Die Gralssuche als Sauftour
Mittelalterliche Erzählstrukturen in Bernard Leonettis parodistischem Fantasy-Thriller La Quête brestoise (2007)
Anna Isabell Wörsdörfer
Ort ist die französische Hafenstadt Brest unserer Tage. Die Protagonisten sind ein kränkelnder Barbesitzer, der seine besten Zeiten längst hinter sich hat, ein ehrgeiziger Immobilienhai, der sich die Stadt mit unlauteren Mitteln einzuverleiben gedenkt… auf den ersten Blick keine Zutaten für einen Fantasy-Roman – wäre da nicht die Tatsache, dass es sich bei ersterem um die Reinkarnation des Fischerkönigs Pelles, bei letzterem um jene des korrumpierten Artusritters Gauvain handelt, und dass Chevalier, der typisierte Held der Geschichte, ein über Jahrhunderte schlafender Ritter ist, der nun wiedererweckt wurde, um seinem Erzfeind bei der Suche nach einem geheimnisvollen Artefakt zuvorzukommen. La Quête brestoise – reich an phantastischen Elementen wie helfenden und schadenden Feen, mysteriösen Nebeln, heilenden Elixieren und Zauberdosen – ist ein modernes Fantasy-Abenteuer in unserer Wirklichkeit, in der gute und finstere Mächte zu ihrem Endkampf im Finistère – am „Ende der Welt“ – aufeinandertreffen.
Der vorliegende Beitrag hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen mit „polar arthurien“, d.h. Artus-Krimi, untertitelten Roman unter dem Aspekt der narrativen Parallelen zwischen roman courtois und phantastischem Thriller – als eine Untergattung des Kriminalromans – zu untersuchen und damit erste Vergleichsstudien über analoge Denk- und Handlungsmuster in mittelalterlicher Literatur einerseits und jungem Fantasy-Genre andererseits zu erweitern.1 Dabei sollen vor allem die Ähnlichkeiten in den Gattungsstrukturen in den Blick genommen und das gemeinsame Hauptmotiv der Queste herausgearbeitet werden: Sowohl bei der mittelalterlichen Aventürenfahrt als auch bei der actiongeladenen Krimi-Handlung geht es um eine (Grals-),Suche, die bei Leonetti, u.a. aufgrund des Kontrasts zwischen Chevaliers früherer Lebenswelt und dem modernen Brest, einige parodistische Züge erhält: So hat sich der „Ritter“ in einem Abenteuer etwa einem „geifernden Ungeheuer“ – in Form eines Wasserrohrbruchs – zu stellen und damit einer „Dame in Nöten“ beizustehen. Ein andermal trifft er auf seinem feuchtfröhlichen Streifzug durch die bretonischen Bars (von denen er in einer den gesuchten Gegenstand vermutet) eine in seinen geheimen Auftrag Eingeweihte, die ihn auf die richtige Fährte zurückführt, indem diese „Fee“ ihm unter Einflößung eines – stark alkoholischen – „Kräutertranks“ eine „Weissagung“ zuteilwerden lässt. Nicht zuletzt soll auch die Raum-Zeit-Struktur des Fantasy-Thrillers analysiert werden, die als Heterotopie nach Foucault und mit Bachtin als wunderbare Welt, in der die Zeit des Abenteuers vorherrscht, beschrieben werden kann und derjenigen des höfischen Romans ähnelt: Beim letzten Gefecht, das auf einer Yacht ausgetragen wird, die im Inneren eine Steingrotte birgt, umgeben von dichtem Nebel, steht die Zeit still und scheint eigenen phantastischen Gesetzen zu gehorchen.
