Sprache ohne Kultur?

Zur Kompetenzorientierung in den Fremdsprachen (am Beispiel des Französischunterrichts in Österreich)

Monika Neuhofer

1. Neue versus alte Reifeprüfung

Anfang Mai dieses Jahres wurde in Österreich erstmals flächendeckend an allen Gymnasien1 die neue Reifeprüfung durchgeführt. Diese Form der kompetenzorientierten Matura sieht nunmehr zentrale Klausuren im schriftlichen Teil und schulspezifische Prüfungen nach genauen Vorgaben im mündlichen Bereich vor.2 Auf der Internetseite des für die Konzeption der neuen Matura zuständigen Bundesinstituts für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens (bifie) werden die Leitgedanken des Konzepts formuliert. Demzufolge gewährleiste die neue Reifeprüfung unter anderem

höchstmögliche Transparenz und Vergleichbarkeit der Prüfungsanforderungen, Objektivität, Vergleichbarkeit und somit Fairness der Beurteilungsverfahren, die nachhaltige Absicherung von Kompetenzen.3

Neben Zielen wie Transparenz, Vergleichbarkeit und Objektivität ist es insbesondere der Begriff der Kompetenz, der im Zentrum der Prüfungsreform steht. Das heißt, die neue Matura orientiert sich inhaltlich weniger an dem, was Schüler wissen oder gelernt haben sollen, als an den Kompetenzen4, über welche die Schüler am Ende ihrer Schullaufbahn verfügen sollen. Was bedeutet das konkret für die Reifeprüfung in den Fremdsprachen, respektive in den zweiten lebenden Fremdsprachen, als die die romanischen Sprachen, allen voran Französisch, zunehmend häufiger auch Spanisch, in Österreich normalerweise unterrichtet werden?

Bis vor Kurzem war es üblich, die schriftliche Matura in Form eines längeren Essays (350–400 Wörter) sowie zweier kürzerer Texte (2 x 150–200 Wörter) abzunehmen. Dafür gab es eine individuell für jede Klasse erstellte Themenliste, die sich aus den tatsächlich im Unterricht behandelten Themen ergab. Gefordert war z. B. am WRG Salzburg im Jahr 2012 ein für alle verbindlicher Essay zum Thema „Les visages de Paris“ sowie die wahlweise Behandlung der Themen „Amitié“ oder „Pauvreté – solidarité“ in Form von je zwei Kurztexten. In allen Arbeiten hatten verschiedene im Unterricht besprochene Aspekte eines Themas, die u. a. Romanen, Theaterstücken oder Filmen entnommen werden mussten, zur Sprache zu kommen. So umfasste das Thema „Amitié“ etwa auch (als einen der zwei geforderten Kurztexte) ein Porträt der Figur Momo aus Eric-Emmanuel Schmitts Roman Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran.

Der Stoff für die mündliche Reifeprüfung wurde in ein vom Schüler selbst gewähltes „Spezialgebiet“ und einen allgemein verbindlichen „Kernstoff“ aufgeteilt. Bei der Prüfung musste sowohl eine Frage zum Spezialgebiet als auch eine Frage zum Kernstoff (die wiederum aus zwei vorgelegten Fragen gewählt werden konnte) beantwortet werden. Eine solche Prüfung sah beispielsweise folgendermaßen aus:5 Das gewählte Spezialgebiet lautete „Tahar Ben Jelloun: Le Racisme expliqué à ma fille“. In ca. sieben bis acht Minuten mussten der Autor vorgestellt sowie das Buch und seine Themen präsentiert und in einen politischen Kontext gestellt werden. Insbesondere sollte dabei auch der Begriff „bouc émissaire“ erklärt und reflektiert werden. Des Weiteren konnte zwischen zwei Fragen zum Kernstoff gewählt werden, in diesem Fall: „Vivre en centre-ville / vivre en campagne“ oder „Le petit Nicolas“. Auch für die Beantwortung dieser Frage stand ungefähr dieselbe Zeit zur Verfügung.

Die neue Reifeprüfung in den Fremdsprachen orientiert sich nun, wie in international zum Einsatz kommenden Sprachtests üblich, an den bekannten Teilqualifikationen und den allgemein verbindlichen Sprachniveaus, wie sie seit 1998 im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GER) des Europarats definiert werden. Das heißt: Bei der schriftlichen, zentral erstellten Matura werden die Fertigkeiten Lesen, Hören, Sprachverwendung im Kontext und Schreiben überprüft,6 bei der mündlichen die Fertigkeit Sprechen (monologisch sowie dialogisch). Thematisch bleibt die Überprüfung der Sprachkompetenz im Bereich des Alltäglichen und den Schülern aus ihrer Lebenswelt Bekannten und Vertrauten.7 Über den Wortschatz hinaus spielen Inhalte keine Rolle, weder müssen Themen inhaltlich vertieft werden, noch brauchen Fakten gewusst oder bestimmte Texte gelesen werden. Die Neukonzeption der Matura und die Orientierung am Leitbegriff der Kompetenz haben weitreichende Konsequenzen. Diese erschöpfen sich mitnichten in einer anderen Prüfungsform, vielmehr bedeuten sie einen veritablen Paradigmenwechsel in der Betrachtungsweise von Fremdsprachen, ja eigentlich auch in der Frage nach dem Sinn des Sprachenlernens, die frei nach Friedrich Schiller lauten könnte: Was heißt und zu welchem Ende lernt man eine Sprache?

