Nachwirkungen des italienischen Kriegstraumas 1915 – 1918: Besprechung des Themenhefts Zibaldone 57

Brigitte Sertl

„Der Erste Weltkrieg: Kultur und Krieg in Italien“, Zibaldone: Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart 57 (Frühjahr 2014), hrsg. von Thomas Brehmer (Tübingen: Stauffenburg, 2014), 153 S.

Europa besinnt sich seit 2014 aus gegebenem Anlass auf den Ersten Weltkrieg und befragt sich, auf verschiedenste Weisen, zum seither zurückgelegten Weg. Nur billig, dass dies auch, mit Blick auf Italien, in Zibaldone geschieht. Wie hat dieser Krieg – so der Denkanstoß im Vorwort des Herausgebers – „die kulturelle Selbstwahrnehmung Italiens in Literatur, Musik, Sport, Film, Propaganda beeinflusst und verändert, welchen Einfluss hat er auf die kulturellen Beziehungen zwischen Italien und Deutschland bzw. Österreich gehabt?“ (7). Vorweg ist jedoch einzuräumen, dass die neun Hauptbeiträge dieses Bandes, die gewiss durchweg aufschlussreich und lesenswert sind, nur sehr bedingt auf diese Fragestellung antworten, die doch vor allem auf langfristige Nachwirkungen und eine nachträgliche, auch zeitlich versetzte, Aufarbeitung dieser traumatischen Erfahrung durch die italienische Gesellschaft abstellt. Mit Ausnahme von Daniel Syrovys Artikel über die italienische Literatur zum Ersten Weltkrieg1, der eine umfassend recherchierte Bestandsaufnahme der (nicht nur von italienischer Hand verfassten) vorhandenen Zeugnisse der auf den Krieg folgenden Jahrzehnte liefert und dabei trotz der schwierigen Produktionsbedingungen während des „Ventennio“ Beachtliches zu Tage fördert („In einem solchen Umfeld dennoch ein solches Spektrum an Texten vorzufinden, die dem Krieg, nicht ohne Furcht, entgegentreten, erscheint letzten Endes beinah wie ein Wunder“, so Syrovy, 41), befassen sich die Autoren größtenteils mit kulturellen Gegebenheiten, Initiativen und Tendenzen, die im Vorfeld bzw. im unmittelbaren Kontext des Krieges selbst anzusiedeln sind.

Lucia Mor eröffnet die Galerie der Darstellungen mit einem Überblick über das vierzehnjährige Bestehen (von 1900 bis 1914) des bis dato wohl kaum bekannten Boten vom Gardasee. Die guten Absichten der Herausgeber dieses Blattes werden deutlich, ebenso wie ihre beständige Auseinandersetzung (offenbar jedoch unter Vermeidung konkreter inhaltlicher Bezüge) mit der – ihrer Ansicht nach a priori unbegründeten – Angst der Italiener vor einer Germanisierung dieses damals schon bei Deutschen und Österreichern beliebten Erholungsgebiets. Im Hinblick auf die eingangs erwähnten (inter)kulturellen Beziehungen wäre es jedoch spannend, ggf. an Hand einschlägiger Beispiele zu erkunden, ob dieses durchaus innovative Organ es sich, auch über praktische Handreichungen und Veranstaltungshinweise hinaus, zur Aufgabe machte, seiner deutschsprachigen Leserschaft die Kultur ihres Urlaubslandes nahe zu bringen, ja womöglich – in Bezug auf ein gewiss begrenztes, doch vorhandenes italienisches Publikum vor Ort – im Ansatz auch eine Vermittlung im umgekehrten Sinn zu leisten.