Dass sich der im hochmittelalterlichen roman courtois und seinen spätmittelalterlichen Prosa-Remaniements verarbeitete Artusstoff im Allgemeinen als überaus langlebig und damit auch als ausgesprochen anschlussfähig an die moderne Literatur2 erweist, liegt zum großen Teil in den ihm eigenen Unbestimmtheitsstellen begründet, die jenseits des unveränderlichen Kerns seine kontinuierliche Aktualisierung und Adaptierbarkeit in ganz unterschiedlichen Kontexten und innerhalb der verschiedensten Nationalliteraturen gewährleisten.3 Dass sich die Matière de Bretagne besonders in der französischen Kriminalliteratur nach der Jahrtausendwende großer und anhaltender Beliebtheit erfreut,4 ist einerseits mit der generellen Offenheit dieses Genres für phantastische Elemente5 zu erklären, von denen der bretonische Stoffkreis bekanntlich ebenfalls eine große Anzahl aufweist. Andererseits ist die gegenseitige Affinität, so die hier vertretene These, auf die vielgestaltigen Gattungsparallelen zurückzuführen, die zwischen Ritterroman auf der einen und Detektiv-/Agentenroman auf der anderen Seite existieren. Der Agentenroman oder Thriller wird hier nach Peter Nusser6 als eine der beiden Untergattungen des Kriminalromans definiert, der den Gegenpol zum Detektivroman bildet und sich im Gegensatz zu diesem durch Aktion und Zukunftsgerichtetheit auszeichnet: Nicht ein in der Vergangenheit liegendes, rätselhaftes Verbrechen, das es durch Spürsinn und Kombinationsgabe aufzuklären gilt, sondern der nach einem Auftrag stattfindende, lineare Wettlauf zwischen zwei gegnerischen Parteien um das Erreichen eines bestimmten Ziels mit finalem Showdown steht im Thriller im Zentrum.
Wie aus dem Vorausgegangenen hervorgeht, weisen die primären Handlungselemente dieses Kriminalsubgenres einige Parallelen zu denjenigen mittelalterlicher Ritterliteratur auf: In beiden Fällen ist die Makrostruktur des Romans durch das Questenmotiv bestimmt. Ritter wie auch Agenten befinden sich auf einer abenteuerlichen Suche, an deren Ende das Erlangen eines kostbaren Gegenstands (des Grals, eines seltenen Heil- oder Kampfmittels) und/oder die Wiederherstellung der gestörten Ordnung steht. Bei dieser Aufgabe behindert werden sie, die eindeutig auf der Seite des Guten und des Gesetzes stehen, immer wieder durch ihre bösen Widersacher („schwarze“ Ritter, Ungeheuer oder irdische Bösewichte), die eigene, korrupte Pläne verfolgen. Am Ende kommt es immer zur entscheidenden Konfrontation, bei welcher der Held in der „Funktion des Drachentöters“7 seinen Erzfeind überwältigt und also – in der mittelalterlichen Literatur teilweise im wahrsten Wortsinne – als Sieger vom (Schlacht-),Feld geht. Darüber hinaus sind weitere Übereinstimmungen in den sekundären Elementen der zwei Romangattungen festzustellen: Dem Protagonisten stehen Gefährten (Knappen, ritterliche Waffenbrüder oder sogenannte „Watson-Figuren“) hilfreich zur Seite. Diese begleiten den Helden an die mitunter zwielichtigen Orte des Abenteuers – sei es wie im mittelalterlichen Kontext die Wildnis/der Wald8 oder seien es Spelunken und Bordelle wie im Kriminalgenre geläufig. In Zusammenhang mit letzteren Stätten sind auch die beiden Nebenmotive des Alkohols und der Liebe/Sexualität zu erwähnen, die oftmals mit der Aventürenfahrt bzw. der kriminalistischen Handlung (v.a. derjenigen der hard boiled-Krimis) in Beziehung stehen. Die nicht gleich so offensichtliche Verbindung zwischen ersterem und der Artusliteratur besteht in der Gralsmotivik, handelt es sich bei dem mysteriösen Objekt des Heiligen Grals doch schließlich gemäß der auf Robert de Boron zurückgehenden Erzähltradition – angeblich – um den (Wein-),Kelch des Letzten Abendmahls.9 Hieran lässt sich auch schon das parodistische Potenzial der Matière de Bretagne und des Gralsstoffs erahnen, wenn sie in der mit den unterschiedlichen Stilebenen spielenden (post-),modernen Kriminalliteratur aufgenommen und entsakralisiert werden. Doch bevor diese strukturellen Analogien im Detail am Beispiel von Leonettis Roman zu konkretisieren sind, soll die literarische Artus- und Gralsrezeption als inhaltlicher Referenzpunkt mit den für den polar arthurien wichtigsten Inspirationsquellen vorangestellt und expliziert werden.