2. Kompetenzen statt Inhalte im Lehrplan der AHS

Bereits seit der in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erfolgten kommunikativen Wende werden Fremdsprachen primär unter dem Aspekt der Kommunikationsfähigkeit gelehrt. Die bis dahin übliche Beschäftigung mit Übersetzung spielt seither kaum mehr eine Rolle. Trotz der grundsätzlichen Orientierung an der Kommunikationsfähigkeit blieb bis vor einigen Jahren aber die Vermittlung von Literatur ein erklärtes Ziel des Fremdsprachenunterrichts, zumindest im Gymnasium. So wird im früheren Lehrplan der AHS-Oberstufe aus dem Jahr 1989 als eines von vier Zielen angeführt, der Unterricht solle dazu dienen, „Kenntnisse aus ausgewählten Bereichen der Landes- und Kulturkunde Frankreichs und der übrigen französischsprechenden Länder, einschließlich Literatur“ zu vermitteln. Für das dritte und vierte Lernjahr wird dort „Verstehen authentischer Gebrauchstexte sowie literarischer Texte“ explizit als Lernziel der Teilfertigkeit Leseverstehen und Lesen genannt. Und die angeführten Lerninhalte geben im Bereich Lektüre genau vor: „Texte aus den Massenmedien; literarische Texte vorwiegend aus dem 20. Jahrhundert, gelegentlich Proben aus den übrigen Epochen. Mindestens eine Ganzschrift. […] Privatlektüre in angemessenem Umfang ist zu empfehlen und zu fördern.“8

Im aktuell gültigen Lehrplan für die lebenden Fremdsprachen aus 2004 spielt Literatur nur mehr eine schwach wahrnehmbare Rolle. Im Vordergrund der Fremdsprachendidaktik steht nunmehr ein handlungsorientierter Ansatz, in dessen Zentrum die Ausbildung von kommunikativer Kompetenz steht. Daneben soll der fremdsprachliche Unterricht zwar auch interkulturelle Kompetenz zeitigen, der kommunikative Aspekt aber steht klar an erster Stelle. Im ersten didaktischen Grundsatz9 heißt es:

Dem handlungsorientierten Ansatz gemäß stellt die kommunikative Sprachkompetenz das übergeordnete Lehr- und Lernziel des Fremdsprachenunterrichts dar. Das heißt, fremdsprachliche Teilkompetenzen sind in dem Maße zu vermitteln, wie sie für erfolgreiche mündliche und schriftliche Kommunikation nötig sind.10

Um dies zu gewährleisten, sollen unter anderem möglichst vielfältige Themenbereiche und Textsorten zur Sprache kommen. In diesem Zusammenhang findet sich im Lehrplan eine Auflistung verschiedener weiterer didaktischer Grundsätze, wobei in einem dieser auch Literatur explizit erwähnt wird: „Im Sinne einer humanistisch orientierten Allgemeinbildung ist bei der thematischen Auswahl fremdsprachiger Texte auch literarischen Werken ein entsprechender Stellenwert einzuräumen.“ – Genaueres wird nicht erklärt. Möglicherweise stellt dieser Hinweis ein Relikt aus einem früheren Bildungsverständnis dar, der quasi als didaktisches Feigenblatt in den gegenwärtigen Lehrplan Eingang gefunden hat. Bei genauerer Überlegung stellt die Erwähnung der „humanistisch orientierten Allgemeinbildung“ vor dem Hintergrund der umfassenden Kompetenzorientierung nämlich ebenso einen Anachronismus dar wie die allgemeine Bildungs- und Lehraufgabe „Interkulturelle Kompetenz“ weitgehend folgenlos bleibt: Der Lehrstoff, d. h. die „verbindlichen Vorgaben, welche Lernziele die Schüler/innen erreichen sollen“,11 umfasst im aktuell gültigen Lehrplan ausschließlich die Vermittlung der international standardisierten Kompetenzniveaus (A1, A2, B1 und B2). Weder wird versucht, die Bildungs- und Lehraufgabe der interkulturellen Kompetenz hier abzubilden (oder auch nur zu erwähnen), noch werden mögliche Lerninhalte (wie im alten Lehrplan) angeführt.

3. Bildung in Zeiten der Kompetenz- und Outputorientierung

Zweifellos wirken sich all diese Neuerungen auf den schulischen Unterricht aus. Immer wieder werden in der schulischen Praxis Stimmen laut – insbesondere von Proponenten der Kompetenzorientierung und der neuen Reifeprüfung –, die einmahnen, dass der Unterricht im Gymnasium natürlich auch weiterhin viel mehr umfassen solle und könne als das, was am Ende der schulischen Laufbahn überprüft werden kann. Dieser Forderung ist grundsätzlich zuzustimmen, allerdings muss diesbezüglich eingehender nachgefragt werden, was damit konkret gemeint ist. Dass sich nämlich durch eine derart gravierende Veränderung der Abschlussprüfungen keinerlei Rückkoppelungseffekt auf den Unterricht einstellen würde – zumal, wie sich gezeigt hat, ja auch bereits der Lehrplan eine Abkehr von Inhalten zugunsten einer Fokussierung auf handlungsorientierte Kompetenzen vornimmt –, ist hochgradig unwahrscheinlich und kann nicht im Sinne des Erfinders sein. Es besteht aber natürlich die reelle Gefahr, dass LehrerInnen gewissermaßen übers Ziel hinausschießen und künftig verstärkt – insbesondere wenn es Richtung Matura geht – eine Art „teaching to the test“ betreiben. Doch selbst wenn dies nicht der Fall ist, bleibt die Frage, was Fremdsprachenunterricht eigentlich leisten soll und kann.

Wie Adelheid Hu aufzeigt, hat vor allem der Gemeinsame europäische Referenzrahmen mit seiner pragmatisch-funktionalen Betrachtungsweise von Sprachen großen Einfluss auf die Vorstellungen von sprachlicher Kompetenz genommen:

Weitreichenden Einfluss hatten insbesondere die Unterteilung allgemeiner fremdsprachlicher Kompetenzen in Teilkompetenzen wie Hörverstehen oder Leseverstehen sowie die Niveaustufenbeschreibungen/Deskriptoren (A1–C2) für einzelne Teilkompetenzen.12

Auch am derzeitigen österreichischen Lehrplan für die lebenden Fremdsprachen wird dies ersichtlich, orientiert sich doch, wie bereits erwähnt, die gesamte Aufteilung des Lehrstoffes nach diesen Vorgaben. Während sich dieser nunmehr darin erschöpft, Lernziele zu formulieren, wurden im alten Lehrplan (1989) den Lernzielen noch Lerninhalte zur Seite gestellt wurden, aus denen „die Lehrkräfte auswählen und gewichten“ sollten.13

