderer gehört hat, aber von dem der Dichter dennoch meint, dass ausgerechnet er ihn vernommen habe und dass gerade er diesem Ruf eine Antwort schulde.

V. Averroes auf der Suche

Kehren wir zum Abschluss dieses Vortrags noch einmal zurück zu unserem aktualitätspolitischen Ausgangspunkt, das heißt: zu den Pariser Attentaten vom vergangenen Januar und zu einem eng damit verbundenen Thema, welches die Vorfälle auf so bedrückende Weise aufs Tapet gebracht haben, nämlich zu der Frage, was Satire darf oder was sie möglicherweise nicht darf. Eine breite Fraktion der veröffentlichten Meinung hat rasch die sympathische Formulierung geprägt: „Je suis Charlie“ und dazu das passende Logo gefunden. Doch genau dieser Formulierung haben sich viele islamische Bewohner der französischen Banlieues nicht ohne Weiteres anschießen wollen. Gibt es dafür eine Erklärung, die ein Romanist beisteuern könnte? Mir fiel bei den zahlreichen Diskussionen und Talkshows, die zu diesem Thema veranstaltet wurden, eine der phantastischen Erzählungen von Jorge Luis Borges aus seiner 1949 veröffentlichten Sammlung El Áleph ein, nämlich „La busca de Averroes“ (‚Die Suche des Averroes‘ oder ‚Die Suche nach Averroes‘). Es geht darin um den Cordobeser Philosophen Averroes, der auch ein hervorragender Kenner des Aristoteles war.

Pocas cosas más bellas y más patéticas registarará la historia que esa consagración de un médico árabe a los pensamientos de un hombre de quien lo separaban catorce siglos; a las dificultades intrínsecas debemos añadir que Averroes, ignorante del siríaco y del griego, trabajaba sobre la traducción de una traducción. La víspera, dos palabras dudosas lo habían detenido en el principio de la Poética. Esas palabras eran tragedia y comedia. Las había encontrado años atrás, en el libro tercero de la Retórica; nadie, en el ámbito del Islam barruntaba lo que querían decir. Vanamente había fatigado las páginas de Alejandro de Afrodisia, vanamente había compulsado las versiones del nestorinao Hunáin ibn-Ishaq y de Abur-Bashar Mata. Esas dos palabras arcanas pululaban en el texto de la Poética; imposible eludirlas.5

Wenige Ereignisse wird die Geschichte festhalten können, die schöner und ergreifender sind als die Innigkeit, mit der sich ein arabischer Arzt den Gedanken eines Mannes weihte, von dem ihn vierzehn Jahrhunderte trennten. Abgesehen von den inneren Schwierigkeiten (dieser Aufgabe) müssen wir außerdem berücksichtigen, dass Averroes, der des Syrischen und des Griechischen nicht mächtig war, auf Grundlage der Übersetzung einer Übersetzung arbeiten musste. Am Vorabend hatten ihn zwei ungewisse Wörter am Anfang der Poetik aufgehalten. Diese Wörter hießen Tragödie und Komödie. Er hatte sie Jahre früher im dritten Buch der Rhetorik gefunden; niemand im Umfeld des Islam konnte auch nur mutmaßen, was sie bedeuten sollten. Umsonst hatte er die Seiten des Alexander von Aphrodisias durchforstet, umsonst hatte er die Übertragungen des Nestorianers Hunain Ibn-Ischak und des Abur-Baschar Mata überprüft. Von diesen zwei geheimnisvollen Wörtern wimmelte es im Text der Poetik; es war unmöglich, sie auszulassen.6

