Zur Politik der Intertextualität in Roberto Bolaños Estrella Distante

Samir Sellami

Es scheint, als wäre mit Roberto Bolaño zum zweiten Mal nach Georges Perec ein Autor angetreten, die gesamte Literaturgeschichte in einem einzigen Werk zu wiederholen. „On va se rendre bientôt compte que Georges Perec a tout lu“,1 heißt es in einem Interview mit dem französischen Oulipisten, und selbst wenn es sich dabei um eine Übertreibung handelt, so doch vielleicht um eine gerechtfertigte. Auch die Bolaño-Lektüre hinterlässt einen solchen phantastischen Eindruck, man habe es hier mit Texten zu tun, die sich als größenwahnsinnige Diagramme der gesamten Literaturgeschichte artikulieren. Die exzessive, hochfrequente, überfrachtende Bevölkerung der Texte mit Autorennamen, literarischen Anekdoten, literaturwissenschaftlichen Fachtermini, ästhetischen Klassifikationen und sonstigen literaturbezogenen Anspielungen wird jeder Leser ohne Weiteres bemerkt haben. Entsprechend hoch ist die Quote der Forschungsbeiträge zur Intertextualität in Bolaños Werk, übertroffen vielleicht nur von der Vielzahl an Untersuchungen zu Verbrechen, Gewalt und zur Konzeption des Bösen in seiner Poetik. Die meisten Analysen starten bei einer konkreten Textstelle, die nicht selten einen explizit markierten Autornamen enthält, und versuchen dann die spezifische Dynamik von Ähnlichkeit, Kontrast und Verfremdung herauszuarbeiten, die Bolaños Text an seine Intertexte bindet.

Gegen diese durchaus berechtigte Tendenz habe ich mich für eine alternative Herangehensweise entschieden, die anstelle der vergleichenden Interpretation versucht, die Logik der intertextuellen und metaliterarischen Transaktionen in Bolaños Werk zu rekonstruieren. Als exemplarischer Text dient mir dabei der 1996 erschienene Roman Estrella Distante, die Geschichte des fiktiven chilenischen Militärfliegers Alberto Ruiz-Tagle alias Carlos Wieder, der in den Tagen der Machtergreifung Pinochets als avantgardistischer Erneuerer der Poesie und faschistischer Killer im Selbstauftrag in Szene tritt. Die Beschränkung auf einen einzelnen Text mag angesichts des exemplarischen Anspruchs für das Gesamtwerk problematisch erscheinen, ist aber darin begründet, dass sich die Logik der Intertextualität bei Bolaño immer auch im Zusammenspiel der eigenen Poetik mit den imaginären und fiktiven Poetiken entwickelt, die in die Romanhandlung eingebettet sind.

Wie der Prolog zum Roman offenlegt, ist Estrella Distante eine Ausarbeitung der im letzten Kapitel „allzu skizzenhaft“2 erzählten Geschichte des chilenischen Oberstleutnants Ramírez Hoffmann aus Bolaños fulminantem Anthologie-Roman La Literatura Nazi en América3. Schon dieser durch Kursivdruck vom Rest des Textes sichtbar abgesetzte Prolog führt in eine extrem vertrackte Konstellation von Erzählern ein, die allesamt an der Rekonstruktion dieser eigenartigen Geschichte beteiligt sind. Da ist zum einen Bolaño, der Erzähler des letzten Kapitels von La Literatura Nazi en América, der aber hier vorgibt, die Geschichte über Ramírez Hoffmann von seinem Freund, „mi compatriota, Arturo B4, erfahren zu haben, obwohl Bolaño in dieser ersten Fassung selbst als handelnde Figur auftritt. Dieser Arturo B, eine Fassung des notorischen fiktionalen Stellvertreters Bolaños, Arturo Belano, ist aber mit dem Ergebnis der Erzählung nicht zufrieden, sodass sich die Notwendigkeit einer ausführlicheren Version ergibt, die Bolaño und Arturo B nun gemeinsam in Bolaños Haus in Blanes komponieren. Diese ausführliche Version ist der Roman „que el lector tiene ahora ante si“5: Estrella Distante. Im Lauf der Lektüre verfestigt sich allerdings der frühe Eindruck, dass der eigentliche oder zumindest ein entscheidender Erzähler des Romans Bibiano O’Ryan ist, der sich auf die obsessive Suche nach bio-bibliographischem Material Carlos Wieders begibt und Arturo B einen Großteil der Handlung durch Berichte in Briefen und Postkarten mitteilt. Als stiftete dies nicht schon genug Verwirrung über den eigentlichen Erzähler des Romans erfahren wir von Bibiano zudem, dass er an einem Buchprojekt arbeitet, das in verblüffender Weise La Literatura Nazi en América ähnelt und später unter dem Titel El nuevo retorno de los brujos6 veröffentlicht wird.

Schließlich tritt zu den drei Erzählern Bolaño, Arturo B und Bibiano gegen Ende des Romans eine vierte an der Rekonstruktion der Geschichte beteiligte Figur hinzu: Abel Romero, ehemaliger Star-Polizist unter Salvador Allende, im Auftrag eines unbekannten Auftraggebers auf der Spur Wieders, macht diesen in Europa ausfindig, ausgerechnet in Blanes, wo er unter falschem Namen lebt, nachdem er in faschistischen, nationalistischen und militaristischen Zeitschriften und Fanzines ein paar qualitativ hochwertige Gedichte produziert hat und als zweiter Kameramann von Pornofilmen unter dem Pseudonym R.P. English in Erscheinung getreten ist. Auf die Spitze getrieben wird dieses metaleptische Spiel von ineinander verschränkten Erzählerfiguren durch den letzten Satz des Prologs: „Mi [= Bolaño] función se redujo a preparar bebidas, consultar algunos libros, y discutir, con él [= Arturo B] y con el fantasma cada vez más vivo de Pierre Menard, la validez de muchos párrafos repetidos.“7

Der Prolog gibt die Leserichtung vor, die ich verfolgen will, um der intertextuellen Struktur in Estrella Distante auf die Spur zu kommen. Mindestens fünf Figuren sind demnach an der Rekonstruktion des Falls Carlos Wieder entscheidend beteiligt: Bolaño, Arturo B, Bibiano O’Ryan, Abel Romero und nicht zuletzt der immer lebendigere Geist Pierre Menards. Kein monologischer Bericht, sondern die dialogische Orchestrierung dieser fünf Erzählerstimmen bringt die Geschichte hervor. Und diese besteht in der Hauptsache aus der erzählerischen Darstellung einer politisch reaktionär motivierten Poetik und Ästhetik, die ihre Energie in eminenter Weise aus Prozessen der Intertextualität schöpft. Um der Intertextualität bei Bolaño auf die Schliche zu kommen, werde ich folglich mit der Rekonstruktion von Carlos Wieders Werk beginnen müssen.

Ambivalente Avantgarden

Wieders schmales Gesamtwerk lässt sich anhand seiner Biographie in zwei Werkphasen unterteilen, von denen die erste in Chile, die zweite in Europa entsteht. Das chilenische Werk baut sich um zwei komplementäre poetische Ereignisse auf: zum einen die „escritura aérea“8, mit dem Flugzeug in den Himmel geschriebene Avantgarde-Gedichte, und zum zweiten die privat organisierte Ausstellung von Fotografien privater Säuberungsaktionen – ohne Auftraggeber ausgeführte Morden an Frauen, von denen die meisten Dichterinnen sind. Dieser zweite Teil seines revolutionären künstlerischen Projekts scheint selbst den faschistischen Autoritäten zu viel des Guten und zwingt ihn schließlich, das Land zu verlassen. Das darauffolgende Werk in Europa umfasst schwierig auffindbare Texte unterschiedlicher Gattungen und andere ästhetische Objekte, die mit wechselnden Pseudonymen signiert sind, in extrem peripheren Publikationsorganen erscheinen oder ganz unveröffentlicht bleiben: Gedichte, Dramen, Essays, Manifeste, Literaturkritik, literarische Happenings, Performances, visuelle Poesie, Computerspiele.