Mit der Kompetenzorientierung einher geht die Kompetenzmessung, d. h. die empirische Überprüfbarkeit des erreichten Niveaus. Um die erworbenen Kompetenzen messen und vergleichen zu können, wurden und werden spezifische Testformate entwickelt, welche die Teilkompetenzen voneinander isoliert überprüfen. So wird beispielsweise die Teilkompetenz Hörverstehen bei der derzeitigen Reifeprüfung mittels der Methoden „Zuordnen“, „Kurzantworten“ oder „Multiple Choice“ gemessen, die Teilkompetenz Sprechen (monologisch und dialogisch) wird mit Hilfe eines Beobachtungsbogens, der die Kriterien „Erfüllung der Aufgabenstellung“, „Flüssigkeit und Interaktion“, „Spektrum gesprochener Sprache“ sowie „Richtigkeit gesprochener Sprache“ umfasst, beurteilt.14 Sämtliche Tests sind „kriteriumsorientiert“ und können „somit als Aussagen erworbener Kompetenzen interpretiert werden.15

Ein Problem ergibt sich bei der Überprüfung der interkulturellen Kompetenz, die ja zumindest in den allgemeinen Bildungs- und Lehraufgaben explizit erwähnt wird. Weder das bifie noch das österreichische Bildungsministerium widmen sich diesem Problem. Adelheid Hu gibt zu bedenken, dass „die Entwicklung und Förderung dieser Domäne sprachlich-kulturellen Lernens in einem standard- und kompetenzorientierten Unterricht insofern bedroht [erscheint], als sie zu den wenig operationalisierten und schwer – möglicherweise zum Teil gar nicht – messbaren Bereichen gehört.“16 Auch in einem Positionspapier von Vorstand und Beirat der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) wird darauf hingewiesen, dass von einer „systematischen Entwicklung“ interkultureller Kompetenzen bislang nicht die Rede sein kann. Zwar gebe es Versuche, interkulturelle Kompetenzen im Zusammenhang mit sprachlich-funktionalen Kompetenzen zu fördern, ein wesentliches Problem dabei bilde jedoch die mangelnde Überprüfbarkeit. Ohne ‚echte‘ Referenzaufgaben könne das Erreichen des Ziels bzw. der Norm nicht überprüft werden.17

Noch gravierender gestaltet sich die Situation im Bereich der ästhetisch-imaginativen Funktion der Sprachverwendung, also im Bereich der rezeptiven und produktiven Auseinandersetzung mit Literatur. Diese Funktion werde in den Standards der Kultusministerkonferenz („KMK-Standards“) „völlig ausgeblendet“18, was in gleicher Weise für den österreichischen Lehrplan und die neue Reifeprüfung gilt. Laut Hu seien zwei Szenarien vorstellbar, wie mit dem Defizit der fehlenden Messbarkeit in diesen Bereichen umgegangen werden kann:

Entweder wird gewährleistet, dass neben den leichter testbaren Kompetenzen wie z. B. informationsentnehmendem Lese- und Hörverstehen genügend Freiräume für interkulturelle, reflexive, ethische und ästhetische Aspekte sprachlichen Lernens bleiben – auch wenn sie sich nicht der Philosophie der Niveaustufung und Outputorientierung unterwerfen. Die andere Option besteht darin, auch die schwer messbaren Kompetenzen so weit zu operationalisieren, zu stufen und durch Aufgaben zu normieren, dass sie – zumindest teilweise – evaluierbar werden.19

Möglicherweise sind diese beiden Szenarien die am wahrscheinlichsten, warum sie allerdings auch die Grenzen des Denkbaren markieren sollen, entzieht sich m. E. der Nachvollziehbarkeit. Denkbar ist schließlich auch, dass Sprache weitgehend auf die funktional-kommunikativen Kompetenzen eingeschränkt wird und kaum bzw. nur wenig Freiräume für interkulturelle, ästhetische, reflexive Aspekte bleiben. Zumindest in Ansätzen ist ein solches Szenario bereits Realität, wenn man die achtzehn Themenbereiche des Niveaus B1, die für die österreichische Matura relevant sind, mit den tatsächlich zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden über nicht einmal vier Lernjahre zusammendenkt. Von „genügend Freiräumen“ kann hier jedenfalls nicht mehr die Rede sein.

Doch noch einmal zu den beiden von Hu skizzierten Szenarien: Unter den gegebenen Bedingungen der umfassenden Kompetenzorientierung erscheint das Szenario der Freiräume eindeutig als das geringere Übel. Zwar steht zu befürchten, dass solche Freiräume bei tatsächlichem oder auch vermeintlichem Druck schnell zusammenschrumpfen würden, zumal sich die Inhalte der Freiräume ja kaum auf die Examensnoten auswirken dürften. Eine Schule, die auf die Ausgestaltung der Freiräume verzichtet und stattdessen forciertes prüfungsrelevantes Kompetenztraining anbietet, würde hingegen möglicherweise einen besseren Notenschnitt produzieren – in Zeiten, in denen Bildungsinstitutionen, ergo auch Schulen, einem permanenten Ranking unterzogen werden, könnte das nicht unerheblich sein.

Dennoch erscheint die Vorstellung der normierten und isolierten (!) Überprüfung des ‚Outputs‘ in den Bereichen interkulturelle, ästhetische oder reflexive Kompetenzen als noch problematischer. Hier zeigt sich nämlich die geistige Beschränktheit und der ökonomisch-pragmatische Hintergrund des Kompetenzparadigmas, das sowohl die Segmentierung von Sprache als auch die Messung des ‚Outputs‘, also der Lernergebnisse, impliziert. Wie aber sollte sich ästhetische Kompetenz unabhängig von Lesekompetenz messen lassen? Wie interkulturelle, reflexive oder ethische Kompetenz? Müsste es, um in diesen Bereichen relevante Aussagen treffen zu können, nicht genau darum gehen, Sprache in ihrer kulturellen Verankerung sowie umgekehrt Kultur in ihrer textuellen Verfasstheit wahrzunehmen? Kann – und sollte – diese Wahrnehmung punktuell messbar sein?

Bei der diesjährigen mündlichen Reifeprüfung im Juni war zu beobachten, dass bereits die Sprechkompetenz, wenn sie isoliert, d. h. einzig durch Bildimpulse angeregt und gänzlich ohne Textgrundlage performt und gemessen werden soll, allerhand inhaltsloses und klischeehaftes Geschwafel zu Tage fördert.20 Wie haben wir uns demzufolge interkulturelle Kompetenz ohne Inhalte vorzustellen?

