Zum spanischen Kolonialismus in (Nord-)Afrika
Stephanie Fleischmanns Monographie über das Desaster von Annual als „textuelles Ereignis“
Christian von Tschilschke
Stephanie Fleischmann, Literatur des Desasters von Annual: das Um-Schreiben der kolonialen Erzählung im spanisch-marokkanischen Rifkrieg. Texte zwischen 1921 und 1932 (Bielefeld: transcript, 2013).
Im Gegensatz zur „Literatur der 98er-Generation“ oder der „Literatur des Spanischen Bürgerkriegs“ hat die „Literatur des Desasters von Annual“ in die spanische Literaturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bisher noch nicht als Ordnungskategorie Einzug gehalten, obwohl das ihr zugrundeliegende historische Ereignis ebenfalls tiefgreifende gesellschaftliche und politische Folgen hatte und eine wahre Flut an Texten hervorbrachte. Das mag, wie Stephanie Fleischmann in ihrer gleichnamigen, im Jahr 2011 von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommenen Studie, erläutert, zwei Gründe haben.
Ein Grund dafür liegt zweifellos darin, dass die katastrophale Niederlage der spanischen Armee gegen die aufständischen Rifkabylen unter ihrem Führer Abd-el-Krim, bei der die Spanier im Juli 1921 bei Annual im Nordosten des seit 1912 bestehenden Protektorats Spanisch-Marokko innerhalb weniger Tage mehr als zehntausend Soldaten verloren, ebenso wie der spanisch-marokkanische Rifkrieg (1921–1926) insgesamt, lange Zeit im Schatten des wesentlich größeren Interesses für den nachfolgenden Bürgerkrieg und die Zeit der Franco-Diktatur standen und erst spät, um die Jahrtausendwende, und dann jedoch mehr oder weniger gleichzeitig in den Fokus der Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie einer breiteren Öffentlichkeit traten.1 Dieses wenn auch verspätete Interesse erscheint indessen umso mehr angebracht, als der spanische Kolonialkrieg in der Folgezeit nicht nur in der spanischen Gesellschaft und Literatur stets im Hintergrund präsent blieb, sondern auch entscheidend zum Ausbruch und Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs beitrug und damit die spanische Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert entscheidend beeinflusste. So „verspielte die Republik wohl eine wichtige Chance, den Bürgerkrieg zu gewinnen“ (337), wie Fleischmann ganz am Ende ihrer Studie hervorhebt, als sie im September 1936 darauf verzichtete, auf das Angebot der marokkanischen Unabhängigkeitsbewegung einzugehen, sich gegen die nationalistischen Putschisten zu erheben und dafür im Gegenzug die Unabhängigkeit des Rifgebiets zugesichert zu bekommen.
Der zweite Grund, warum das Desaster von Annual als „textuelles Ereignis“ (9) bislang nicht zu einem festen literarhistorischen Datum wurde, ist darin zu sehen, dass die darüber produzierten Texte in der großen Mehrzahl aufgrund ihres formal traditionellen, trivialen, dokumentarischen und oft stark ideologischen Charakters nicht den ästhetischen Kriterien genügten, die für die Aufnahme in den literaturgeschichtlichen Kanon zu erfüllen waren – um so etwa den Werken der generación del 98 oder der generación del 27 an die Seite gestellt werden zu können. Lediglich drei Texte aus dem großen Korpus, auf den sich Fleischmann stützt, konnten bisher nennenswerte literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erlangen: José Díaz Fernández’ episodischer Erzähltext El blocao (1928), Ramón José Senders Roman Imán (1930) und La ruta (1943), der Mittelteil von Arturo Bareas autobiographischer Spanientrilogie La forja de un rebelde (1941–1944).