Um den ironischen Auftakt von Borges’ Pierre Menard9 aufzunehmen, könnte man sagen, dass sich das sichtbare Werk Wieders auf die Fliegergedichte beschränkt, während die Fotoausstellung bereits den Übergang zum schwieriger sichtbaren Untergrundteil des Werkes markiert. Das Spektrum der Wahrnehmbarkeit des Gesamtwerks erstreckt sich über die ganze ontologische Breite: Ein Teil des Werks, die escritura aérea, ist für alle Beteiligten unzweifelhaft verbürgt, ein anderer, die makabre Fotoausstellung, nur durch fragwürdige Zeugenaussagen und Erinnerungen zugänglich, ein weiterer verbirgt sich im Halbschatten, den die Pseudonyme, Verschleierungstaktiken und die extreme Peripherie der Publikationsorgane auf das dokumentierte Werk Wieders werfen. Dazu kommt die Ungewissheit der Autorschaft, die letztlich nicht hundertprozentig nachgewiesen, sondern lediglich in philologischen Wahrscheinlichkeitsschlüssen approximativ ermittelt werden kann. Und schließlich ist die Existenz weiterer poetischer Erzeugnisse Wieders, die letztlich völlig unentdeckt bleiben nicht nur möglich, sondern sogar höchst wahrscheinlich.

Ungeachtet dieser getrübten Sichtverhältnisse erscheint das ganze literarische Projekt Wieders als Einheit. Von Beginn an wird es unmissverständlich als Wiederholung der europäischen Avantgarden in dem verschärften politischen Kontext Lateinamerikas imaginiert. Schon bevor Wieder als Dichter in Erscheinung tritt, ist von der „neuen Poesie“ die Rede, die er nicht „schreiben“, sondern „machen10 wird. Diese typisch avantgardistischen Züge, die Beschwörung der Tabula Rasa, der Übergang vom Schreiben zum Tun, die Passage vom Text zum Akt, die Transposition der Literatur ins Leben wird am Anfang des zweiten Kapitels wieder aufgenommen, wo der vorübergehende Gefangene Arturo B Zeuge des „primer acto poético de Carlos Wieder“11 wird. An die Ästhetik des Aktes gekoppelt ist jene faschistische „Verhaltenslehre der Kälte“12, die Wieders Habitus schon in den Jahren vor dem Putsch vorausahnen lässt und die er im Roman in einem Zeitungsinterview offenlegt. Gemäß Arturo B tritt der in Chile immer populärer werdende Wieder dort mit „seguridad“, „audacia“ und „autoridad“ auf, sein Diskurs gibt sich futuristisch, voller Neologismen, gewollt plump und harsch und wird dabei nicht ohne Bewunderung von Arturo als rein und entschieden charakterisiert, „reflejo de una voluntad sin fisuras“13.

Mit dergleichen Willensstärke und Skrupellosigkeit seiner Rede vollzieht Wieder auch seine Taten, die Morde an den Dichterinnen, im Morgengrauen, unbemerkt, schnell und effektiv. Entsprechend der Hygienekonzepte des Faschismus ist er bemüht, möglichst sauber zu arbeiten, seine Spuren möglichst restlos zu beseitigen. Von der Ästhetik der Fotos, die dabei entstehen, wissen wir zwar nur wenig, aber die extremen Reaktionen der geladenen Gäste lassen eine direkte, unzensierte Darstellung vermuten. Die herkömmliche Beleuchtung des Zimmers, in dem die Fotografien ausgestellt sind, soll zur Normalisierung der Szene und damit zur Banalisierung der in ihr dokumentierten Gewalt beitragen. In der Vorfassung aus La Literatura Nazi en América ist der Raum sogar „perfekt beleuchtet“14 und wirkt dadurch klinisch, genauso wie der sezierende Blick Wieders: „los ojos como separados del cuerpo, como si miraran desde otro planeta.“15

Aber nicht nur die Haltungen, die Wieders Poetik des Aktes begleiten, sondern auch die Texte selbst zeigen diese spezifische Verschränkung von Avantgarde und Faschismus. Sein erstes Gedicht besteht aus der unveränderten Wiedergabe von Versen aus dem Ersten Buch Mose. Die Verse beschreiben die Trennung von Himmel und Erde, von Licht und Dunkelheit, die Erschaffung der Welt. Indem sie sich affirmierend auf einen Text beziehen, der das Zusammenfallen der lokutionären und perlokutionären Funktionen der Sprache inszeniert, sind sie eine unheilvolle Beschwörung der Kreation gegen den Idealismus der Poesie, die bloß Zeichen produziert. Passend zur faschistischen Verhaltenslehren der Kälte und Härte sind die Verse in Latein geschrieben, was Wieder damit begründet, dass sich „das Lateinische besser in den Himmel eingraviere“16. Somit wird das Bibelplagiat zum Gegenstand einer autoritären Inskription, die gemäß der titelgebenden Symbolik als entfernter Stern erscheint, als unbelebtes und distanziertes Objekt, das seine Leser, das auf der Erde verbliebene Volk, in die vertikale Erniedrigung zwingt, von der aus sie einen Text lesen müssen, den sie ohne die entsprechende Vorbildung nicht verstehen können.17

Während dieses erste Fliegergedicht, das Wieders Laufbahn begründet, ganz im avantgardistischen Zeichen der Kreation steht, verkörpert ein anderes den ebenso avantgardistischen Hang zur Destruktion. Das Gedicht, das Wieder bei einer Fliegerschau in Santiago in den Himmel schreibt, besteht aus elf „Versen“ und lässt sich wie folgt rekonstruieren:

La muerte es amistad.
La muerte es Chile
La muerte es responsabilidad
La muerte es amor
La muerte es crecimiento
La muerte es comunión
La muerte es limpieza
La muerte es mi corazón
Toma mi corazón.
Carlos Wieder
La muerte es resurrección18

Spätestens an dieser Stelle müssen wir auf die reale Person zurückkommen, aus der Carlos Wieder seine fiktionale Identität schöpft: auf den chilenischen Dichter Raúl Zurita. Denn bei diesem zweiten Gedicht handelt es sich nicht um ein weiteres Plagiat, sondern um die fiktionale Revision von Zuritas Gedicht La nueva vida, das 1982 von fünf speziell präparierten Flugzeugen tatsächlich in den Himmel New Yorks geschrieben wurde:

MI DIOS ES HAMBRE
MI DIOS ES NIEVE
MI DIOS ES NO
MI DIOS ES DESENGAÑO
MI DIOS ES CARROÑO
MI DIOS ES PARAÍSO
MI DIOS ES PAMPA
MI DIOS ES CHICANO
MI DIOS ES CÁNCER
MI DIOS ES VACÍO
MI DIOS ES HERIDA
MI DIOS ES GHETTO
MI DIOS ES DOLOR
MI DIOS ES
MI AMOR DE DIOS19

Während Zuritas avantgardistische Haltung trotz seiner pessimistischen Züge letztlich lebensbejahend ist, erscheint Wieder als Advokat des Todes, der Destruktion, der Säuberung („la muerte es limpieza“) und der nur aus dieser Zerstörung möglichen Wiederauferstehung einer neuen „raza chilena“20. In diesem Schema erscheint der Tod nicht als Teil des Lebens, als sein natürlicher Endpunkt, sondern als der absolute Ausnahmezustand, „death in the realm of absolute expenditure“,21 über den bekanntlich allein der Souverän bestimmt. Wieders poetisches Projekt stellt sich somit selbst in den Auftrag einer faschistischen Nekropolitik, die „die Existenz des Anderen als Angriff auf das eigene Leben“22 inszeniert und mithin die Auslöschung des Mitmenschen im Dienst der Revitalisierung der organisierten Masse ideologisch rechtfertigt.

Beide, Zurita und Wieder, streben nach einer ästhetischen Erneuerung, die nicht nur eine einfache stilistische Ablösung auf der semantisch-syntaktischen Ebene ist, sondern die Durchsetzung einer völlig neuen „Schreibszene“23 auf der pragmatischen. Aber während Zuritas Avantgarde nach einer Demokratisierung der Schrift drängt, befördert Wieders Poetik die anti-demokratischen Werte vertikaler Souveränität und Autorität.

Damit ergibt sich die erstaunliche Konstellation formal ähnlicher, aber politisch und ethisch vollkommen konträrer Poetiken. Wieders Nekropoetik figuriert dabei als das fiktionale faschistische Doppel eines avantgardistischen Projekts, das die Dichtung ursprünglich aus den mortifizierenden und elitären Tendenzen der Schriftkultur in eine demokratischere und pluralistischere Rezeptionssituation befreien wollte. Die Avantgarden erscheinen so bei Bolaño nicht nur in ihrer Stellung zur Institution der Kunst als durch und durch dialektisch,24 sondern auch in ihrer moralischen Positur als fundamental ambivalent.