Das Problem ist m. E. jedoch weniger die mangelnde Überprüfbarkeit bestimmter Kompetenzen als vielmehr die alleinige Orientierung am Kompetenzparadigma, die für den Fremdsprachenunterricht, so er denn als Teil einer „humanistisch orientierten Allgemeinbildung“ zu verstehen ist, nichts weniger als eine Bankrotterklärung und möglicherweise sogar eine reale Gefahr bedeutet. Denn wozu soll man eigentlich wirklich eine zweite Fremdsprache neben dem Englischen lernen, wenn Sprache weitgehend entkulturalisiert und auf ihre kommunikative Dimension reduziert wird? Zwar ist viel die Rede vom dezidierten Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit der europäischen Institutionen, die Realität jedoch sieht anders aus: Die unangefochtene globale Verkehrssprache ist Englisch, um international handlungsfähig zu sein, benötigt man kaum eine weitere Sprache, auch auf europäischer Ebene gilt vielfach und zunehmend das Prinzip „English only21. Allenfalls könnte man darüber hinaus noch motiviert sein, sich eventuell rudimentäre Spanischkenntnisse anzueignen – Spanisch gewissermaßen als Sprache einer globalisierten Freizeit- und Unterhaltungsindustrie für den Urlaub und das Mitträllern von Popsongs – warum aber sollte man, so man nicht ein spezifisch-persönliches Interesse daran hat, eine andere Sprache – z. B. Französisch – lernen? Um über die Vor- und Nachteile von Fast Food oder Sport und Freizeit auf Französisch zu reden?

Dass eine alleinige Kompetenzorientierung kaum mit einem Konzept von (humanistischer) Bildung vereinbar ist, liegt auf der Hand und wurde von Kritikern bereits vielfach moniert.22 Aber auch in dem Positionspapier der DGFF kommen die Autoren, wiewohl sie der Ansicht sind, dass Kompetenzorientierung und das Anstreben von Bildungszielen im Fremdsprachenunterricht sich nicht ausschließen müssten, u. a. zu dem Ergebnis, dass eine „Diskussion über geeignete – bildungsrelevante – Inhalte für den Fremdsprachenunterricht“23 stattfinden müsse.

Einen solchen Versuch, interkulturelle Kompetenz sowie Reflexions- und Sprachlernkompetenz systematisch in den Fremdsprachenerwerbsprozess einzubeziehen, stellt der erstmals 2007 vom Europäischen Fremdsprachenzentrum des Europarats in Graz herausgegebene Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (REPA) dar. Damit sollen nun genau jene Defizite, die der GER im Bereich der nicht messbaren ‚weichen‘ Kompetenzen hat, ausgeglichen werden. Im REPA wird konsequent ein weit gefasster Kompetenzbegriff verfolgt, der sich aus dem Zusammenspiel von Wissen, Einstellungen und Haltungen sowie Fertigkeiten ergibt. Diese Elemente werden als „Ressourcen“ bezeichnet, die wiederum mit Hilfe von „Deskriptoren“ beschrieben werden. Das Ergebnis ist ein über hundertseitiges Instrumentarium, das versucht, sämtliche Aspekte, die beim Sprachenlernen zusammenwirken, zu bündeln.24 Daran wird auf durchaus eindrucksvolle Weise ersichtlich, was und wieviel zusammenkommt, wenn man das Erlernen von Sprachen in seiner Pluralität und Komplexität betrachtet. Aber auch hier bleibt das Kompetenzparadigma das Maß aller Dinge: Sprachenlernen soll „operationalisierbar“ werden, die REPA-Deskriptoren liefern „Kriterien für den Prozess des Unterrichts, der zur Qualität des Produkts führt“, der REPA versteht sich als „Hilfsmittel bei der Erstellung kompetenzorientierter Aufgaben sowie als Werkzeug der Qualitätsentwicklung“.25

Auch damit ist also kein Schlüssel gefunden, um das Kompetenzparadigma mit einem Konzept von humanistischer Bildung zu versöhnen. Viel eher ist es der Versuch, quasi sämtliche Implikationen und Bezugnahmen, die im sprachlichen Handeln auftreten können, als Kompetenz zu beschreiben. Wenn sich aber der Diskurs über Sprache, so wie es derzeit geschieht, vollständig den Vorgaben und der Terminologie des Ökonomischen unterwirft, bleiben Sprache und ihre Inhalte letztlich rein funktionalistisch und ziel- bzw. produktorientiert.

Meinem Verständnis nach müssten tatsächlich bildende Inhalte jedoch gerade der Skalierung und Beschreibung im Rahmen von Kompetenzmodellen entzogen werden, um so wenigstens partiell dem „Verwertungs- und Praxiszwang“26 zu entgehen. Auf diese Weise würde für die dominierende empirische Bildungsforschung zwar ein ‚blinder Fleck‘ entstehen, der jedoch notwendig wäre, um humanistische Bildung zu ermöglichen. Bildende Inhalte könnten sodann dem Kompetenzbegriff ein Anderes entgegensetzen, das sich nicht vereinnahmen ließe, dafür aber sämtliche Kompetenzen in einem größeren Ganzen verankern und reflektieren vermöchte.

4. Kompetenzen statt Bildung: Bericht aus der schulischen Praxis27

In der (sprachlichen) Reflexion über Sprache wird sinnfällig, dass Sprache und Denken nicht voneinander zu trennen sind. Selbst Menschen mit fortgeschrittenem Sprachniveau sind bei der Benutzung einer Fremdsprache in ihrem Ausdrucksvermögen eingeschränkt. Um kompliziertere Sachverhalte zu artikulieren, bleibt oft nur der mühsame Umweg über die Übersetzung, was jedoch im Rahmen von mündlicher Kommunikation ein eher untaugliches Mittel ist. Eine andere effektive Möglichkeit zur Steigerung der eigenen Ausdrucksfähigkeit besteht darin, sich an vorgegebenen Inhalten quasi sprachlich entlangzuhanteln bzw. sich mit Inhalten so eingehend auseinanderzusetzen, dass über diese sodann gesprochen werden kann. Auf einer profunden Wissensbasis kann es nämlich gelingen, auch Sachverhalte sprachlich zu realisieren, die über dem eigentlichen Sprachniveau liegen. Diesen Mechanismus machte man sich in Österreich bei der Matura über viele Jahre zunutze.