Stephanie Fleischmanns in jeder Hinsicht ausgezeichneter Untersuchung kommt nun das große, weit über die deutschsprachige Hispanistik hinaus gültige Verdienst zu, das umfangreiche und weitgehend unbekannte Korpus der Rifkriegsliteratur, das von ihren spanischen Vorgängern bisher eher katalogisiert als analysiert wurde, zum ersten Mal in seiner ganzen kulturellen Bedeutsamkeit erschlossen zu haben.2 Gleichzeitig führt ihre Arbeit beispielhaft vor Augen, zu welchen genuinen Einsichten eine kulturwissenschaftliche Lektüre von Texten gelangt, die aus literaturwissenschaftlicher Perspektive mehrheitlich nicht viel herzugeben scheinen, weil sie sich nicht zuletzt aufgrund ihrer strukturellen Hybridität einem herkömmlichen Literaturbegriff entziehen. Demgegenüber gelingt es der Verfasserin zu zeigen, dass die „Momente des unfreiwilligen Selbstwiderspruchs“ (11), die viele dieser zum Teil massenhaft, mit einer Auflage von bis zu hunderttausend Exemplaren verbreiteten Texte aufweisen, aus kulturwissenschaftlicher Sicht als höchst aufschlussreiche Symptome einer problematisch gewordenen gesellschaftlichen Sinnbildung interpretiert werden können – während sie von einem literarästhetischen Standpunkt aus wohl lediglich als Beleg für mangelndes künstlerisches Talent gewertet würden.
In der Tat ist Fleischmanns Studie dezidiert kulturwissenschaftlich ausgerichtet. Die Liste der zitierten Konzepte und Begriffe liest sich wie ein Who’s who der Kulturwissenschaften: Agamben, Anderson, Bachtin, Barthes, Bhabha, Butler, Certeau, Derrida, Fanon, Flusser, Foucault, Freud, Kristeva, Lacan, Laclau, Link, Lotman, Mignolo, Said, Spivak, Theweleit, Turner, Weigel, Žižek etc. An keiner Stelle wirken die jeweils in Anschlag gebrachten Theorien jedoch forciert oder aufgesetzt, der Umgang mit ihnen erfolgt durchgehend kritisch, eigenständig und produktiv. So erfordert der hohe theoretische und methodische Anspruch, den sich die Verfasserin auferlegt hat, zwar einige Konzentration bei der Lektüre und bringt die eine oder andere etwas komplizierte Formulierung mit sich (vgl. zum Beispiel die Bemerkungen zum Sprachgebrauch in Senders Imán unter Bezug auf Lacan auf S. 320), führt dabei aber immer wieder zu Einsichten, die auch den bekannteren Texten ohne einen solchen begrifflichen Aufwand nicht in dieser Präzision und Differenziertheit abzuringen gewesen wären.
Den methodisch innovativen Ausgangspunkt und den Leitgedanken der Arbeit bildet die These eines spannungsvollen, alle ausgewählten Texte durchziehenden Gegensatzes zwischen Diskurs und Ereignis, zwischen einem im Fall Spaniens häufig als „Afrikanismus“ bezeichneten festgefügten System kolonialen Denkens, das in unterschiedlichen Varianten – militärische Unterwerfung oder friedliche Annäherung – auftritt, und der dieses System nachhaltig erschütternden, Spanien völlig unerwartet treffenden Katastrophe von Annual. Als inkommensurable historische Erfahrung beziehungsweise als „Un-Fall“, als „ein Fall, der sich nicht restlos diskursiv und imaginär vereinnahmen lässt“ (17), provoziere das Desaster von Annual einen „Prozess der Umschreibung“ (17) des mit der veränderten historischen Wirklichkeit nicht mehr zu vereinbarenden kolonialen Diskurses und die Forderung nach der „Schließung“ dieses Prozesses in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch eine neue politische Praxis. In der Art, wie diese Umschreibung vollzogen und ihre politische Schließung gefordert wird, lassen sich nach Fleischmann zwei Tendenzen unterscheiden: eine Tendenz, die auf die Restabilisierung des traditionellen kolonialistischen Diskurses sowie die nationalistisch-totalitäre Neuordnung des Staates abzielt, und eine gegenläufige Tendenz, die sich der Entlarvung und Destruktion dieses Diskurses verschrieben hat und auf eine sozialrevolutionäre Politik hinausläuft.