Die imaginäre Konstellation, die Bolaño hier in fulminanter Weise zwischen dem realen Zurita und dem fiktionalen Wieder aufspannt, lässt uns an einen Schlüsselsatz aus Los Detectives Salvajes denken: „La literatura no es inocente“.25 Kein ästhetisches Projekt also, das seine ethische und politische Fortschrittlichkeit allein durch seine formale Struktur verbürgen könnte. Denn so wie den Avantgarden die Möglichkeit zukommt, der Kunst neues Leben einzuhauchen und sie durch die Überführung in offenere Schreib- und Rezeptionsszenen als die des gedruckten Buches zu demokratisieren, können sie auch als Advokaten einer faschistischen Nekropolitik auftreten, deren „Lebenskalkül über den Tod des Anderen“26 reguliert wird. Man denke hier nur an die berühmtesten Beispiele: Marinettis Lobgesang auf die Kriegsmaschine im Futuristischen27 oder Bretons „surrealistischen Akt“ im Zweiten Surrealistischen Manifest28.

Um auf das Thema dieses Artikels zurückzukommen: Auf mindestens drei Weisen sind intertextuelle Transaktionen an der faschistischen Avantgardepoetik Carlos Wieders beteiligt. Zum einen in seinem aus dem Geist Pierre Menards geschriebenen, zwischen Plagiat und Reécriture oszillierenden ersten Gedicht, das die Genesis-Verse von der Erschaffung der Welt in den chilenischen Himmel „einmauert“; in der fiktionalen Revision des Zurita-Gedichts und in den insgesamt eminent intertextuell anmutenden Informationen, die wir vom Rest seines Werkes erhalten. So sagt Arturo B etwa von einem später in Europa veröffentlichten Gedicht, es handle sich um „trozos del diario poético de John Cage mezclado con versos que sonaban a Julián del Casal o Magallanes Moure traducidos al francés por un japonés rabioso“.29 Und das einzige Drama Wieders, das von sich gegenseitig abwechselnd folternden siamesischen Zwillingen handelt, klingt wie eine hyperbolische Adaption von Jean Genets Les bonnes.

Ein zweites intertextuelles Ereignis betrifft die Figur Wieders selbst. Dieser erscheint nicht bloß als reine Erfindung, sondern als intertextueller Effekt, als verzerrte, fiktionalisierte und transponierte Fassung des realen Raúl Zurita, als dessen dunkler faschistischer Doppelgänger, der sich seine avantgardistische Bemühungen in einer fantastischen Revision aneignet, um sie für die Zwecke einer faschistischen Nekropoetik umzuprogrammieren.

Aus diesem Vorgang der Umprogrammierung ergibt sich schließlich der dritte Grundzug der intertextuellen Dynamik in Wieders Projekt: Es erscheint als unheimliche Wiederholung der europäischen Avantgarden im konkreten historischen Kontext der lateinamerikanischen Diktaturen nach 1945. Deutlich wird die Unheimlichkeit dieses Ereignisses in der Aussage eines der Mitgefangenen Arturo Bs: „El loco Norberto […] se reía y decía que la Segunda Guerra Mundial había vuelto a la Tierra, se equivocaron, decía, los de la Tercera, es la Segunda que regresa, regresa, regresa.“30 Die Diktaturen Lateinamerikas als Wiederholungsphänomen des okzidentalen zweiten Weltkriegs – spätestens diese Deutungsdimension lässt die intertextuellen Transaktionen in Estrella Distante in einem umfassenderen Kontext erscheinen: dem der generellen Struktur von Wiederholung, Wiederkehr und dem Rückfall in die unheilvollen Atavismen des 20. Jahrhunderts.

Philologischer Widerstand

Vor diesem Hintergrund der Wiederholung als umfassender Struktur, der sich die Intertextualität als Spezialfall unterordnet, sind nun auch die Gegenstrategien zu lesen, die das Erzählerkollektiv der avantgardistischen Nekropoetik Wieders entgegenstellen. Denn gemäß Bolaños antagonistischer Konzeption der Literatur31 kann man die Entfaltung der Poetik von Estrella Distante als erzählten Widerstand gegen die faschistisch gefärbte Avantgarde lesen, der sich über eine literaturbezogene Praxis organisiert: die der Philologie. Wie ich im Folgenden kurz skizzieren will, leistet Estrella Distante Wieders Nekropoetik auf mindestens drei verschiedene Weisen philologischen Widerstand: nämlich erstens als Dekonstruktion, zweitens als Kriminologie und drittens als Stichwortgeberin einer politisch sensiblen Poetik der Rekonstruktion.

Philologie als Dekonstruktion

Die mittlerweile vielleicht klassischste Variante des philologischen Widerstands ist die Exposition der inneren Widersprüche von Zeichenzusammenhängen, die sich selbst als eindeutig, kohärent und abgeschlossen präsentieren. Zweifelsfrei gilt diese Behauptung zumindest für das artikulierte Selbstverständnis von Wieders Nekropoetik. In einer halb parodistischen Szene, die aber ihren Eindruck dennoch nicht verfehlt, macht sich Bibiano O’Ryan an die etymologische Dekonstruktion von Wieders Namen, der sinnbildlich für die Struktur der absoluten Identität des Gleichen steht:

Wieder, según Bibiano nos contó, quería decir „otra vez“, „de nuevo“, „nuevamente“, „por segunda vez“, „de vuelta“, en algunos contextos „una y otra vez“, „la próxima vez“ en frases que apuntan al futuro. Y según le había dicho su amigo Anselmo Sanjúan, ex estudiante de filología alemana an la Universidad de Concepción, sólo a partir del siglo XVII el adverbio Wieder y la preposición de acusativo Wider se distinguían ortográficamente para diferenciar mejor su significado. Wider, en antiguo alemán Widar o Widari, significa „contra“, „frente a“, a veces „para con“. Y lanzaba ejemplos al aire: Widerchrist, „anticristo“; Widerhaken, „gancho“, „garfio“; Widerraten, „disuasión“; Widerlegung, „apología“, „refutación“; Widerklage, „contraacusación“, „contradenuncia“; Widernatürlichkeit, „monstruosidad“, „aberración“. Palabras todas que le parecian altamente reveladoras.32

Schon der Name, von dem wir letztlich nicht wissen, ob es sein echter oder der selbst gewählte ist, enthält somit das Potential, das eigene Projekt, das auf Idealen der Reinheit, Identität und Hygiene aufgebaut ist, in Frage zu stellen. Im gleichen Phonem, das die Wiederkehr und Wiederholung des Gleichen bedeuten kann, steckt auch die Bedeutung der Gegensätzlichkeit, der Rivalität, der Differenz. Die Erschließung dieser Bedeutungsschicht bleibt aber der Leserin überlassen, denn Bibiano interessiert sich mehr für weitere Erkenntnismöglichkeiten, die seine spekulative Etymologie eröffnet. So könne Wieder auch ursprünglich Weider geheißen haben, „y en las oficinas de emigración de principios de siglo un errata había convertido a Weider en Wieder“.33 Genauso gut könnte er auch Bieder geheißen haben, da ja B und W im Spanischen fast gleich klingen, oder auch Widder. Die Bedeutungsvielfalt, die von dieser wie gesagt teilweise lächerlich34 wirkenden Szene ausgeht, ist zwar groß, aber es bleibt auch der Eindruck letztendlicher Willkür der etymologischen Dekonstruktion: „y aquí uno podía sacar todas las conclusiones que quisiera“.35

Vorerst aufschlussreicher sind da die Widersprüche, die zwischen Selbstverständnis und tatsächlichem Verhalten entstehen. Denn zum einen hat Wieders Habitus etwas höchst Romantisches, Subjektivistisches, unvereinbar mit der faschistischen Ideologie, die das Subjekt als Teil des Massenornaments organisiert und den identitären Zusammenhalt von Rasse und Nation über die Bedeutung des Einzelnen stellt. Seine zutiefst amoralische, dekadente Haltung, die am deutlichsten am Abend der Fotoausstellung hervortritt, die wiederum verblüffend an einen berühmten Tagebucheintrag Ernst Jüngers36 erinnert, ist zwar mit dem Faschismus ohne Weiteres vereinbar, aber selbst nicht genuin faschistisch. Zudem handelt Wieder eigenmächtig als Agent der faschistischen Idee, aber ohne von den Machthabern dazu beauftragt worden zu sein, was ihn vermutlich letztlich zur Flucht aus Chile zwingt.