Am Ende des 12. Jahrhunderts findet der (zunächst noch nicht heilige) Gral Eingang in die Artusliteratur:10 Chrétien de Troyes beschreibt ihn im letzten seiner fünf höfischen Romane Perceval bzw. Conte del Gral (ca. 1180–1190) als eine Schale, die den dahinsiechenden Roi Pêcheur und Gastgeber Percevals täglich ernährt. Da es der junge Held versäumt, die erlösende Frage nach dem Wesen der Krankheit und des Artefakts zu stellen, sind Personen und Gral am nächsten Morgen verschwunden, was den Beginn der Suche nach dem mysteriösen Objekt darstellt. Die geheimnisumwobene Aura des Grals rührt nicht zuletzt auch von der Tatsache, dass Chrétien die auf zwei parallele Handlungsstränge angelegte Queste – nämlich die Percevals und die Gauvains – nicht vollendet hat und seine Nachfolger vor die schwierige Aufgabe der Fortsetzung und Vollendung des Fragments stellt.11 Unabhängig davon liefert der bereits erwähnte Anglonormanne Robert de Boron12 etwa zeitgleich zum Conte del Gral mit dem ersten Buch seiner Gralstrilogie, Joseph d’Arimathie (ca. 1190–1201/02), die christliche Vorgeschichte des nun ‚Heiligen‘ Grals: Gemäß Robert handelt es sich dabei um den Kelch des Letzten Abendmahls, in welchem der Anhänger und Grabspender Jesus dessen Blut nach der Kreuzabnahme aufgefangen haben und den sein Verwandter Bron, der spätere Fischerkönig, nach Europa gebracht haben soll. Beide Stofftraditionen verschmelzen schließlich in den Prosafassungen des 13. Jahrhunderts, im umfangreichen Lancelot-Graal-Zyklus,13 miteinander, der mit dem Scheitern der Mehrheit der Gralssucher und dem Untergang des Artusreichs endet. Doch sind es nicht die Remaniements, die in der Folge die neuzeitliche Rezeption maßgeblich bestimmen, sondern die 21 Bücher umfassende mittelenglische Mammutkompilation Morte Darthur (1469/70) von Thomas Malory14 in der Druckfassung von Caxton (1485). Aufgrund des pessimistischen Ausgangs der Artusepik und der damit einhergehenden Konjunktur anderer ritterlicher Vorbilder (Charlemagne, Amadis) verschwindet die Gralsthematik bis ins 19. Jahrhundert hinein weitgehend aus der französischen Kultur und Literatur,15 wohingegen der Stoff in England durch die Malory-Rezeption und die mythische Legitimierung der Monarchie eine ungebrochene Aufmerksamkeit und eine zweite Heimat erhält.16 Das im 19./20. Jahrhundert zu beobachtende Ringen um das kulturelle Erbe der Matière de Bretagne zwischen Frankreich und England und die daraus resultierende Abgrenzung17 weicht heutzutage zunehmend einer literarischen Mischkultur,18 präsentiert sich der Artus- und Gralsstoff heutzutage doch als ein Konglomerat aus frankophonen und anglophonen Traditionen, wobei auch der Beitrag der USA19 nicht zu verachten ist, sodass sich selbst Indiana Jones (Steven Spielberg, Indiana Jones and the last Crusade, 1989) und Robert Langdon (Dan Brown, The Da Vinci Code, 2003) auf die abenteuerliche Gralssuche begeben.