Vier der sieben folgenden Beiträge (von Fernando Esposito, Daniel Winkler, Elisabeth Tiller und Sergio Giuntini) befassen sich unter dem einen oder anderen Aspekt (ausgehend von D’Annunzios kriegsseligem „Erlösungstheologem“2 über futuristische Körperästhetik zu zeitgenössischen Männlichkeitsprojektionen und deren Verlängerung im Film und im Sport) mit dem Futurismus. Diesem Themenblock vorausgeschickt ist Eva-Maria Meinekes und Gesa zur Niedens Artikel zu Kunst und Krieg bei Alberto Savinio (alias Andrea De Chirico)3, mit der Erörterung von Ideenmaterial, formalen Gestaltungselementen und persönlicher Aufführungspraxis seiner Chants de la mi-mort. Freilich eher der damaligen internationalen Avantgarde als einer spezifisch italienischen zuzuordnen, ist Savinio trotz seiner Überzeugung, mit seinem poetisch-musikalischen Werk aus surrealistisch-eklektischen Anleihen bei verschiedensten Mythen, Kulturen, Sprachen, Symbolen und Gestaltungsmitteln (bis hin zu nur optisch in der Partitur präsenten, klanglich nicht wahrnehmbaren Ausdrucksmitteln) eine „symbolische, konkrete, universell verständliche Sprache“ (29) erschaffen zu haben, seinerseits ein recht problematischer Gegenpol zur delirösen Rausch-Rhetorik des Futurismus. Selbst die Verfasserinnen dieses Artikels gelangen bei der Aufschlüsselung der „uneinnehmbaren Bastion“ (29) der Chants bisweilen an die Grenzen des sprachlich Nachvollziehbaren und beobachten am Ende ihrerseits Formen der Aporie, die sich aus der Tatsache ergeben, dass „in Savinios Projekt die Medien selbst in Konflikt miteinander [geraten], als würden sie […] in ihrer eigenen Medialität und Materialität […] gegeneinander arbeiten“ (30).

Da sich im Folgenden – wie erwähnt – eine Reihe von Betrachtungen zu den unterschiedlichen Spielarten der mystifizierend-mythifizierenden, verbalen und ideologischen Aufrüstung futuristischer Prägung anschließen, stellt sich vor diesem Hintergrund beim Leser nachgerade der Eindruck ein, dass die intellektuelle Elite der Vorkriegs- und Kriegszeit tatsächlich wenig zu bieten hatte, was sich als annähernd „konkretes, universell verständliches“ Paradigma (um Savinios eigene Worte hier wieder aufzunehmen) für Ausdruck und Bewertung des wirklichen Geschehens angeboten hätte. Man muss vorausgreifen auf den letzten der wissenschaftlichen Beiträge dieses Bandes, nämlich auf Daniella Rossinis Untersuchungen zum „Mythos Amerika“4, um auf eine Reihe (freilich in Wahrheit nicht weniger ideologisch motivierter) Verständigungsmittel zu stoßen, deren unmittelbare Wirksamkeit vor solchem Hintergrund förmlich greifbar wird. Mit den breit gestreuten Aktionen und großzügig gewährten Spenden des amerikanischen Roten Kreuzes (ARC), des Committee on Public Information (CPI) und des YMCA, mit denen die amerikanische Propaganda auch entlegene Gebiete Italiens erreichte und kriegsbedingte Notlagen auf pragmatische Weise zu entschärfen trachtete, vermittelte sie ganz ohne abgehobene Rhetorik „das mythische Bild eines reichen, demokratischen und den Bedürfnissen der einfachen Menschen zugewandten Landes“ (112). Neben den finanziellen Hilfen des ARC sind Konsumgüter in der Gestalt von Postkarten oder Briefpapier, Zigaretten, Phonographen, Spielwaren, Filmvorführungen u. v. m. an Evidenz gewiss kaum zu überbieten! Wie prägend sich diese Erfahrungen in Italien, wo der Boden für einen solchen Mythos bereits durch die vorherigen Auswanderergenerationen „gut gepflügt“ (113) war, auch noch jenseits von Faschismus und Zweitem Weltkrieg erwiesen haben mögen, ist eine jener Fragen, die sich beim Lesen dieses Bandes für weiteres Nachdenken formulieren.