Auch die Dokumentation seiner Werke, die Bibiano und Co. leisten, offenbart innere Ungereimtheiten. Mit zunehmender Entfernung von seinen chilenischen Anfängen scheint Wieders Poetik immer mehr zu einem wilden Gebräu zu verkommen, das völlig planlos Quellen und Einflüsse zu neuen ästhetischen Objekten zusammenmischt. Das bereits erwähnte Gedicht, in dem sich Brocken aus John Cages Tagebuch mit Versen kreuzen, die an Julián de Casal und Magallanes Moure erinnern, die wiederum von einem wütenden Japaner ins Französische übersetzt wurden, ist das groteske Emblem einer Poetik, die weit entfernt von den hygienischen Idealen einer „arte puro“37 scheint. Wieders Texte sind, so viel wir wissen können, durch und durch von fremdem Material kontaminiert,38 was uns sicher auf der einen Seite erneut daran erinnert, dass die unterschiedlichsten formalen Strukturen jeder beliebigen Ideologie untergeordnet werden können. Aber auf der anderen Seite widerspricht dieser Weg von der Reinheit zur Kontamination der anfangs artikulierten Ideologie und eröffnet eine Möglichkeit zur Aufdeckung ihrer inneren Widersprüche, zur Dekonstruktion.

Trotz dieser Elemente verbleibt der philologische Widerstand als Dekonstruktion im idealistischen Bereich der Zeichenprozesse. Wie in der Szene, in der Bibiano seine spekulative Etymologie des Namens Wieder ausbreitet, deutlich wird, kann ein rein dekonstruktives Verfahren im Grunde alles beweisen und bleibt daher letztlich wirkungslos. Die Asymmetrie der beiden literarischen Herangehensweisen ist schreiend: Während Bibiano und seine Freunde versuchen, philologische Erkenntnisarbeit zu leisten, macht sich Wieder mit seinen heldenhaften Aktionen einen Namen und tötet im ästhetisch grundierten Selbstauftrag dissidente Dichterinnen. Gegen Wieders auf zynische Weise erfolgreiche Poetik der Destruktion bleiben die Bruchstücke philologischer Dekonstruktion daher vorerst machtlos.

Philologie als Kriminologie

Um von der bloßen Subversionsgeste zum echten Widerstand zu werden, muss die Philologie das enge Reich der Zeichen verlassen und sich mit weltlichen Kräften verbünden. Dies geschieht gegen Ende von Estrella Distante, wenn Abel Romero die Bühne betritt, der Ex-Starpolizist mit dem privaten Auftrag, Wieder aufzuspüren und ihn zur Strecke zu bringen. Romero engagiert Arturo als philologischen Experten, der aus der Vielzahl faschistischer Publikationsorgane, die Romero auftreibt, die Texte aus Wieders Hand herausfiltern soll: „Wieder era poeta, yo era poeta, él no era poeta, ergo para encontrar a un poeta necesitaba la ayuda de otra poeta.“39 Von der fragwürdigen kriminalistischen Logik einmal abgesehen, erhält hier die Philologie und mit ihr die Literatur überraschend eine seltene Nützlichkeitsfunktion: die Möglichkeit, an der Suche nach einem Mörder teilzuhaben und so ein Stück weit Vergeltung zu üben an den faschistischen Verbrechen. Da die Literatur nicht unschuldig ist, nicht unschuldig sein kann, bleibt ihr nur, sich zum Widerstand aufzuraffen. Dass sie am Ende selbst mit der Gegengewalt im Bunde steht, ist der Preis, den sie zahlen muss, auch wenn der pazifistische Arturo noch versucht, Abel Romero von den Mordabsichten gegen Wieder abzubringen.

Letztlich handelt es sich bei dieser Abteilung philologischen Widerstands um eine Aktualisierung der beliebten Bolaño-Figur, die den Leser als wilden Detektiv konzipiert, der Spuren verfolgt, Indizien zusammensetzt und sich letzten Endes im Gewirr der Bedeutungsvielfalt verliert.40 Nicht nur Arturos Einsatz am Ende kann vor diesem Hintergrund einer Identifikation von Philologie, Krimonologie und Poetik gesehen werden, auch das der anderen Figuren, insbesondere Bibianos: „yo me enteré por una carta de Bibiano, muy extensa, casi como un informe de un detective, la última que recibí de él.“41

Philologie als Poetik

Natürlich verbleibt auch der philologische Widerstand als Kriminologie letztlich ebenso im Reich der Zeichen wie der der Dekonstruktion. Denn zum einen ist die ganze Konstruktion viel zu phantastisch und zum anderen deutet wenig darauf hin, dass die Hinweise, die Arturo durch seine philologische Aufklärungsarbeit liefert, tatsächlich zur Auffindung Wieders führen. Eines Tages taucht Romero mit dem Pornofilmmaterial auf, hinter dem er Wieder als Kameramann vermutet. Dann fahren beide nach Blanes, Arturo identifiziert Wieder, Romero tötet ihn höchstwahrscheinlich und das war’s.

Die dritte Form des philologischen Widerstands spielt sich daher nicht mehr innerhalb der Romanhandlung, sondern auf der Ebene der Poetik von Estrella Distante selbst ab. Ich habe bereits anfangs erwähnt, wie die Erzählung trotz des vordergründigen Ich-Erzählers (Arturo B) nicht als monologischer Bericht produziert wird, sondern als von dem Stimmen- und Erzählerkollektiv in gemeinsamer obsessiver42 Arbeit nach und nach rekonstruiertes Geschehen. Dabei wird der ganze Text von zwei semantischen Einheiten skandiert, die in ihrer exzessiven Wiederholung die Atmosphäre dieser Rekonstruktion entscheidend prägen: según und tal vez.

Según verweist auf die Abgeleitetheit jeden Diskurses, auf die Unmöglichkeit des Monologischen, auf die Abhängigkeit des Berichts von den subjektiv gefärbten Stimmen und Erfahrungsräumen der Figuren. Immer wieder wird so die Erzählung in Form der indirekten Rede wiedergegeben, mit Formeln wie dice que, supongo que, creo que bereichert, mit allen Konsequenzen der Ungewissheit, Spekulation und Kontingenz, die das zur Folge hat. Mehrmals erinnert uns der Erzähler daran, dass seine Rekonstruktion in weiten Teilen aus nichts als Vermutungen besteht: „A partir de aquí mi relato se nutrirá básicamente de conjeturas.“43

In noch exzessiveren Wiederholungen als das Wörtchen según dominiert die Kontingenzformel tal vez das Geschehen. Ganze Kapitel und längere Erzählabschnitte erscheinen so nachträglich in einem unsicheren Licht: „Todo lo anterior tal vez ocurrió así.“ Oder: „Pero tal vez todo ocurrió de otra manera. Las alucinaciones, en 1974, no eran infrecuentes.“44 Tal vez, der vielleicht häufigste Ausdruck im ganzen Roman, hüllt Estrella Distante in eine Atmosphäre umgreifender epistemischer Ungewissheit. Gegen das Monologische und Autoritäre im Diskurs Wieders, gegen dessen „voluntad sin fisuras“45 legt die Erzählung ihre Schwächen offen, ihre Ungewissheiten, ihre Leerstellen, ihre Vergesslichkeit und ihr mögliches Scheitern.

Dennoch verzichtet sie nicht auf den Anspruch auf Wahrheit und Objektivität. Bei aller Abgeleitetheit, Ungewissheit und Kontingenz hält die Erzählung doch zumindest an dem Ideal fest, etwas Gültiges über den Fall Wieder auszusagen. Zu den Formeln, die Indirektheit und Kontingenz ausstellen, gesellen sich dementsprechend immer wieder vorläufige Konklusionen46 und Ausdrücke, die Sicherheit, Unumstößlichkeit, Faktizität verbürgen: „Tuvo que ser así“47 oder: „entonces seguro que“48. Im Netz der verlorenen Spuren, der getrübten Erinnerungen, der Vermutungen, Spekulationen und Halluzinationen verfängt sich ein Residuum an Faktizität, das letztlich auch die Auffindung Wieders in seinem europäischen Exil ermöglicht.