Die Erzählerstimme berichtet, dass Averroes, während er an einem Kommentar arbeitet, die Poetik des Aristoteles zur Hand nimmt und den Sinn der fortwährend wiederkehrenden Wörter „Tragödie und Komödie“ nicht versteht. Am Abend trifft er dann den weit gereisten Abulcásim Al-Asharí in einer Gesellschaft von Gelehrten, wo man verschiedene Gespräche führt. Abulcásim ist auf seinen Reisen bis nach China gekommen und hat dort die Stadt Kanton, persisch Sin-Kalan, besucht, wo er von islamischen Kaufleuten in ein für ihn schwer beschreibbares, aus nur einem Saal bestehendes Haus geführt wurde, auf dessen Terrasse Musikanten Instrumente spielten und viele Personen eine Geschichte darstellten. Es muss sich dabei wohl um eine Art von Pekingoper gehandelt haben, allerdings ohne dass dies explizit gesagt würde. Denn die Anekdote gibt den Gästen nur dazu Anlass, die Vortrefflichkeit des auktorialen Erzählens zu betonen und im Gegensatz dazu die völlige Nutzlosigkeit des Erzählens einer Geschichte durch mehrere Personen zu behaupten. Dass die sogenannte Erzählung durch angeblich zu viele Stimmen in Wirklichkeit das Schauspiel zahlreicher Akteure gewesen ist, wird weder dem Erzähler noch Averroes noch den weiteren Gesprächsteilnehmern klar. Somit beschreibt die Szene ein Rendez-vous manqué der Kulturen: Von der beflügelnden Stimmung des geselligen Abends angeregt findet Averroes am nächsten Morgen eine ihm passend erscheinende Erklärung für die unbekannten Ausdrücke und schreibt:

Con firme y cuidadosa caligafía agregó [scil. Averoes] estas líneas al manuscrito: Aristú (Aristóteles) denomina tragedia a los panegíricos y comedias a la sátiras y anatemas. Admirables tragedias y comedias abundan en las páginas del Corán y en la mohalaca del santuario.7

In sicherer und sorgfältiger Schönschrift fügte er [scil. Averroes] diese Zeilen seiner Handschrift hinzu: Aristu [Aristoteles] nennt Tragödie die Preislieder und Komödien die Spottgedichte und Verfluchungen. Bewundernswerte Tragödien und Komödien finden sich in Hülle und Fülle im Koran und in den sieben Gedichten aus früher Zeit [Mu’allaqat], die im Heiligtum der Kaaba angebracht sind.

Averroes definiert demnach Tragödie und Komödie nach der Stilhöhe: Der tragische, hohe Stil entspreche den Preisliedern auf Fürsten und Herrscher, der komische, niedere Stil finde sich hingegen in den Satiren und Verfluchungen, gemeint sind damit wohl Schmähgedichte. Wenn der tragische und der komische Stil in den heiligen Schriften des Koran und in den ebenfalls als sakrosankt geltenden Mu’allaqat, der Sammlung der sieben schönsten Gedichte aus vorislamischer Zeit, begegnen, dann heißt dies, dass sowohl die Tragödie als auch die Komödie die Lehre der heiligen Schriften bestätigen und zu verbreiten suchen. Gepriesen werden folglich orthodoxe Autoritäten und geschmäht werden – wie in vielen Satiren konservativer Tendenz – die Abweichler, die heterodoxen Außenseiter, die Wortführer einer unbotmäßigen und unzulässigen Diversität.

Der Kontrast zu dem, was man in der abendländischen Literatur unter Tragödie und Komödie verstanden hat, könnte größer nicht sein: Kehrt nicht die Tragödie erst nach dem sogenannten christlichen Mittelalter im Gefolge einer Säkularisierung und Paganisierung des literarischen Systems wieder, während das Mittelalter und auch noch das spanische Barocktheater die Tragödie ablehnen musste, weil die christliche Heilsgeschichte gar nicht anders als glücklich enden konnte, demnach untragisch war? Und ist nicht die Komödie seit der Antike immer wieder latent gesellschafts- oder gar herrschaftskritisch gewesen, Beweis genug die querelles mit denen sich Molière im Laufe seiner Theaterkarriere herumschlagen musste, weil seine École des femmes, sein Dom Juan und vor allem sein Tartuffe als unschicklich oder gar als blasphemisch eingeschätzt wurden? Macht man nicht, wenn man Elemente der Komödie im Koran und an den Preisgedichten der Kaaba erkennen will, gewissermaßen den Bock zum Gärtner? Es offenbart sich hier eine Eigenart der westlichen Tradition, die möglicherweise in den islamischen Kulturen keinen rechten Platz oder keine Entsprechung hat. Die Erzählerstimme fährt darum fort:

Recordé a Averroes, que encerrado en el ámbito del Islam, nunca pudo saber el significado de las voces tragedia y comedia. […] Sentí que Averroes, queriendo imaginar lo que es un drama sin haber sospechado lo que es un teatro, no era más absurdo que yo, queriendo imaginar a Averroes, sin otro material que unos adarmes de Renan, de Lane y de Asín Palacios.8

Ich erinnerte mich an Averroes, der in die Umwelt des Islam eingepfercht war und nie die Bedeutung der Ausdrücke Tragödie und Komödie hatte in Erfahrung bringen können. […] Ich merkte, dass der Versuch des Averroes, sich ein Drama vorzustellen, ohne auch nur die leiseste Ahnung von dem zu haben, was ein Theater ist, nicht widersinniger war als mein Versuch, mir Averroes vorzustellen, ohne über andere Materialien zu verfügen als über ein paar Brocken, die ich bei Renan, Lane und Asín Palacios aufgelesen hatte.