Durch die Einführung des Ereignisbegriffs grenzt sich Fleischmann explizit von primär diskursanalytischen Vorgehensweisen ab, wie sie Edward Saids Orientalismus-Theorie oder auch Susan Martin-Márquez’ wegweisender, stark vom Postkolonialismus beeinflusster Untersuchung Disorientations, zugrunde liegen.3 Obwohl der spanische Afrikadiskurs, den Martin-Márquez rekonstruiert, aufgrund der in sich selbst noch einmal in eine europäische und eine afrikanische Seite gespaltenen spanischen Identität eindeutig komplexer ist als die von Said beschriebene Diskursformation aus „ewigen Wahrheiten“ (25), trifft doch auf beide Autoren zu, dass sie von einem über größere Zeiträume hinweg relativ stabilen System wechselnder Beziehungen und Konstellationen ausgehen, mit dem sich die besondere historische Dimension der Niederlage von Annual und die literarischen Reaktionen darauf tatsächlich nicht so genau und differenziert erfassen lassen wie mit der von Fleischmann vorgeschlagenen Dialektik von Diskurs und Ereignis. Erst aus dieser Dialektik ergibt sich dann auch die für die Untersuchung der „Literatur des Desasters von Annual“ maßgebliche Leitfrage, „auf welche Arten sich die Erschütterung der kolonialen Symbolstrukturen in diese Erzählungen einschreibt, bzw. wie diese Erschütterung geschrieben wird“ (13).
Fleischmann hat ihre Arbeit in fünf große Kapitel unterteilt, mit deren inhaltlicher Ausrichtung sie geschickt systematische und chronologische Aspekte vereint. In systematischer Hinsicht unterscheidet sie vier aus kulturwissenschaftlicher Sicht besonders relevante Bezugsfelder, denen sie die von ihr untersuchten Texte so zuordnet, dass sich dabei gleichzeitig ein chronologischer Bogen ergibt, der von den frühesten, noch aus dem Jahr des Desasters selbst stammenden Reaktionen bis zum Jahr 1933 reicht, in dem der literarische Deutungsprozess weitgehend abgeschlossen ist, nachdem er mit der Lockerung der Zensur nach dem Ende der Militärdiktatur Primo de Riveras (1923–1930) noch einmal an Intensität gewonnen hatte. Jedes der vier Hauptkapitel besteht wiederum aus einem Überblicksteil, der eine größere Anzahl Texte auswertet, und einer detaillierten Analyse von zwei bis drei Werken, die für das jeweilige Bezugsfeld repräsentativ sind. Vorangestellt ist diesen Schwerpunktkapiteln eine theoretisch-historische Einführung, in der sich die Verfasserin kritisch mit den postkolonialen Theorien Saids und Bhabhas auseinandersetzt, denen sie eine gewisse Indifferenz gegenüber unterschiedlichen historischen Kontexten und die Tendenz zur Reproduktion der immer gleichen Resultate vorwirft. Als Korrektiv empfiehlt Fleischmann eine stärkere Berücksichtigung des Ereignisbegriffs, für dessen Relevanz die Literatur des Desasters von Annual in der Tat ein überzeugendes Beispiel liefert. Abgeschlossen wird der Einführungsteil durch eine konzise Rekonstruktion des africanismo als einer spezifisch spanischen Variante des Orientalismusdiskurses sowie einen Abriss der spanischen Kolonialgeschichte in Nordafrika von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur „Befriedung“ des Rifgebiets im Jahr 1927.
Der erste von der Verfasserin ins Auge gefasste Bedeutungskomplex ist die weit verbreitete, sich quer durch die politischen Lager ziehende Deutung der Niederlage im Spiegel des Schamgefühls (vergüenza). Diese Deutung erhält ihre Brisanz zum einen vor dem Hintergrund des in der spanischen Kultur traditionell besonders tief verankerten Mythologems der Ehre, zum anderen jedoch aus dem Umstand, dass die spanische Nation sich nun unversehens – und wie im Hinblick auf die Geschichte des Verhältnisses von Spanien zu Europa hinzuzufügen ist: wieder einmal – auf eine hierarchisch unterlegene, dem zu kolonisierenden moro vorbehaltene Position verwiesen sieht, aus der sie sich durch den Krieg eigentlich befreien und den anderen europäischen Kolonialmächten als ebenbürtig erweisen wollte. Das aus seinen narzisstischen Großmachtsphantasien gerissene Spanien steht nun selbst als gescheiterter Nachahmer dar, was umso mehr schmerzt, als sein Gegner, der Anführer der Rifkabylen Abd-el-Krim, sich seinerseits mit großem Geschick der Mimikrystrategien des Kolonisierten bedient, wie Fleischmann in einer brillanten Analyse zeigt (vgl. 102–11). In literarischen Texten wie Ernesto Giménez Caballeros als präfaschistisch geltenden Aufzeichnungen Notas marruecas de un soldado (1923) oder Víctor Ruiz Albéniz’ kaum bekanntem, ebenfalls autobiographischen Roman ¡Kelb Rumi! (1922) kommt die Unvereinbarkeit von Anspruch und Wirklichkeit in einem weitgehend unvermittelten Nebeneinander von epischen und farcenhaften Zügen, von ungebrochenem Überlegenheitsdenken und enttäuschter Selbsterniedrigung, von Heldenverehrung und Wahnsinn zum Ausdruck.