Bolaños Poetik der Rekonstruktion erweist sich somit als direkt abhängig von der philologischen Redesituation, die ihre Erkenntnis immer aus diskursiven Elementen zieht, deren Urheber sie selbst nicht ist, und die sich zur Rekonstruktion eines umfassenderen hermeneutischen Geschehens immer wieder der Vermutung, der Heuristik, der vorläufigen Konklusion bedienen muss. Philologische Erkenntnis ist nie auf deduktiv logischer Wahrheit aufgebaut, sondern notwendigerweise auf Wahrscheinlichkeitsschlüsse angewiesen. Sie muss mit lückenhaften Quellensituationen, mit mehreren Fassungen ihrer Wirklichkeit (den Texten), mit widersprüchlichem Dokumentationsmaterial und unauflösbaren Ambiguitäten umgehen. Dennoch besteht ihre Aufgabe, das hat Peter Szondi49 unnachahmlich gezeigt, nicht in der Auffüllung der Leerstellen, etwa durch die Parallelstellenmethode, sondern in der Rekonstruktion eines hermeneutischen Zusammenhangs mit Respekt vor den Leerstellen und den simultan gültigen Versionen und Interpretationsverläufen. So ist Erkenntnis möglich, ohne dass Leerstellen, Vermutungen, Widersprüche und Wirklichkeitsversionen zu Gunsten einer monologischen Einheitswirklichkeit aufgelöst würden. Die Erkenntnis ist philologisch, da sie nie abschließend, aber dennoch nicht wertlos ist, kein fester Bestand an Wissen, aber „perpetuierte Erkenntnis“50.

Metabolische Intertextualität

Die Entwicklung der Poetik von Estrella Distante vollzieht sich im antagonistischen Wechselspiel gegensätzlicher Poetiken und Ästhetiken. Indem der monologischen, harten und virilen51 Poetik Wieders eine aus Quellen der Philologie gespeiste dialogische Poetik der Rekonstruktion entgegengesetzt wird, leistet die Erzählhaltung des Romans der faschistischen Avantgarde und Nekropoetik ästhetischen Widerstand. Das bedeutet aber nicht, dass sich aus Wieders Poetik und den Gegenstrategien des Romans eindeutig binäre Oppositionen bilden ließen. Dies wird nicht zuletzt deutlich in dem Grenzphänomen der Barbarischen Schriftsteller, die im vorletzten Kapitel des Romans eingeführt werden.

Bei den Barbarischen Schriftstellern handelt es sich um eine der schillerndsten Erfindungen Bolaños, die nicht nur in Estrella Distante, sondern auch in anderen Texten wie Los Detectives Salvajes und ganz besonders in Los sinsabores del verdadero policía ihr Unwesen treibt. Im Signaljahr 1968 in Paris von dem Concierge Raoul Delorme gegründet sind auch sie von avantgardistischen Idealen angetrieben und wollen eine neue Literatur schaffen: „El aprendizaje consistía en dos pasos aparentemente sencillos. El encierro y la lectura.“52 Auch ihre Poetik speist sich wie die Wieders und die des Erzählerkollektivs in Estrella Distante aus einer speziellen Form der Lektüre. Ihre literarische Praxis besteht in konspirativen Treffen, die der Entweihung französischer Klassikerausgaben gewidmet sind,

[…] defecando sobre las páginas de Stendhal, sonándose los mocos con las páginas de Victor Hugo, masturbándoe y desparramando el semen sobre las páginas de Gautier o Banville, vomitando sobre las páginas de Daudet, orinándose sobre las páginas de Lamartine, haciéndose cortes con hojas de afeitar y salpicando de sangre las páginas de Balzac, sometiendo, en fin, a los libros a un proceso de degradación que Delorme llamaba humanización.53

Gegen Ende seines Lebens berührt sich Wieders Biographie mit dieser monströsen Avantgardebewegung und Arturo vermutet in zwei am Rand der Sichtbarkeit existierenden Zeitschriften ein Gedicht und einen Aufsatz Wieders (unter dem Pseudonym Jules Defoe), der Geschichte und Ästhetik der Barbarischen Schriftsteller behandelt. Arturo fasst die zentralen Thesen des Aufsatzes, der in der Gaceta Literaria de Evreux [sic! ] erscheint, wie folgt zusammen:

[…] se propugnaba, en un estilo entrecortado y feroz, una literatura escrita por gente ajena a la literatura […]. La revolución pendiente de la literatura, venía a decir Defoe, será de alguna manera su abolición. Cuando la Poesía la hagan los no-poetas y la lean los no-lectores.54

Die Berührungspunkte der Barbarischen Schriftsteller mit zentralen Punkten in Bolaños Ästhetik sind unverkennbar. Die Definition der Literatur als Anti-Literatur erinnert unmissverständlich an die Konzeption der Anti-Poesie Nicanor Parras, Bolaño gemäß „el más grande poeta vivo de la lengua española“55. Genauso wie Delorme und Wieder inszenierte auch Bolaño sich Zeit seines Lebens als Autodidakten,56 als wilden Leser der Weltliteratur, der seine Jugend abwechselnd in Bibliotheken und Bars verbracht hat. Somit steht Bolaño einer Literatur von unten, einer „literatura del albañal“,57 die Arturo in den Textmassen auffindet, in denen Romero Wieder vermutet, nicht fern. Paul Rodríguez Freire beschreibt Bolaños Projekt als „una necesaria desacralización de la literatura, una desacralización que, no obstante, dio lugar a una escritura tremendamente original y política, no humanista“58 – und was wäre die literarische Praxis der Barbarischen Schriftsteller anderes als eine solche Desakralisierung der Literatur?

Zu guter Letzt zeigt sich Bolaños Werk, sieht man mal von seinen frühen avantgardistischen Happenings als Gründungsmitglied der Infrarealisten ab, weniger inspiriert von der Befreiung der Literatur in neuartige Schreibszenen als von der Produktion komplexer Poetiken aus neuartigen Leseszenen. Nicht die Ersetzung der Texte durch poetische Akte beschreibt Bolaños originellen Weg, sondern die Erneuerung der Poetik durch spekulative Formen des Lesens. Über die Schreibszene schreibt Zanetti:

[Die] vielfältige [Schreib-]Kultur erschöpft sich nicht in der Herstellung von Texten, auch nicht in der Orientierung auf Interpretierbarkeit oder Anwendbarkeit. Sie umreißt vielmehr ein Feld, auf dem Körperbewegungen, Schriftspuren und Gedankengänge immer wieder in ganz unerwartete Konstellationen treten können.

Dies gilt analog von Bolaños favorisierter Leseszene, die in grotesk verzerrter Form von den Barbarischen Schriftstellern zelebriert wird. In ihr geht es nicht nur um das kontinuierliche körperlose Entziffern hermeneutischer Bedeutungszusammenhänge, sondern um die Einbeziehung des Körpers und der konkreten Umgebung in den komplexen und abenteuerlichen Akt des Lesens, das bei Bolaño eine Form des In-der-Welt-Seins ist. Eines von zahlreichen Figurenbeispielen ist Ulises Lima aus den Detectives Salvajes, der mit seinen Büchern duscht, damit ihre physische Zerstörung in Kauf nimmt, ihnen aber dennoch so seine eigentümliche Reverenz erweist.59

Dieser körperbetonte Rezeptionsstil liefert nun auch das Stichwort, mit dem der vorherrschende Modus der intertextuellen Transaktion bei Bolaño beschrieben werden kann. Denn bevor die exzessiven Verweise auf Namen, Werke, Gattungen und ästhetische Konzepte in Bolaños Werk zu hermeneutischen Bedeutungskomplexen zusammengeschlossen werden können, wirken sie in erster Linie durch ihre reine materielle Präsenz, durch ihre exzessive Häufigkeit und Wiederholung, durch ihre Faktizität. Das Lesen stellt in Bolaños Kosmos kein luxuriöses Ausnahmeereignis dar, sondern ist den Figuren und dem Autor tägliches Grundbedürfnis. Nicht der einzelne Text, einzelne Motive, Themen und Erzählfragmente sind die dominanten Bezugsgrößen in Bolaños Intertextualität, sondern das Gesamtwerk und mithin die Totalität aller Werke, der geschriebenen und ungeschriebenen, der veröffentlichten und unveröffentlichten, der realen, imaginären und fiktionalen. Als Arturo von Romero die unzähligen Zeitschriften und Magazine erhält, kann er sie unmöglich im linearen close reading hermeneutisch aufschlüsseln, sondern muss sich erst einmal in einem Verfahren des distant reading60 dem ganzen Korpus widmen: „Las hojée todas.“61 Eine Lesehaltung, die mit der überbordenden Totalität des Geschriebenen fertig werden muss. Als Arturo später in einer katalanischen Bar auf Wieder wartet, öffnet er nicht irgendein Buch, sondern ein Gesamtwerk, dasjenige von Bruno Schulz: „Abrí el libro, la Obra Completa de Bruno Schulz traducida por Juan Carlos Vidal, e intenté leer.“62