Die Verknüpfung von Sprache mit Inhalten erhöht jedoch nicht nur die Sprechkompetenz. Sie ermöglicht darüber hinaus die Verankerung des fremdsprachlichen Unterrichts in einem Konzept von Allgemeinbildung. Denn: Auch wenn internationale Sprachzertifikate ausschließlich dem Modell der Kompetenzniveaus folgen, muss doch die Frage zulässig sein, ob ein Fach wie Französisch (bzw. eine Fremdsprache) im Gesamtzusammenhang gymnasialer Bildung nicht auch noch ganz andere, zusätzliche Aufgaben – seien sie persönlichkeitsbildender, ethischer, kultureller oder humanistischer Natur – zu übernehmen hätte, und zwar nicht nur am Rande und falls Zeit bleibt, sondern im Kern.

Wie bereits erwähnt, fußte die bisherige mündliche Matura auf der Wahl eines Spezialgebiets, auf das sich die Schüler mit Unterstützung des Lehrers individuell vorbereiteten und deren Inhalte sie sich aneigneten. In meinem konkreten Fall betraf dies im letzten Jahr folgende Themen: Frankreich während der Occupation am Beispiel des Filmes La nouvelle guerre des boutons; Les Misérables von Victor Hugo; Tahar Ben Jelloun: Le racisme expliqué à ma fille; Camille Claudel. Diese vier Themen wurden von meinen Maturantinnen gewählt und mit Hilfe von Primär- und Sekundärliteratur, aber auch mit Hilfe von vereinfachten Textausgaben oder pädagogisch bearbeiteten Texten aufbereitet. Das schriftliche Dossier wurde von mir korrigiert und mit Anmerkungen sowie weiterführenden Hinweisen versehen. In den Wochen vor der mündlichen Prüfung wurde im Rahmen der vorgesehenen Vorbereitungsstunden jedes Thema in Form eines Referates durchbesprochen und gemeinsam diskutiert. Bei der mündlichen Prüfung konnte sich jede Schülerin auf die Frage zu ihrem Spezialgebiet so weit verlassen, dass das Thema bekannt und vorbereitet war, es aber auf Zwischenfragen und/oder Nuancierungen in der Fragestellung spontan zu reagieren galt.

Immer wieder wurde gegen diese Form der Prüfung eingewandt, dass es sich dabei weniger um die Demonstration von mündlicher Sprachkompetenz als vielmehr um Auswendiglernen handeln würde. Aus meiner Erfahrung kann ich darauf nur antworten: Weder noch. Es stimmt, dass diese Prüfung nicht wirklich die tatsächliche mündliche Sprachkompetenz abtestet, zumindest nicht in der Weise, wie es einer „objektiven“ Kompetenzmessung entspricht. Dass es sich dabei jedoch um Auswendiglernen gehandelt hätte, ist ebensowenig der Fall. Vorbereitetes Sprechen ist nicht mit wortwörtlicher Wiedergabe deckungsgleich. Geht es bei Ersterem um inhaltliches Wissen, das zwar immer schon sprachlich verfasst erscheint, aber in jedem Fall situationsadäquat wiedergegeben, angewendet und kombiniert werden muss, würde Zweiteres ein unreflektiertes Eins-zu-eins-Abspulen vorgefertigter Inhalte bedeuten. Ausschließlich Ersteres spielte eine Rolle bei den vier Prüfungen, die ich im letzten Jahr abnahm.

In diesem Jahr wurde die mündliche Matura erstmals nach dem neuen Format durchgeführt. Dafür mussten zu jedem der achtzehn Themenbereiche kompetenzorientierte Aufgabenstellungen vorbereitet werden. Das heißt, jede Frage musste drei Teile aufweisen, eine Reproduktions-, eine Transfer- und eine Reflexionsleistung. Der Impuls, um über ein Thema zu sprechen, hatte von Bildern auszugehen, die Integration von Texten oder auch nur kurzen Zitaten, Aphorismen o. ä. war nicht vorgesehen. Im Anschluss an den monologischen Teil der Prüfung, der für das Niveau B1 vier Minuten zu umfassen hatte, wurde in weiteren fünf Minuten das dialogische Sprechvermögen überprüft. Dafür musste ein Dialog mit einem weiteren Gesprächsteilnehmer (Lehrer oder gegebenenfalls ein anderer Schüler) zu dem gleichen Thema nach genau geregelten Vorgaben geführt werden. Auf diese Weise (und mit Hilfe des weiter oben bereits erwähnten Beurteilungsbogens) sollte die mündliche Kompetenz in ihrer offenbar „reinen“ Ausprägung, objektiv und vergleichbar gemessen werden.

Worin liegt nun der Vorteil des neuen Prüfungsformates? Es misst wohl tatsächlich, wenn man so will, die mündliche Sprachkompetenz, losgelöst von Wissen oder anderen kulturellen Inhalten, unabhängig von gelesenen oder gehörten Informationstexten oder anderen sprachlich verfassten Beigaben. Thematisch muss sich eine solche Kompetenzmessung auf die vorgegebenen allgemeinen Bereiche beschränken, jedwede inhaltliche Vorbereitung erübrigt sich ebenso wie die theoretische Möglichkeit des Auswendiglernens. Mit diesen wenigen Vorteilen gehen allerdings gravierende und weitreichende Nachteile einher, die ich abschließend thesenartig anführen möchte.

  1. Ausschließliche Kompetenzorientierung führt zu einer massiven Verflachung der Inhalte: Selbst Schülern mit gutem Leistungsniveau gelingt es aufgrund der wenigen und ausschließlich bildlich-klischeehaften Sprechimpulse nicht, auf tiefergehende Inhalte zurückzugreifen, auch wenn diese eigentlich bekannt sein müssten. Statt Wissen abzurufen beschränken sich auch diese Schüler in der Prüfungssituation auf eine mehr oder weniger inhaltslose, sprachlich jedoch mit zahlreichen Wendungen und Floskeln durchsetzte Sprache, die gänzlich im Bereich des inhaltlich Beliebigen bleibt. Möglicherweise ist hierfür auch bereits das vermehrte Training der Teilkompetenzen im Unterricht mitverantwortlich. Konzentration und Nervosität in einer Prüfungssituation gehen jedenfalls notgedrungen mit der Fokussierung auf Eingeübtes einher und verunmöglichen den allermeisten Schülern ein weitergehendes selbstständiges Verknüpfen und Vernetzen. Gerade deshalb ist es nicht egal, welche Inhalte im Unterricht gelernt wurden und für die Prüfung relevant sind.