Dass das Reaktionsmuster der Scham eine große Affinität zu den Geschlechterrollen und ihrer kollektiven Symbolik aufweist, liegt auf der Hand. Die Analyse der „Vergeschlechtlichung des kolonialen Desasters“ (51), die den zweiten Schwerpunkt der Arbeit bildet, erweist sich denn auch als außerordentlich ergiebig. Dabei gibt Fleischmann zu Recht zu bedenken, dass die Gestaltung der Genderbezüge in der Rifkriegsliteratur nicht allein als Antwort auf die Erfahrung der Niederlage von Annual verstanden werden darf, sondern immer auch in „Beziehung zur Destabilisierung des traditionellen Gendersystems, die sich in diesen Jahren in Spanien ereignete“ (53), gesetzt werden muss. Das wird insbesondere an den Männlichkeitskonstruktionen deutlich. Zwei Richtungen lassen sich hier im Wesentlichen unterscheiden, die jedoch darin übereinstimmen, dass sie mit der Beschreibung männlicher und weiblicher Eigenschaften meistens auch implizit den Zustand der spanischen Nation kommentieren. Die Mehrzahl der Texte wie Gregorio Corrochanos Roman ¡Mektub! (1926), vor allem aber die aus der Fremdenlegion hervorgegangenen oder sich auf sie beziehenden Texte, darunter Mico Españas Los caballeros de la legión (1922) und Luys Santa Marinas Tras el águila del César: elegía del Tercio (1923), antworten auf die Erschütterung herkömmlicher Männlichkeitsvorstellungen durch das Desaster von Annual mit der Reaffirmation eines soldatischen, nationalistischen und in einigen Fällen bereits dem Faschismus vorausgreifenden Männlichkeitsideals, wie es in Grundzügen schon Klaus Theweleit in seiner Studie Männerphantasien (1977/1978) beschrieben hat, auf die Fleischmann mehrfach verweist. Der Wunsch nach Remaskulinisierung geht gelegentlich, wie zum Beispiel in Tomás Borras’ Marokkokriegsroman La pared de tela de araña (1924), so weit, dass sogar die gegnerischen Rifberber wegen ihrer ungebrochenen Virilität zu bewunderten Vorbildern werden. Allerdings gibt es durchaus auch Texte, etwa Enrique de Meneses Erzählung La cruz de Monte Arruit (1922) oder José Díaz Fernández’ El blocao (1928), in denen dieses Männlichkeitsideal dekonstruiert und kritisch durchleuchtet wird. Von den Frauenfiguren, sei es der militanten, sozialrevolutionären Spanierin oder der jederzeit zum Verrat bereiten Marokkanerin, geht durchweg eine verführerische Bedrohung aus.