Der Versuch, ein Gesamtwerk zu lesen, lässt sich metonymisch auf Bolaños gesamtes literarisches Projekt übertragen und steht mithin für seine prinzipielle Haltung zum Komplex der Intertextualität. Die gesamte Literatur, „ce monstre insatiable“,63 gilt Bolaño ähnlich wie Perec nicht als Komplex aus Bedeutungen, auf die man sich sporadisch bezieht, sondern als Energiequelle, aus der man sich fortwährend ernährt.64 Man könnte diese spezifische Haltung zum Intertextuellen daher als metabolisch bezeichnen. Wichtiger als die Treue zum einzelnen Text oder Textfragment, ist die performative Weitergestaltung, die lebendige Verdauung der Quellen und Einflüsse. Das Lesen erweist sich genau wie das Schreiben als Form des Lebens und als solches ist es unmittelbar an den Körper und an dessen metabolische Prozesse gebunden.

Aufschlussreich für diese Ineinssetzung von Lesen und Leben sind nicht zuletzt die Kapitel 4 und 5 in Estrella Distante, in der die Erzähler das Leben der beiden befreundeten und rivalisierenden Leiter der Dichterwerkstätten in Concepción, Diego Soto und Juan Stein, überwiegend aus ihren Lektüren heraus rekonstruieren. Die beiden Kapitel enden mit dem Auftauchen einer dritten Dichterfigur: Lorenzo. Lorenzo wurde, wie wir erfahren, in Pinochets Chile geboren, in einer mittellosen Familie und ohne Arme. Zu allem Übel entdeckt er früh seine Homosexualität, „lo que convirtía la situación desesperada en inconcebible e inenarrable“65. Dass Lorenzos Situation in linguistisch-literarischen Termini beschrieben wird, ist kein Zufall, sondern ein Grundzug in Bolaños Biopoetik. So heißt es etwa von Juan Stein, „su adolescencia fue una mezcla de Dickens y Makarenko“66 und anderswo werden zwei vermutlich von Wieder ermordete Frauen sozial hinsichtlich ihrer Lieblingsdichter näher bestimmt:

La diferencia entre ambas era notable, Carmen leía a Michel Leiris en francés y pertenecía a una familia de clase media; Patricia Méndez, además de ser jóven, era una devota de Pablo Neruda y su origen era proletario.67

Am Ende des 5. Kapitels, am Ende der fulminanten Digression über die Schicksale Steins, Sotos und Lorenzos, ist das einzige, was die drei im Geheimen verbindet, die gemeinsame Lektüre des Buches Ma gestaltthérapie von „Frederick Perls, psiquiatra, fugitivo de la Alemania nazi y vagabundo por tres continentes“. Die Art, in der Lorenzo dieses Buch liest, reiht sich ein in den Befund der körperlichen, lebenswichtigen und metabolischen Lektüren: „leyó, entusiasta como casi siempre que leía algo (¿cómo daba vuelta las hojas? ¡con la lengua, como deberíamos hacerlo todos! )“.68

In einem kanonischen Aufsatz der Intertextualitätsforschung hat Michel Riffaterre die folgende Definition vorgelegt:

Intertextuality is a linguistic network connecting the existing text with other preexisting or future, potential texts. It guides reading.69

Im Gegensatz zu anderen Forschern betont Riffaterre eher die kontextbeschränkende Wirkung der Intertextualität, die den Text nicht willkürlich für alle möglichen Bezüge öffnet. Der zur Entstehungszeit des Aufsatzes noch nicht wie heute ubiquitäre Terminus der Hypertextualität hingegen beschreibt nach Riffaterre genau die bedingungslose Öffnung des Kontextes hin zur Totalität des Geschriebenen und Ungeschriebenen, die in Bolaños metabolischer Intertextualität am Werk ist:

Here lies, I think, the first principle differentiating intertextuality from hypertextuality: the latter collects every available datum, but this exhaustive inclusion exposes the reader to a wealth of irrelevant material. Intertextuality, by contrast, excludes irrelevant data.70

Es ist aus diesem Zitat nicht schwer zu erraten, welchem der beiden Bezugsmodi Riffaterre den Vorzug gibt. Während er die Kreativität der hypertextuellen Methode durchaus anerkennt, sieht er doch nur die Intertextualität in der Lage, den Text objektiv71 zu bereichern. Dieses Problem der Hypertextualität, extreme Entfesselung der Bezüge und daraus resultierende Irrelevanz und Inflation der möglichen Daten, ist der Generalvorwurf konservativer Kritiker gegen die Netzkultur, die ihnen als Inkarnation hypertextueller Praktiken gilt. Bolaño löst dieses Problem, indem er die Intertextualität (oder Hypertextualität) von der Fixierung auf Semiotik befreit und sie zu einer gelebten Intertextualität ausweitet. Er löst das Problem also nicht durch eine Begrenzung der Hypertextualität, sondern im Gegenteil durch eine Übertreibung ihrer Entfesselungstendenzen. Die Relevanzfrage ist damit nicht suspendiert, sondern entscheidet sich in der konkreten gelebten Konstellation immer wieder aufs Neue. So überwindet Bolaño die Einfluss-Angst, den „horror of contamination“72, zu Gunsten einer Ekstase der Einflüsse.73

Folgerichtig steht am Horizont der metabolischen Lektüre auch nicht wie bei den Barbarischen Schriftstellern die Abschaffung der Literatur, sondern ihre Öffnung zum Unendlichen hin. In seinem autobiographischen Essay Fragmentos de un regreso al país natal hat Bolaño dazu ein eindrückliches Bild gefunden: „el pozo de los grandes poetas, en donde sólo se escucha su voz que poco a poco se va confundiendo con las voces de otros“.74 Gegen Wieders „voluntad sin fisuras“ ist Selbstaufgabe hier das Ideal des Dichters, der seine Autonomie im konfusen Stimmengewirr der Literaturgeschichte nur dann bewahrt, wenn er sich der Kontamination durch die anderen Stimmen öffnet, und nicht, wenn er sich von ihnen abschottet. Jeder Schriftsteller wird so nach und nach zur Stimme in einer „antología móvil“75, eingehüllt in Nebel, abwechselnd verschwindend und wiederauftauchend, wie es von Wieder auf der Schwelle seiner beiden großen Lebens- und Werkphasen heißt.

Öffnung hin zur Alterität, nicht Abschottung in die Authentizität ist demnach die Signatur der Politik der Intertextualität in Bolaños Estrella Distante. Dabei ist diese Öffnung noch radikaler als es herkömmliche hypertextuelle Strategien sind: Nicht allein die Totalität des Geschriebenen bildet Bolaños größenwahnsinnigen Darstellungshorizont, sondern die Unendlichkeit des Geschriebenen und Ungeschriebenen, des Veröffentlichten und Unveröffentlichten. Damit stehen die wirkliche und die virtuelle Literaturgeschichte der Literatur Bolaños zur freien Aneignung offen, allerdings nicht im Auftrag einer autoritären Literatur der Inskription, auf die exemplarisch Wieders Wiederholung der Genesis zielt, sondern im Sinne eines kreativen76 und radikal selbstvergessenen Umgangs mit ihr.