Leonettis La Quête brestoise weist schon im Titel explizit auf die Abenteuerstruktur der Geschichte hin. Auch die Überschriften der vier großen Romanpartien schlagen mehrheitlich die Richtung eines an mittelalterliche Erzählweisen angelehnten Narrativs ein: Mit L’Entrée en Lice betreten Chevalier und seine Gegner symbolisch das Turnierfeld, darauf folgt in La Piste die (Grals-)Suche im engeren Sinne und schließlich kommt es in Brumes, dem für Brest typischen Nebel (an die ‚Nebel von Avalon‘20 erinnernd), zum Endkampf.21 Und nicht zuletzt bergen auch die Titel der Einzelkapitel – wie etwa Le chevalier sans nom und Le roi pêcheur oder Le secret de la licorne und La Belle au Bois dormant – nicht selten Anspielungen auf in der ritterlich-höfischen Literatur wie auch im modernen Schmelztiegel eines wunderbar-märchenhaften Universums beheimatete Gestalten und Motive. Auf diese Weise fügen sich die Romanfiguren – ähnlich wie in Terry Gilliams Film The Fisher King (1991) – wie Reinkarnationen mittelalterlicher Protagonisten in die Kulisse des modernen Brest ein: Initiator des „Abenteuers“ ist Jo(seph), eine Postfiguration Josephs von Arimathäa, der den Gral im vorliegenden Roman für einen Schluck Wein in einer Hafenkneipe verschachert hat. Als Besitzer derselbigen stellt sich im Laufe der Handlung Le Bernique alias Pellec22 heraus, der an einer namenlosen Krankheit leidet (Symptom: Blut im Urin) und als inkarnierter Fischerkönig im Brester Seemannsmilieu nicht passender hätte verankert sein können. Auf der Gegenseite fungiert der heutige (Marcel) Gauvain als zwielichtiger Unternehmer und Inhaber von BREIZ IMMO, der es auf das Penfeld, das Hafengebiet von Brest, abgesehen hat und der seinem – einstmals mustergültigen, aber seit dem französischen Prosazyklus allzu diesseitig-sinnlich orientierten – mittelalterlichen Vorfahr23 im unbeständigen Umgang mit Frauen (er betrügt seine Gattin und verführt hier sogar eine Praktikantin gegen ihren Willen) in Nichts nachsteht. Der bretonische Ermittler24 bzw. Agent der Geschichte ist der unter einem entpersonalisierten „Decknamen“25 auftretende Hieronymus Chevalier, der einzig überindividuelle ritterliche Merkmale aufweist, und demnach – wie auch die übrigen Figuren (Aimée: die Geliebte, l’ennemi/le vilain: der Erzbösewicht) – in erster Linie einen Stereotyp (des mittelalterlichen Romans) repräsentiert. Auch die helfenden und schadenden Nebenfiguren – die Dame Blanche und la fille gothique sowie L’Hun et l’Autre – sind mit sprechenden Namen ausgestattet, die das Typenhafte und Entindividualisierte sowohl der Frauengestalten als feenhafte Wesen als auch der Ganoven über die Homonymie „l’un et l’autre“ deutlich hervortreten lassen.