Eine weitere solcher Fragen drängt sich auf in Bezug auf die zunächst nur zusammenfassend erwähnten Abhandlungen, die sich in der einen oder anderen Form der Kriegs- und Männlichkeitsverherrlichung in ihrer spezifisch italienischen (vorrangig futuristischen) Form widmen. Nach all der fiebrigen, quasi-religiösen Heiligung des Helden(opfers), nach allem Schwelgen in Kriegsverherrlichung und „Verachtung des Weibes“ (futuristisches Manifest, zit. 78)5, nach allem hypnotischen Kult um gewalttätige Virilität, um den „Vorwärtsdrang des Mannes“ und seine „Flucht aus dem Menschlichen“ (Marinetti, zit. 82): Wann – so die Frage –, wenn schon nicht im Klima der bereitwilligen Fortschreibung solch konfus-mythisierender Topoi durch den Faschismus (vgl. hierzu Sergio Giuntini, 936), werden in Italien jemals diese Gender-Projektionen, die im Ersten Weltkrieg ihre Apotheose erleben, auf gesellschaftlicher oder intellektueller Ebene enthysterisiert, wenn nicht dekonstruiert? In Strängen der deutschen Literatur findet Nietzsches „Übermensch“ immerhin zum desillusionierten Gegenstück, dem „Untertan“; die italienische Volkskultur – diese Vermutung liegt nach der Lektüre von Daniel Winklers Aufsatz „Von ‚Cabiria‘ zu ‚Maciste alpino‘“7 nahe – hat sich die eigenen ideologischen Übersteigerungen, so auch die spezifisch lateinische Spielart des „superuomo“, wohl über die Jahrzehnte hinweg zumindest im Massenmedium Kino alltagstauglich redimensioniert, nicht zuletzt in einer unermüdlichen filmischen Neuauflage, und in der An- bzw. (vermeintlichen) Fremd-Verwandlung derselben (und doch immer neuen) Figur des Maciste. Von der dannunzianisch durchwehten römischen Antike des 1914er Streifens Cabiria bzw. den in Kriegszeiten entstandenen Folge-Filmen, in denen Macistes jeweiliges Alter Ego bereits nicht ausschließlich den protofaschistischen Typ des Übermenschen und Muskel-‚Mannsbildes‘ verkörpert, bis hin zum ‚Peplum‘ der 50er oder 70er Jahre, vermitteln Macistes Ableger ebenso deutlich auch Konnotationen des verlässlichen Beschützers, der in sich ruhenden Stärke und nicht zuletzt des Humors bis hin zum Komödiantischen. Maciste mutiert zu einer fortwährend exportiert-reimportierten Kreuzung aus römisch-antikem Held und amerikanisierendem Prototyp eines Bud Spencer, erlaubt gleichzeitig eine Entfernung und Entrückung des (allzu) maskulinen Helden ins Einst und ins Anderswo und relativiert doch auch selbstironisch seine eigene, inhärente Idealisierung.

Zibaldone liefert als weiteren Themenbeitrag die Übersetzung eines Auszugs aus Mario Puccinis autobiografischen Aufzeichnungen zur Niederlage von Caporetto und dem darauf folgenden Rückzug8; ein Ausschnitt, der schon deshalb von Interesse ist, weil sich hier in Ansätzen zeigt, was der Krieg, futuristischer Erwartung zu Folge, in stilistischer Hinsicht an (als befreiend postulierter) „Zerstörung der Syntax“ bewirken sollte. Ein kurzes Zitat aus Puccini:

La prima linea. E più oltre Cecchino, la bestia grigia che spara ad ogni giuoco di ombre sui sacchi a terra della trincea.
E dietro quei monti e sassi senza fine. Che bisognava conquistare. (124)

Die schockartige Erfahrungswucht und unregulierte Freisetzung der Eindrücke, welche futuristische Manifeste vor Kriegsbeginn sehnsuchtsvoll beschworen, ist an solchen Stellen erreicht. Kaum jedoch offenbart sich darin eine erlösende und kathartische Wirkung, wie sie sich die Propheten einer solchermaßen befreiten Sprache erhofft hatten, als therapeutisches Antidot zu jenem „gefährlichen Gemisch aus historischen Minderwertigkeitskomplexen und futuristischen Überwertigkeitsansprüchen“, wie es eine Definition von Renate Lunzer9 auf den Punkt bringt.

Dass die letztere, treffende Formulierung lediglich in einer Rezension von Isabella Pohl zu einer von Gislinde Seybert und Thomas Stauder herausgegebenen Publikation aufgeführt wird10, belegt die Bedeutung auch dieses Textes zur Abrundung der Thematik. Sein Nutzen besteht zudem auch darin, dass an dieser Stelle (138) einmal jene Autoren – obschon nicht zahlreich, so doch erwähnenswert, wie Scipio Slataper oder Gianni Stuparich – Erwähnung finden, die sich schon im Vorfeld des Krieges von der kriegstreiberischen Rhetorik zahlreicher Kollegen abgrenzten. Obendrein werden in einem der Themenblöcke des hier rezensierten Sammelbands gerade diejenigen, nicht-literarischen, Medien beleuchtet, die in dieser Nummer des Zibaldone, zumal angesichts der im Vorwort angesprochenen Programmatik, doch zu wenig, oder zu selektiv, Beachtung finden.