Dementsprechend groß ist die Bedeutung, die in Bolaños Werk der Übersetzung beigemessen wird – eine weitere Form des Schreibens, die auf philologischer Praxis beruht. Entgegen der üblichen Auffassung als Hilfsmittel der Originalwerke spricht Bolaño der Übersetzung immer wieder einen autonomen Status zu. Folgt man der Idee der metabolischen Kontamination besteht jedes Schreiben zu einem signifikanten Teil aus Übersetzungsbewegungen und hin und wieder wird die Übersetzung sogar vor dem genuinen Schreiben als die größere Leistung gerühmt. Das herausragende Beispiel in Estrella Distante ist Diego Soto, der sich ausgerechnet an die Übersetzung von Perecs Roman ohne e, La Disparition, macht, was ihm zwar nur zur Hälfte gelingt: „Pero una cosa era escribir sin la e y otra muy distina traducir sin la e“.77

Metabolismus, Alterität, Unendlichkeit, Selbstaufgabe und Übersetzung sind die fünf Säulen der intertextuellen Logik in Bolaños Estrella Distante. Ihr Aufbau vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern profiliert sich erst nach und nach im Widerstand gegen eine feindliche Poetik und Ästhetik, die dessen ungeachtet mit zunehmendem Fortschreiten der Romanhandlung immer mehr formale Ähnlichkeiten mit den ästhetischen Überzeugungen des Erzählerkollektivs teilt: So schreitet Wieder von einer autoritären, vertikalen Literatur zur inferioren Kloaken-Literatur im Dunstkreis der Barbarischen Schriftsteller herab, öffnet sich (gewollt oder ungewollt, wir wissen es nicht) der Kontamination und artikuliert am Ende eine Philosophie der Literatur, die der von Bolaño bewunderten Anti-Poesie Nicanor Parras verdächtig nahe kommt. Da diese unheimliche Nähe feindlicher Poetiken im Raum der gelebten metabolischen Intertextualität immer möglich ist, muss die intertextuelle Poetik in Estrella Distante durch eine Politik der Intertextualität ergänzt werden, die ihren Gegnern zusätzlichen Widerstand leisten kann. Allein mithilfe formaler und stilistischer Strukturen, die, das hat das Beispiel der Avantgarden gezeigt, in Bolaños Kosmos fundamental ambivalent sind, kann der Widerstand nicht gelingen.

Tragische Wirkungslosigkeit?

Im Raum der gelebten, metabolischen Intertextualität ist nicht der Text das Elementarteilchen der Literatur, sondern das Werk und die Leser, die von ihm leben und es so am Leben erhalten. Dennoch enthält Bolaños spekulativer Literaturbegriff eine tragische Dimension, deren prägnantesten Ausdruck vielleicht der fiktive Literaturkritiker Iñaki Echavarne in Los Detectives Salvajes gefunden hat:

Durante un tiempo la Crítica acompaña a la Obra, luego la Crítica se desvanece y son los Lectores quienes la acompañan. El viaje puede ser largo o corto. Luego los Lectores mueren uno por uno y la Obra sigue sola, aunque otra Crítica y otros Lectores poco a poco vayan acompasándose a su singladura. Luego la Crítica muere otra vez y los Lectores mueren otra vez y sobre esa huella de huesos sigue la Obra su viaje hacia la soledad. Acercarse a ella, navegar a su estela es señal inequívoca de muerte segura, pero otra Crítica y otros Lectores se la acercan incansables e implacables y el tiempo y la velocidad los devoran. Finalmente la Obra viaja irremediablemente sola en la Inmensidad. Y un día la obra muere, como mueren todas las cosas, como se extinguirá el Sol y la Tierra, el Sistema Solar y la Galaxia y la más recóndta memoria de los hombres. Todo lo que empieza como comedia acaba como tragedia.78

Auch in Estrella Distante herrscht diese tragische Dimension der Literatur, jenseits ihres fantastischen Intermezzos als poetisch-philologischer Widerstand. Während der Fliegerschau in Santiago, zu der Wieder seine tödliche Revision des Zurita-Gedichts in den Himmel fliegt, kommentiert einer der Anwesenden: „en Chile todos los actos poéticos terminaban en desastres. La mayoría, dijo, son sólo desastres individuales o familiares pero algunos acaban como desastres nacionales.“79 In diesem Sinn erscheint Wieders poetischer Akt als Vorbote des nationalen Desasters, der faschistischen Diktatur Pinochets, die das Land in den folgenden Jahren in Geiselhaft halten wird.

Eine zweite Dimension des Desasters ist denkbar: Das Scheitern der Literatur, das Scheitern auch von Estrella Distante, an der Übermacht der historischen Wirklichkeit, gegen die es nur im fiktionalen und letztlich fantastischen Register der Literatur, nicht aber in der Realität Widerstand leisten kann.

Aber es gibt noch eine dritte Dimension: Auch Wieders poetischer Akt führt ihn letztlich, wenn auch sehr spät, ins persönliche Desaster. Im Verlauf der Erzählung fällt sein Stern, er wird zum Unstern, zum dés-astre, das in der vermeintlichen und philologisch unterstützten Ermordung durch Abel Romero seinen Kulminationspunkt findet. So bleibt Estrella Distante, bei aller tragischen Wirkungslosigkeit von Philologie und Poetik, letztendlich zumindest ein kleines Stück literarischer Vergeltung an der historischen Wirklichkeit.


  1. Zit. nach Bernard Magné, „Pour une pragmatique de l’intertextualité perecquienne“, in Texte(s) et Intertexte(s), hrsg. von Eric Le Calvez und Marie-Claude Canova-Green (Amsterdam: Rodopi, 1997), 71–95, hier: 71.

  2. Roberto Bolaño, Estrella Distante (Barcelona: Anagrama, 1996), 11.

  3. Vgl. Roberto Bolaño, La Literatura Nazi en América (Barcelona: Seix Barral, 1996), 179–204. Die aus Gründen der besseren Lesbarkeit hier und im Folgenden sporadisch auftauchenden deutschen Übersetzungen der Originalzitate stammen von mir.

  4. Bolaño, Estrella Distante, 11.

  5. Bolaño, Estrella Distante, 11.

  6. Vgl. Bolaño, Estrella Distante, 117.

  7. Bolaño, Estrella Distante, 11.

  8. Bolaño, Estrella Distante, 41.

  9. Jorge Luis Borges, Ficcionario: una antología de sus textos, hrsg. von Emir Rodríguez Monegal (México DF: Fondo de Cultura Económica, 1985), 129–136, hier 129: „La obra visible que ha dejado este novelista es de fácil y breve enumeración.“

  10. Bolaño, Estrella Distante, 25.

  11. Bolaño, Estrella Distante, 34.

  12. Zur Kälte als proto-faschistischem Verhaltensprofil vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994).

  13. Bolaño, Estrella Distante, 53.

  14. Bolaño, Literatura Nazi, 191.

  15. Bolaño, Estrella Distante, 93.

  16. Bolaño, Estrella Distante, 45.

  17. Die Entscheidung für die lateinische Sprache und den religiösen Text lässt auch an die spezifische Verschränkung von Kirche und Diktatur denken, die unter Pinochet stattgefunden hat und die sich Bolaño anderswo erzählerisch zum Thema gemacht hat, vgl. Roberto Bolaño, Nocturno de Chile (Barcelona: Anagrama, 2000).

  18. Bolaño, Estrella Distante, 89–91.

  19. Raúl Zurita, Anteparaíso (Santiago: Editores Asociados, 1989), 9.

  20. Bolaño, Estrella Distante, 53.

  21. Achille Mbembe, „Necropolitics“, übers. v. Libby Meintjes, Public Culture 15, Nr. 1 (2003): 11–40, hier: 13.

  22. Mbembe, „Necropolitics“, 18.

  23. Ich übernehme den Begriff aus Sandro Zanetti, „Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Zum analytischen Potential der Literatur“, in Logiken und Praktiken der Kulturforschung, hrsg. von Uwe Wirth (Berlin: Kadmos, 2009), 75–88, der sich wiederum auf die einschlägigen Überlegungen von Rüdiger Campe bezieht.