Neben der Geschlechterproblematik ist es die Klassenfrage, die der literarischen Darstellung des Krieges ihren Stempel aufdrückt, wie die Verfasserin in einem weiteren Abschnitt erläutert. Die Hervorhebung sozialer Unterschiede schlage sich in vielen Marokkokriegstexten als „DissemiNation“ im Sinne Homi Bhabhas nieder: als „eine unentschlossene Bewegung zwischen der pädagogischen Affirmation einer imperialen spanischen Identität , die als Narration der Entsendung verstanden werden kann, und der performativen Infragestellung dieser in der Darstellung desaströser Ereignisse, die als Erzählung der Heimsuchung zu begreifen ist“ (212). Fleischmann fasst nun zunächst jene bereits erwähnten Texte über die Fremdenlegion ins Auge, zu denen auch Francisco Francos Kriegstagebuch Diario de una bandera (1922) gehört. Mit großem Scharfsinn erfasst sie die gesellschaftliche Funktion dieses „Corps von Untoten“ (223), die in ihrer Heimatgesellschaft zwar keinen Platz mehr haben, dieser durch ihren „Opfertod“ aber gleich in doppelter Weise von Nutzen sind. Die berüchtigte exzessive Brutalität der Fremdenlegionäre erscheint vor diesem Hintergrund als symbolische Rache für die Rolle, die ihnen die Zivilgesellschaft in diesem Krieg zugedacht hat. Daneben gibt es aber auch eine Reihe von Erzählungen, die sich der kolonialen Meistererzählung verweigern und diese aus der Perspektive sozial marginalisierter, subalterner, kaum zur Artikulation fähiger Fußsoldaten kritisieren. Dazu gehören etwa Fermín Galáns schon im Titel keine Zweifel an seiner Haltung lassender Erzähltext La barbarie organizada (1926/1931) sowie Ramón José Senders bekannter Roman Imán (1930). Für Fleischmann entsteht mit diesen „Dringlichkeitserzählungen“ (216) „eine neue Vorstellung traumatischer Subjektivität“ (216) und ein in Spanien „neuer Typus von Zeugnisliteratur“ (216). Häufig gehen diese Texte auch einher mit einem entsprechenden politischen Engagement ihrer Verfasser. Als dieses Engagement mit der Ausrufung der Zweiten Republik Früchte zu tragen scheint, kommt es retrospektiv, wie im Fall von Eliseo Vidals ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! (1932), auch zu triumphalistischen Titeln. Damit stellt sich nun die heikle Frage nach dem Verhältnis der Republikaner zum Kolonialismus in Afrika.
Der letzte Teil der Untersuchung ist den Auswirkungen des Desasters von Annual auf die literarische Konstruktion von Raum und Zeit gewidmet. Fleischmann führt darin noch einmal exemplarisch kultur- und literaturwissenschaftliche Ansätze zusammen, indem sie das elementare Verständnis des Kolonialismus als reale und imaginative Besetzung fremder Räume mit dem Chronotopos-Konzept Michail Bachtins koppelt. Gleichzeitig illustriert sie anhand des Raumparadigmas erneut ihre Leitthese vom Bruch und der Umschreibung der kolonialen Erzählung. Die neue Raum-Zeit-Erfahrung, die an die Stelle der traditionellen orientalistischen Topoi tritt, verdichtet sich emblematisch im blocao, dem vorgeschobenen militärischen Posten, der in vielen Rifkriegserzählungen, nicht nur in José Díaz Fernández’ El blocao, eine zentrale Rolle spielt. Die Erfahrung der Einschließung und des Ausgeliefertseins, der Einebnung der Grenze zwischen Innen und Außen und der Auflösung jeglicher Identitäten lassen den blocao zu einem „Chronotop des Absurden“ (295) werden. Zwar erweist sich dieser Chronotop wie in Wenceslao Fernández Flórez’ Aventuras del Caballero Rogelio de Amaral (1933) durchaus als satirefähig, seine gültige Darstellung hat er aber in Ramón José Senders, in seiner literarischen Qualität singulärem Roman Imán gefunden, dessen „Form der Absage an bestimmte Formen des Schreibens und Sprechens über Marokko“ (295) den naheliegenden Schlusspunkt von Fleischmanns profunder Untersuchung bildet.
Seit dem Erscheinen der Studie von Susan Martin-Márquez hat die kultur- und literaturwissenschaftliche Erforschung des spanischen Kolonialismus in (Nord-)Afrika beträchtlich an Fahrt aufgenommen. Stephanie Fleischmanns auf ihre Weise mindestens genauso beeindruckende Arbeit ist der beste Beleg dafür. Daneben und darüber hinaus hat sich der Blick aber mittlerweile nicht nur auf das Echo des Rifkriegs in der spanischen und marokkanischen Gegenwartsliteratur und die Reflexion des Kolonialismusproblems in der spanischen Intellectual History gerichtet, sondern auch wieder mit neuem Interesse auf die reichhaltige Textproduktion in kastilischer und katalanischer Sprache zurückgewendet, die der erste Spanisch-Marokkanische Krieg von 1859/60 hervorgebracht hat.4 Dass Stephanie Fleischmann das weitgehend unbekannte Textuniversum der „Literatur des Desasters von Annual“ und deren kulturelle Tiefendimension auf so hohem Niveau erschlossen hat, kann man in diesem Zusammenhang nur als Glücksfall bezeichnen.