Es wird in der Zeitschrift wiederholt eingestanden, dass der italienische Faschismus im Hinblick auf eine offene Auseinandersetzung von Gesellschaft und Eliten mit dem Ersten Weltkrieg eine wirksame Blockade bedeutete (hängt es übrigens mit diesem Umstand zusammen, dass mancher Nach- oder Neudruck eines Zeugnisses aus der Kriegs- oder Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs in den 1980er oder 1990er Jahren erfolgte?). Daher, sowie im Bewusstsein der stark (und fortschreitend) visuellen Ausrichtung der italienischen Kultur im 20. Jahrhundert, sollte in einem solchen Themenheft, trotz des begrenzten Raums, auch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die für Italien ‚klassischen‘ Anti-Kriegs-Filme (mit Bezug auf 1915–1918) von durchaus maßgebenden Autoren zwangsläufig in den 1950er und 1960er und 1970er Jahren gesucht werden müssen. Im Übrigen hat das italienische Kino, aber nicht zuletzt auch das Fernsehen, seither und bis in die jüngste Zeit Produktionen geliefert, denen z. T. nachweisliches Echo bei Kritik und/oder Publikum beschieden war und die sich in direkter oder indirekter Weise mit den Umständen, Erfahrungen und Folgeerscheinungen des großen Krieges befassen. Ermanno Olmis Torneranno i prati oder Leonardo Tiberis Fango e gloria (beide Filme aus 2014) für das Kino und Alberto Sironis TV-Mehrteiler Eroi per caso (2012) sind hierfür nur einige der jüngsten Beispiele.

Der Futurismus schließlich, dem dieser Zibaldone begreiflicherweise großen Stellenwert verleiht, ist gerade im Lauf der letzten Jahrzehnte wohl dank einer Reihe von internationales Aufsehen erregenden Ausstellungen (ein weiteres, mitunter breitenwirksames Medium, das Erwähnung finden könnte), in Italien spätestens jedoch seit der RAI-„Fiction“ I colori della gioventù (2006) über das Leben Umberto Boccionis und seiner Mitstreiter, in das Bewusstsein einer sehr allgemeinen Öffentlichkeit gerückt. Letztere TV-Produktion ist nahezu ein Paradestück für jenen ‚recupero della storia (nazionale)‘, um den sich in Italien verschiedenste Medien, trendbeflissen, in steigendem Maß bemühen. Die Filterung und Domestizierung, bzw. die Idealisierung oder Romantisierung, die ein solches ‚Recycling‘ in Bezug auf den darin enthaltenen geschichtlichen Stoff jeweils mit sich bringt, sie vielleicht erfordert, sie womöglich aber auch gerade vermeidet, würde wohl ganz besonders eine Analyse lohnen: Denn eine solche vermag sicherlich vieles auszusagen, über das behandelte Kapitel der Geschichte ebenso wie über die jeweilige Jetzt-Zeit, in der man sich das gegebene Kapitel (neu) aneignet.


  1. Daniel Syrovy, „Auf der Suche nach der italienischen Literatur zum Ersten Weltkrieg“, Zibaldone 57 (2014): 33–50.

  2. Fernando Esposito, „D’Annunzio und der Erste Weltkrieg“, Zibaldone 57 (2014): 51–59, hier 57.

  3. Eva-Tabea Meineke und Gesa zur Nieden, „Der ‚Halbtod‘ eines Europäers: Kunst und Krieg bei Alberto Savinio“, Zibaldone 57 (2014): 19–32.

  4. Daniella Rossini, „Der Mythos Amerika in Italien im Ersten Weltkrieg: Propaganda und Amerikanisierungsprozesse“, Zibaldone 57 (2014): 107–120.

  5. Zit. bei Elisabeth Tiller, „Futuristische Männlichkeiten und der Krieg“, Zibaldone 57 (2014): 77–89.

  6. Sergio Giuntini, „Sport und Futurismus zwischen Weltkrieg und Faschismus“, Zibaldone 57 (2014): 91–106.

  7. Daniel Winkler, „Von ‚Cabiria‘ zu ‚Maciste alpino‘: ‚kolossale‘ Körperästhetik im seriellen Kino des Ersten Weltkriegs“, Zibaldone 57 (2014): 61–76.

  8. Mario Puccini, „Caporetto: note sulla ritirata di un fante della III Armata [1918]”, Zibaldone 57 (2014): 121–26.

  9. Renate Lunzer, Triest (Klagenfurt: Wieser, 2002).

  10. Zit. in Isabella Pohls Rezension, Zibaldone 57 (2014): 137, zu Gislinde Seybert und Thomas Stauder, Hrsg., Heroisches Elend: der Erste Weltkrieg im intellektuellen, literarischen und bildnerischen Gedächtnis der europäischen Kulturen (Frankfurt a. M., Peter Lang, 2014).





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