  2. Ausschließliche Kompetenzorientierung entkulturalisiert Sprache: Egal, ob es sich um Prüfungen aus dem Fach Englisch oder dem Fach Französisch gehandelt hat, die Themen und die besprochenen Inhalte waren die gleichen, mit dem einzigen Unterschied des unterschiedlichen Niveaus (B2 bzw. B1) und der größeren möglichen Anzahl thematischer Bereiche (24 bzw. 18) im Englischen. Darüber hinaus aber hatte die gewählte Sprache kaum eine Auswirkung auf die Inhalte. Sämtliche kultur- oder landesspezifischen Fragestellungen waren von vornherein nicht vorgesehen, bis auf ganz wenige Reste interkultureller Inhalte, beispielsweise die Frage nach dem typischen Essen in Frankreich, gab es keine Spezifika zu beobachten. Mit der Vorgabe, die Themenbereiche hätten aus der Erfahrungswelt der Schüler zu stammen, wird so einerseits verordnet, was und welche Themen den Schülern bekannt und vertraut zu sein haben, und andererseits wird die Sprache, die abgetestet wird, durch die Ausklammerung von Texten von der jeweiligen Kultur vollkommen willkürlich abgetrennt.28 Vergleichbar wird folglich das Sprachniveau über verschiedene Einzelsprachen hinweg, sämtliche Inhalte, die eine Einzelsprache ausmachen und individualisieren – Geschichte, Literatur, Landes- und Kulturkunde im weitesten Sinn – fallen hingegen weg. Übrig bleibt eine Sprachhülle, die mit dem gefüllt ist, was – so die präskriptive Annahme – den Alltag von Schülern zu prägen hat.

  3. Ausschließliche Kompetenzorientierung bedeutet Entpoetisierung und damit auch Entpolitisierung von Sprache: Anknüpfend an den Mechanismus der Entkulturalisierung wird sowohl durch die vorgegebenen Themenbereiche, mehr aber noch durch die kompetenzorientierte Form der Prüfung – d. h. die Messung von Teilkompetenzen und der damit einhergehenden Ausklammerung von (literarischen) Texten – jede Sprache ihrer eigenen Möglichkeiten der Sprachkritik, des Sprachspiels, der Mehrdeutigkeit, der Nuancierung, der Ironie, der Poesie etc. beraubt. Auf diese Weise wird Sprache zu einem eindimensionalen Konstrukt, das auf Fragen einer komplexen und widersprüchlichen Wirklichkeit kaum Bezug nehmen kann und vom Sprecher keinerlei Haltung einfordert. Konsequenterweise müssen Verstörendes und Fremdes, aber auch das Imaginäre und Phantastische, kurz: sämtliche Möglichkeitswelten ausgespart werden. Klischeehaft Verfestigtes aus der eigenen Erfahrungswelt, Alltäglich-Belangloses tritt an seine Stelle.

5. Fazit

Die Vermittlung von Sprache im Fremdsprachenunterricht läuft Gefahr zu einer weitgehend inhaltslosen, entkulturalisierten und entpolitisierten Angelegenheit zu werden, die sich in der bloßen Performance von Schreib-, Hör-, Lese- und Sprechkompetenz (mit interkulturellen Einsprengseln) erschöpft. Die österreichische Matura in ihrer neuen Form beraubt die Fremdsprachen fast sämtlicher Inhalte und trennt dadurch die Fremdsprachenfächer sowohl von den anderen Schulfächern als auch vom Anspruch auf Allgemeinbildung ab. Einzig den einzelnen (Fremd-)Sprachen untereinander bleiben Anknüpfungsmöglichkeiten. Die AHS mit ihrer Reifeprüfung agiert diesbezüglich wie eine beliebige Sprachschule, die verschiedene Sprachzertifikate verleiht, ohne diese in einem größeren Bildungskontext zu positionieren. Für den künftigen Fremdsprachenunterricht eröffnen sich demzufolge drei Szenarien:

  1. Man akzeptiert die derzeit betriebene ausschließliche Kompetenzorientierung in den Fremdsprachen und gibt sich damit zufrieden, dass Schüler in einer Sprache vor allem handlungsfähig werden. Den bescheidenen Anteil, den solcherart zugerichtete Sprachen zur Allgemeinbildung beitragen, nimmt man in Kauf.

  2. Inhalte aus dem Unterricht dürfen/müssen sich (wieder) im finalen Examen widerspiegeln. In diesem Fall könnten bildende Inhalte zu einem tatsächlichen und für sich stehenden Lernziel werden, das den Erwerb sprachlich-funktioneller Fertigkeiten sinnvoll ergänzen könnte und Sprache an Kultur und darüber hinaus an unsere Welt rückbinden würde.

  3. Man überträgt den Lehrern die Verantwortung, den Schülern über die reine Kompetenzorientierung hinaus auch noch bildende Inhalte zu vermitteln. Dieser (typisch österreichische?) Weg impliziert, dass Fremdsprachen mit inhaltlich-bildendem Anspruch unterrichtet werden können – aber auch ohne. Es ist Sache des Lehrers bzw. der Lehrerin, ob es ihm bzw. ihr gelingt, die Schüler von der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit nicht-maturarelevanter humanistisch orientierter Bildungsinhalte zu überzeugen. Wie er oder sie die Anforderungen des zu erreichenden Sprachniveaus inklusive aller vorgegebenen Themenbereiche mit dem Anspruch auf Bildung vereinbart, bleibt ungelöst. Manchen Lehrern wird es gelingen, anderen nicht, viele werden es gar nicht versuchen.

In jedem Fall aber, damit die Vermittlung von Inhalten überhaupt zur Sache des bzw. der Lehrerin werden könnte, bedürfte es einer Lehrerschaft, die zumindest während ihres Studiums an der Universität erfahren hätte, welche Inhalte ein Fach wie Französisch jenseits der Kompetenz-, Praxis- und Didaktikorientierung überhaupt aufweisen könnte. Wer vor seiner Tätigkeit in der Schule nicht gelernt hat, was Sprache im vollen Umfang sein kann, wie sich die Literaturgeschichte einer Kultur darstellt, warum es sinnvoll, ja notwendig ist, sich mit Literatur und anderen interkulturellen Inhalten zu beschäftigen, was Liebe zur Sprache und zum Land bedeutet, kurz: wer kein philologisches Studium durchlaufen hat, der hat der funktionellen Zurichtung von Sprache und ihrer Aufdröselung in Kompetenzen wohl kaum etwas entgegenzusetzen.