  24. Vgl. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1972).

  25. Roberto Bolaño, Los Detectives Salvajes (Barcelona: Anagrama, 1998), 151.

  26. Mbembe, „Necropolitics“, 18.

  27. Vgl. F. T. Marinetti, „Fondazione e Manifesto del Futurismo“, in ders., Teoria e Invenzione Futurista, hrsg. von Luciano de Maria (Mailand: Mondadori, 1968), 7–14, hier: 11: „Noi vogliamo glorificare la guerra – sola igiene del mondo – il militarismo, il patriottismo, il gesto distruttore dei libertari, le belle idee per cui si muore e il disprezzo della donna.“

  28. Vgl. André Breton, „Second Manifeste du Surréalisme“, in ders., Œuvres complètes, Bd. I, hrsg. von Étienne-Alain Hubert (Paris: Gallimard, 1988), 775–828, hier 782f.: „L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule.“

  29. Bolaño, Estrella Distante, 143.

  30. Bolaño, Estrella Distante, 37.

  31. Vgl. Pedro Escribano, „Javier Cercas: ‚Bolaño tenía un sentido belicoso de la literatura‘“, La República (Peru) (6. April 2014), www.larepublica.pe/06-04-2014/bolano-tenia-un-sentido-belicoso-de-la-literatura

  32. Bolaño, Estrella Distante, 50f.

  33. Bolaño, Estrella Distante, 51.

  34. Dies liegt vor allem an der andächtigen, fast rituellen Haltung, die das Publikum Bibianos, zu dem Arturo B gehört, einnimmt: „nosotros lo mirábamos a él, los tres quietos, con las manos juntas, como si estuviéramos reflexionando o rezando“ (Bolaño, Estrella Distante, 51).

  35. Bolaño, Estrella Distante, 51.

  36. Bei Bolaño heißt es: „Carlos Wieder junto a la ventana, en perfecto estado, sosteniendo una copa de whisky en una mano que ciertamente no temblaba y mirando el paisaje nocturno.“ (Bolaño, Estrella Distante, 102) Die berühmte Parallelstelle bei Ernst Jünger, „Das zweite Pariser Tagebuch“, in ders., Sämtliche Werke, Bd. 3 (Stuttgart: Klett-Cotta, 1979), 9–294, hier: 271, lautet: „Alarme, Überfliegungen. […] Beim zweiten Mal, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird.“ Wie der Soldat Jünger schaut auch Wieder, der Mörder, in seinem Habitus der Kälte von oben herab auf die nächtliche Stadtlandschaft und gönnt sich zum Leid der Bevölkerung einen Drink. Die Identifikation der nächtlichen, schwach beleuchteten Landschaft mit der armen und notorisch leidenden Bevölkerung, die sie bewohnt, findet sich in Bolaños Gesamtwerk unzählige Male, hier: „una escenografía del crimen en el Tercer Mundo, en los años sesenta y setenta: casas pobres, descampados, quintas de recreo mal iluminadas.“ (Bolaño, Estrella Distante, 125.)

  37. Bolaño, Estrella Distante, 87.

  38. Wir wissen nicht, ob Wieder unter demselben „horror of contamination“ leidet, den Ibsen Shakespeare gegenüber verspürt hat, aber sehr wohl, dass diese Form extremer Kontamination einem ästhetischen Selbstverständnis widerspricht, das sich auf Hygiene, Reinheit und Härte gründet. Vgl. Harold Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry (New York, Oxford: Oxford University Press, 1997), xxiv.

  39. Bolaño, Estrella Distante, 126.

  40. Den Angaben des Verlags zufolge sagte Bolaño selbst über seinen Roman Los sinsabores del verdadero policía (Barcelona: Anagrama, 2011): „El policía es el lector, que busca en vano ordenar esta novela endemoniada.“ (http://www.anagrama-ed.es/titulo/NH_482, zugegr. am 1.11.2014).

  41. Bolaño, Estrella Distante, 80.

  42. So heißt es von Bibiano: „Mientras tanto no olvidaba a Carlos Wieder y juntaba todo lo que aparecía sobre él o sobre su obra con la pasión y la dedicación de un filatelista.“ (Bolaño, Estrella Distante, 52f.)

  43. Bolaño, Estrella Distante, 29.

  44. Bolaño, Estrella Distante, 92.

  45. Bolaño, Estrella Distante, 53.

  46. Vgl. Bolaño, Estrella Distante, 107: „La conclusión (provisional, en modo alguno definitiva) […]“

  47. Bolaño, Estrella Distante, 29.

  48. Bolaño, Estrella Distante, 66.

  49. Vgl. Peter Szondi, „Über philologische Erkenntnis“, in ders., Schriften, Bd. I, hrsg. von Wolfgang Fietkau (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978), 263–286.

  50. Szondi, „Philologische Erkenntnis“, 265.

  51. Zur Virilitätskonzeption von Wieders Poetik vgl. v.a. die Version seiner Geschichte in La Literatura Nazi en América: „El silencio es como el canto de las sirenas de Ulises, dijo, pero si lo atraviesas como un hombre ya nada malo puede occurirte.“ (Bolaño, Literatura Nazi, 188.)

  52. Bolaño, Estrella Distante, 139.

  53. Bolaño, Estrella Distante, 139.

  54. Bolaño, Estrella Distante, 143.

  55. Roberto Bolaño, Entre paréntesis (Barcelona: Anagrama, 2004), 132.

  56. Vgl. Bolaño, Estrella Distante, 14.

  57. Bolaño, Estrella Distante, 129. So findet sich in Bolaños Werk immer wieder die positive Konnotation des Lumpigen, das eine Ästhetik beschreibt, die aus der sozialen Inferiorität stammt und der bürgerlichen Fetischisierung von Kultur und Anstand direkt entgegensteht. Vgl. den letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Roman: Roberto Bolaño, Una novelita lumpen (Barcelona: Mondadori, 2002). Vgl. auch die Charakterisierung Benno von Archimboldis in Roberto Bolaño, 2666 (Barcelona: Anagrama, 2004), 1051: „Era esencialmente un lumpen, un bárbaro germánico, un artista en permanente incandescencia“.

  58. Raúl Rodríguez Freire, „Bolaño, Chile y desacralización de la literatura“, Guaraguao, Nr. 44 (2013): 63–74, hier: 67.

  59. Vgl. Bolaño, Detectives, 237.

  60. Das Konzept stammt von Franco Moretti, der ebenso wie Perec und Bolaño, aber mit anderen Mitteln, ein Projekt verfolgt, das die Totalität der Literatur zum Gegenstand hat. Vgl. Franco Moretti, „Conjectures on World Literature“, New Left Review, Nr. 1 (2000): 54–68, hier: 58ff.

  61. Bolaño, Estrella Distante, 129. Auch hier berührt sich die Lektürepraxis mit der Detektivkunst, da beide Praktiken, Philologie und Kriminologie, ihr Zielobjekt zuerst systematisch einkreisen müssen, bevor sie es im Detail dingfest machen können.

  62. Bolaño, Estrella Distante, 151.

  63. Gérard Genette, „L’utopie littéraire“, in ders., Figures, Bd. I (Paris: Seuil, 1966), 123–132, hier: 128.

  64. In diesem Sinne spricht Georges Perec in einem Interview mit Jean Royer von den „auteurs qui m’entourent, qui m’ont nourri“. Vgl. „La vie est une livre“, Le Devoir, 2.6.1979.

  65. Bolaño, Estrella Distante, 81.

  66. Bolaño, Estrella Distante, 61.

  67. Bolaño, Estrella Distante, 42.

  68. Bolaño, Estrella Distante, 85.

  69. Michel Riffaterre, „Intertextuality vs. Hypertextuality“, New Literary History Bd. 25, Nr. 4 (1994): 779–788, hier: 786.

  70. Riffaterre, „Intertextuality vs. Hypertextuality“, 786.

  71. Vgl. Riffaterre, „Intertextuality vs. Hypertextuality“, 785: „[Intertextuality] provides clues that are not historical and subjective in nature, but grammatical or lexical, and objective.“

  72. Bloom, Anxiety, xxiv.

  73. Vgl. Jonathan Lethem, „The Ecstasy of Influence. A Plagiarism“, Harper’s Magazine, (Februar 2007): 59–71.

  74. Bolaño, Entre paréntesis, 70.

  75. Bolaño, Estrella Distante, 103.

  76. Diese Lust an der kreativen, metabolischen Verarbeitung der Literatur hat sich Bolaño auch in seiner Literaturkritik zu eigen gemacht. An einer der exquisitesten Stellen heißt es zur Situation der argentinischen Literatur nach Borges: „Si Arlt, que como escritor es el mejor de los tres, es el sótano de la casa que es la literatura argentina, y Soriano es un jarrón en la habitación de invitados, Lamborghini es una cajita que está puesta sobre una alacena en el sótano.“ (Bolaño, Entre paréntesis, 28)

  77. Bolaño, Estrella Distante, 76.

  78. Bolaño, Detectives, 484.

  79. Bolaño, Estrella Distante, 90.





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