Alle Quellen für den Erzähler, den wir Borges nennen dürfen, stammen aus zweiter oder dritter Hand: Es sind ein paar Brocken aus den Werken des französischen Orientalisten Ernest Renan, der auch das Motto der Erzählung liefert; von Edward William Lane, dem sittenstrengen Übersetzer einer purgierten Version von Tausend und einer Nacht ins Englische, sowie vom spanischen Islamkundler Miguel Asín Palacios, der die enge Verwandtschaft von christlichem Neuplatonismus und islamischem Sufismus hervorgehoben hat. Doch aus diesen Informationen konstruiert Borges – vielleicht phantasmatisch – einen diametralen Gegensatz zwischen der okzidentalen und der orientalischen Auffassung von Komödie und Satire. Wo die westlichen Gattungen kritisch, subversiv, ja blasphemisch sind, da sei die orientalische Satire zutiefst rechtgläubig und systemstabilisierend.

Am Missverständnis der Gattungscharakteristika von Tragödie und Komödie und am choc des genres littéraires lässt sich ein ganzer clash of civilisations ablesen. Mithin dürfte dank Borges’ Erzählung das Folgende klar geworden sein: Wenn Borges in diesem Text unvereinbare Standpunkte in Szene setzt und zur Sprache bringt, dann heißt dies, dass selbst innerhalb der – romanischen! – Literaturen kein Konsens darüber besteht, ob satirischer Spott auf den Palast der Machthaber oder gar aufs Heiligtum erlaubt ist oder nicht, ob Satire blasphemisch sein darf oder ob sie nicht umgekehrt über den respektlosen Spötter das Anathema des Ungläubigen beziehungsweise des Ketzers verhängen sollte; das universal Gültige gibt es in der Synkrisis dieser phantastischen Erzählung, in der Zusammenführung zweier konträrer Mentalitäten nicht. Auch die Romanische Philologie muss als Wissenschaft nicht von den Universalien, sondern von den Diversitäten Dissens und Differenz bestehen lassen: „Tout le monde n’est pas Charlie“. Die Romanistik kann und soll beschreiben, dass dies so ist und, wenn sie weit kommt, kann sie vielleicht sogar manchmal erklären, warum dies so ist. Das ist, meine ich, Herausforderung genug. Ob sie von ihren Absolventen einen Einführungskurs in die Islamwissenschaft, ein großes Arabicum oder doch nur das kleine oder allerkleinste Latinum abfordern möchte – oder ersatzweise ein Praktikum im Quipu-Knüpfen – ist angesichts der tatsächlichen Herausforderungen von eher nachrangiger Bedeutung, zu Zeiten eines verbindlichen Latinums hätte man sagen können: cura posterior.


  1. Hartmut Stenzel, „Eine Energieverschwendung“, Süddeutsche Zeitung, 15. Dezember 2014.

  2. Isidor von Sevilla, Etymologiae 3,12,1 [ca. 623], hrsg. von Wallace Lindsay (Oxonii: Clarendon, 1911).

  3. José Ángel Valente, Variaciones sobre el pájaro y la red (Barcelona: Tusquets, 1991), 170.

  4. Grundlegend zu den Jarchas ist die Arbeit des unvergessenen Kieler Sprachwissenschaftlers Klaus Heger, Die bisher veröffentlichten Ḫarğas und ihre Deutungen, Beihefte der Zeitschrift für romanische Philologie (Tübingen: Max Niemeyer, 1960).

  5. Borges, „La busca de Averroes“, in El Áleph, Obras completas, hrsg. von María Kodama (Buenos Aires : Emecé Ed., 1979), Bd. I, 582–3.

  6. Eigene Übersetzung, B.T.

  7. Borges, „La busca de Averroes“, I, 588.

  8. Borges, „La busca de Averroes“, I, 588–9.





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