Natürlich lassen sich auch in die beste aller schulischen Welten literatur-, kultur- oder sprachwissenschaftliche Inhalte nicht einfach übertragen. Aber es ist eine Binsenweisheit, dass eine Lehrperson selbst viel mehr wissen, können und sein muss, als sie je vermitteln kann, damit sie überhaupt etwas davon vermitteln wird. Ob ein künftiges Lehramtsstudium mit „allgemein bildungswissenschaftlichen Grundlagen“ und einem darauf aufbauenden Fachstudium mit mindestens zwanzigprozentigem Fachdidaktikanteil allerdings jene Form der „Professionalisierung“ hervorbringen wird, die vonnöten wäre, um Sprache und Kultur (wieder) als Einheit zu denken und der es gelänge, über den schulisch verwertbaren Horizont hinauszuweisen, bleibt abzuwarten.29 Sehr wahrscheinlich ist es nicht.

Ich danke den Peer Reviewern für die Rückmeldungen zum Artikel. Der Beitrag spiegelt eine schulische Sichtweise wider und verfolgt das Ziel, über bildungspolitische Maßnahmen und die Auswirkungen von Bildungsreformen zu diskutieren. Für die Fremdsprachendidaktik kann ein solche Herangehensweise bestenfalls indirekt Impulse liefern. Mein Dank gilt Wolfram Aichinger von der Universität Wien, dessen Beitrag Zur Abschaffung der Literatur an Schule und Universität, Romanische Studien 2 (2015): 261–70, http://www.romanischestudien.de/index.php/rst/article/view/28, diesen Artikel angeregt und einen regen Gedankenaustausch nach sich gezogen hat.


  1. In Österreich lautet die offizielle Bezeichnung für diesen Schultyp „Allgemeinbildende Höhere Schule“ (AHS). Er umfasst zumeist eine vierjährige Unterstufe (= Sekundarstufe I) sowie eine vierjährige Oberstufe (= Sekundarstufe II). Französisch wird üblicherweise als zweite lebende Fremdsprache, in manchen Fällen über sechs Jahre, häufiger nur in der Oberstufe, d. h. über vier Jahre gelehrt. Das Gymnasium, in dem ich unterrichte und das als Beispiel für die Ausführungen in diesem Artikel dient, ist ein Wirtschaftskundliches Realgymnasium (WRG). Französisch wird dort wahlweise neben Latein und Spanisch ausschließlich in der Oberstufe angeboten. Das WRG schließt wie jede AHS mit der Reifeprüfung, die in Österreich „Matura“ genannt wird, ab. Um die seit 2015 verbindliche – kompetenzorientierte – Form des Examens von der bisherigen Matura abzugrenzen, wird nunmehr verstärkt von „Neuer Reifeprüfung“ gesprochen. Der in Österreich stark nachgefragte Schultyp der „Berufsbildenden Mittleren und Höheren Schulen“ (BMHS) bleibt in diesem Artikel unberücksichtigt. Zum Bildungswesen in Österreich siehe die Internetseite des Bundesministeriums für Bildung und Frauen (BMBF): https://www.bmbf.gv.at/schulen/bw/index.html.

  2. Hinzu kommt als drittes Element (bzw. „erste Säule“) der neuen Reifeprüfung die so genannte „vorwissenschaftliche Arbeit“ (VWA). Zu den drei Säulen, auf denen die neue Reifeprüfung basiert, siehe: https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/ba/reifepruefung.html.

  3. https://www.bifie.at/srdp.

  4. Der vorliegende Artikel erhebt nicht den Anspruch, einen theoretischen Beitrag zum Diskurs der Kompetenzorientierung in der Fremdsprachendidaktik zu leisten. Es geht lediglich darum, die konkreten Auswirkungen der Kompetenzorientierung in der schulischen Praxis sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck sei auf die Definition des Begriffs „Kompetenzen“ nach Franz Weinert verwiesen, auf die sich die österreichische Bildungsreform gemeinhin beruft. Demzufolge sind Kompetenzen „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösung in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ Siehe dazu beispielsweise den Eintrag auf der Internetseite des Ministeriums: https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/ba/reifepruefung.html#heading_Was_sind_Kompetenzen_. Für eine weiterführende Begriffsdiskussion sowie speziell zur Kompetenzorientierung im Französischunterricht vgl. u. a. Daniela Caspari, „Kompetenzorientierter Französischunterricht. Zentrale Prinzipien und ihre Konsequenzen für die Planung von Unterricht“, französisch heute 40, Nr. 2 (2009): 73–8; Eynar Leupold, „Kompetenzorientiert Französisch lehren und lernen – und alles bleibt beim Alten?“, französisch heute 41, Nr. 2 (2010): 57–62; Barbara Schmenk, „Mode, Mythos, Möglichkeiten: das Lernziel kommunikative Kompetenz heute“, Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 16, Nr. 1 (2005): 57–87; Michael Legutke, Hrsg., Kommunikative Kompetenz als fremdsprachendidaktische Vision (Tübingen: Narr, 2008).

  5. Das Beispiel stammt aus dem Jahr 2014 und bezieht sich wieder auf das WRG Salzburg.

  6. Die Materialien sind kurz nach dem jeweiligen Prüfungstermin alle auf der Homepage des bifie frei zugänglich: https://www.bifie.at/downloads?schulfach[]=92.

  7. Die im Fachleitfaden für die lebenden Fremdsprachen empfohlenen Themengebiete beziehen sich ebenfalls auf den GER, für das Niveau B1 etwa werden 18 Bereiche angeführt, von 1. Familie und Freunde, 2. Wohnen und Umgebung, 3. Essen und Trinken bis 16. Medien und Kommunikation, 17. Natur, 18. Moderne Technologien. Siehe hierzu: https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/ba/reifepruefung_ahs_lflfsp.pdf?4nwt85.

  8. Die alten Lehrpläne aus dem Jahr 1989 sind auf der Homepage des Ministeriums zugänglich. Der Lehrplan Französisch 2 findet sich unter: https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/lp/franzoesisch2_ost.pdf?4vvwn3.