Zu nennen sind hier aus historiographischer Perspektive in erster Linie Sebastian Balfour, Deadly Embrace: Morocco and the Road to the Spanish Civil War (Oxford: Oxford University Press, 2002); María Rosa de Madariaga, España y el Rif: crónica de una historia casi olvidada (Melilla: UNED-Centro Asociado de Melilla, 1999); María Rosa de Madariaga, Los moros que trajo Franco…: la intervención de tropas coloniales en la Guerra Civil Española (Barcelona: Martínez Roca, 2002); María Rosa de Madariaga, En el Barranco del Lobo: las guerras de Marruecos (Madrid: Alianza, 2005); María Rosa de Madariaga, Abd-el-Krim el Jatabi: la lucha por la independencia (Madrid: Alianza, 2009); María Rosa de Madariaga, Marruecos, ese gran desconocido: breve historia del protectorado español (Madrid: Alianza, 2013) und Dirk Sasse, Franzosen, Briten und Deutsche im Rifkrieg, 1921–1926: Spekulanten und Sympathisanten, Deserteure und Hasardeure im Dienste Abdelkrims (München: Oldenbourg, 2006); seitens der Literaturgeschichte Antonio Carrasco González, La novela colonial hispanoafricana: las colonias africanas de España a través de la historia de la novela (Madrid: SIAL, 2000); Antonio Carrasco González, Historia de la novela colonial hispanoafricana (Madrid: SIAL, 2009); Juan José López Barranco, „La Guerra de Marruecos en la narrativa española (1859–1927)“ (Diss. Madrid: Universidad Complutense de Madrid, 1999); Juan José López Barranco, El Rif en armas: la narrativa española sobre la guerra de Marruecos (1859–2005) (Madrid: Mare Nostrum, 2006). Die Wiederentdeckung des Rifkriegs als literarischer Stoff ist vor allem Lorenzo Silva zu verdanken: siehe Lorenzo Silva, Del Rif al Yebala: viaje al sueño y la pesadilla de Marruecos (Barcelona: Destino, 2001); ders., El nombre de los nuestros (Madrid: Destino, 2001) und ders., Carta blanca (Madrid: Espasa, 2004).↩
Vgl. auch Max Doppelbauer und Stephanie Fleischmann, Hrsg., „Dossier: Hispanismo Africano“, Iberromania 73/74 (2012): 1–206.↩
Susan Martin-Márquez, Disorientations: Spanish Colonialism in Africa and the Performance of Identity (New Haven und London: Yale University Press, 2008). Vgl. dazu die Rezension von Christian von Tschilschke, PhiN: Philologie im Netz 59 (2012): 54–62, http://web.fu-berlin.de/phin/phin59/p59t6.htm.↩
Vgl. die gerade veröffentlichte Studie von Elmar Schmidt, Inszenierungen des Rifkriegs in der spanischen, hispano-marokkanischen und frankophonen marokkanischen Gegenwartsliteratur: traumatische Erinnerungen, transnationale Geschichtskonstruktion, postkoloniales Heldenepos (Vervuert, 2015), das von Christian von Tschilschke und Jan-Henrik Witthaus herausgegebene „Dossier: Los intelectuales españoles y el tema de África: desde el colonialismo en Marruecos hasta la Primavera Árabe“, Iberoamericana 56 (2014): 87–165, http://journals.iai.spk-berlin.de/index.php/iberoamericana/issue/view/58 sowie die in Vorbereitung befindliche Siegener Dissertation von Ina Kühne mit dem Arbeitstitel A l’Àfrica, minyons! Die Rolle des Spanisch-Marokkanischen Kriegs von 1859/60 im katalanischen Identitätsdiskurs des 19. Jahrhunderts.↩
Copyright (c) 2016 Christian v. Tschilschke
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