  9. Die einzelnen Fachlehrpläne regeln neben der „Bildungs- und Lehraufgabe“ (d. h. Selbstverständnis des Gegenstandes, Hauptziele) und den „Didaktischen Grundsätzen“ vor allem den Lehrstoff. Sämtliche gültigen Lehrpläne für die AHS-Oberstufe finden sich unter: https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/lp/lp_ahs_oberstufe.html.

  10. Lehrplan Lebende Fremdsprache (Erste, Zweite), 2. Der Lehrplan findet sich auf der Homepage des Ministeriums unter: https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/lp/lp_ahs_os_lebende_fs_11854.pdf?4dzgm2. Dagegen bildet die Beherrschung sprachlicher Grundfertigkeiten im alten Lehrplan (1989) nur eines von vier gleichrangig angeführten Zielen (siehe: Lehrplan Französisch 2, 1).

  11. https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/lp/lp_ahs_oberstufe.html.

  12. Adelheid Hu, „Überlegungen zum Kompetenzbegriff in der Fremdsprachendidaktik“ (o. J.): 1–7, hier 1–2, http://www.uni-saarland.de/fileadmin/user_upload/Einrichtungen/zfl/PDF_Fachdidaktik/PDF_Kolloquium_FD/Kompetenzbegriff_in_der_Fremdsprachendidaktik_Statement.pdf.

  13. Vgl. die entsprechenden Formulierungen zum Punkt „Lehrstoff“ im aktuell gültigen Lehrplan (2004) und im alten Lehrplan (1989). Im neuen Lehrplan heißt es: „Hier wird in verbindlichen Vorgaben formuliert, welche Lernziele die Schüler/innen erreichen sollen. Die zeitliche Gewichtung und die konkrete Umsetzung der Vorgaben obliegen den Lehrkräften.“ Im alten Lehrplan hingegen steht: „geteilt […] nach Lernzielen (was die Schüler/innen erreichen sollen) und Lerninhalten (Aufzählung möglicher Inhalte, aus denen die Lehrkräfte auswählen und die sie gewichten sollen)“.

  14. Ein Überblick über die aktuell angewandten Testformate im schriftlichen Bereich findet sich unter: https://www.bifie.at/system/files/dl/srdp_lfs_testformate_14-15_ahs_2014-11-20.pdf. Die Unterlagen zur Beurteilung der Kompetenzen im mündlichen Bereich können unter https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/ba/reifepruefung_ahs_lflfspub_24029.pdf?4k21fm eingesehen werden.

  15. Vgl. hierzu die Ausführungen auf die Frage „Was sind Kompetenzen“ auf der Homepage des Ministeriums unter: https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/ba/reifepruefung.html#heading_Was_sind_Kompetenzen_.

  16. Hu, „Überlegungen zum Kompetenzbegriff“, 2.

  17. Vgl. „Kompetenzorientierung, Bildungsstandards und fremdsprachliches Lernen – Herausforderungen an die Fremdsprachenforschung“, Positionspapier von Vorstand und Beirat der DGFF (Oktober 2008), 12, http://www.dgff.de/fileadmin/user_upload/dokumente/Sonstiges/Kompetenzpapier_DGFF.pdf.

  18. „Kompetenzorientierung“, 12.

  19. Hu, „Überlegungen zum Kompetenzbegriff“, 2.

  20. Einen kurzen und subjektiven Erfahrungsbericht über die mündlichen Prüfungen im Fach Englisch habe ich in dem Blog hingehört & draufg(e)schaut … und nachgedacht veröffentlicht: https://draufgschaut.wordpress.com/2015/06/27/das-ende-schulischer-bildung-ein-abgesang-auf-die-englischmatura/.

  21. Der Ausdruck verweist auf einen Artikel des Salzburger Romanisten Hans Goebl, der sich mehrfach kritisch zur Anglisierung der Wissenschaften geäußert hat. Vgl. Hans Goebl, „‚English only‘: nichts als Probleme“, in Quo vadis Romania 40 (2012): 22–38.

  22. Vgl. Konrad Paul Liessmann, Geisterstunde: die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift (Wien: Zsolnay, 2014), oder Jochen Krautz, „Kompetenzen machen unmündig“, hrsg. v. Fachgruppe Grundschulen, GEW Berlin, (Juni 22015), http://www.gew-berlin.de/public/media/20150622_streit1-kompetenzen.pdf.

  23. „Kompetenzorientierung“, 13.

  24. http://archive.ecml.at/mtp2/publications/c4_Repa_090724_IDT.pdf.

  25. Franz-Joseph Meißner, „Die REPA-Deskriptoren der ‚weichen‘ Kompetenzen – eine praktische Handreichung für den kompetenzorientierten Unterricht zur Förderung von Sprachlernkompetenz, interkulturellem Lernen und Mehrsprachigkeit“ (2013), 1–58, hier 2–3, http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/fb05/romanistik/institut/personal/profs/emeritus/meissner/externe-veranstaltungen/RUB/REPA-Kurzform.

  26. Liessmann, Geisterstunde, 10.

  27. Die folgenden Ausführungen beschränken sich der Übersichtlichkeit halber auf die mündliche Reifeprüfung.

  28. Zweifellos prägt Kultur auch den Wortschatz einer Sprache. Demzufolge ist auch ein einfaches Gespräch über Freizeitaktivitäten oder Wohnformen immer schon bis zu einem gewissen Grad kulturell vorgeformt. Durch die bewusste Ausklammerung von Inhalten aber wird die Verbindung zum kulturellen Gedächntis einer Sprache – das sich insbesondere in Texten materialisiert – durchtrennt.

  29. Vgl. Barbara Hinger, „LehrerInnenbildung Neu aus der Sicht der Romanistik“, in Quo vadis Romania? 44 (2014–15), 17–38, hier 19–20. Zum Thema der Neukonzeption der Lehrerausbildung in Österreich aus der Perspektive der romanistischen Sprachwissenschaft und sprachwissenschaftlich ausgerichteten Fachdidaktik siehe auch die gesamte Ausgabe 44 der Zeitschrift Quo vadis Romania mit dem Titel: PädagogInnenbildung Neu: Auf dem Weg zu Professionalisierung und Kompetenzorientierung?.





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