Es ist dieses postmoderne Spiel mit der Doppeldeutigkeit und Mehrdimensionaliät, das Leonetti in La Quête brestoise auch in Bezug auf das Haupthandlungsmotiv betreibt. Die Queste wird hier nämlich mit dem Begriff „piste“ – zu Deutsch in etwa „Fährtenjagd“ – gleichgesetzt, der aufgrund seiner Bedeutungsfülle mehrere Aktionslinien des Romans parallelführt und bewirkt, dass sich diese immer wieder gegenseitig durchdringen. Eine erste solche – noch relativ naheliegende – Überlagerung der Gralssuche in ihrem eigentlichen, d.h. mittelalterlichen Gebrauch findet durch ihre sinngemäße Adaption an das Kriminalgenre statt: Auf narrativer Ebene und der abenteuerlich-actionreichen Thrillerstruktur entsprechend gleicht diese (ihrer genuin spirituellen Konnotationen weitgehend beraubt) in erster Linie einer Schatzsuche (von einem zum nächsten Hinweis).26 So orientiert sich Chevalier auf seiner Mission bezeichnenderweise an einer Art „Schatzkarte“ – einer Liste aller Bars und anderer Objekte, die der Immobilienhai Gauvain auf seinem Miniaturplan von Brest markiert hat. Eine dritte, vom ursprünglichen Sinn auf den ersten Blick entferntere, da banale Bedeutungs- und Aktionsebene bringt Le Bernique ins Spiel, der Chevalier über die ganz spezielle Wortverwendung von „piste“ im Brester Kneipenmilieu aufklärt:
Que je vous explique. Vous partez droit devant et vous faites les bars sans savoir quand vous reviendrez. Une bonne piste peut durer une semaine. Certains y sont depuis des années, mais il ne faut pas pousser non plus. Vous buvez, vous mangez sans n’avoir rien programmé si ce n’est l’esquisse d’un itinéraire pour lancer l’aventure, que ne l’oublions pas, signifie étymologiquement, ce qui doit arriver. Vous dormez chez des gens connus ou inconnus que vous avez rencontrés au hasard des hasards. Mais vous n’êtes pas obligé de dormir. Vous continuez votre dérive. Les bars sont vos ports d’escale et cela dure jusqu’à ce qu’une mystérieuse injonction y mette fin.27
Die Fährtenjagd wird in Le Berniques Worten zur reinen „Verfolgung der Alkoholfahne“, einer Sauftour durch das Hafenviertel der Stadt. Nichtsdestotrotz sind einige Ähnlichkeiten mit der ritterlichen Aventürenfahrt augenfällig, wie er selbst betont: Die aventure28 birgt das Zufällige, aber auch das dem höfischen Helden schicksalhaft Zu-Fallende während seiner Ausfahrt, seinem vorübergehenden Weggang vom Artushof. Auch der Streifzug durch die Schankstätten ist ein außeralltägliches Ereignis und hat – dem zunehmenden Weinpegel geschuldet – etwas Unvorhersehbares an sich, das je nach dem Grad der Alkoholisierung durchaus als höhere Fügung betrachtet werden kann. Doch dürfen diese Übereinstimmungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die so verstandene Queste eine eindeutige Degradierung in Form der Trivialisierung erfährt, wie es u.a. auch schon in Monty Pythons The Holy Grail (1975) – zu Deutsch bekanntlich Die Ritter der Kokosnuss – der Fall war: Die Gralssuche von einst mit ihren idealen Prinzipien, die im mittelalterlichen Roman nur Auserwählten vorbehalten war, ist mit Leonetti auf dem – prosaischen und weingetränkten – Boden der Tatsachen angekommen.
Zwei weitere Belege mögen die Beobachtung der tendenziell spielerischen Banalisierung stützen: Zum einen handelt es sich bei der konstitutiv mit dem Gralsstoff verbundenen Bedrohung, die sich in der mittelalterlichen Literatur als Sündhaftigkeit auf mehreren Ebenen (z.B. Mordred als Frucht des Inzests zwischen Artus und Morgane, Ehebruch Guenièvres mit Lancelot) identifizieren lässt und schlussendlich den Untergang des Artusreichs bewirkt, im Brest der Romanwirklichkeit um westlich-kapitalistische Kommerz-/Konsumsucht, konkret am Beispiel von McDonalds:
– C’est qui, ce McDo ?
– À la fois un concept pour la fin du monde et un lieu de perdition où l’acte de manger est ramené à un rituel de consommation. C’est tenu par un clown, et ses clones s’agitent dans une cuisine installée derrière des caisses enregistreuses. C’est plein de couleurs vives et de machins en plastique. Les enfants ont droit à leur paquet cadeau pour les récompenser de leur dépendance. Leur usine est signalée par un grand M. comme mmm… Avec des gens comme Gauvain, il y en aura de plus en plus, car la finalité de cette gastronomie, c’est la cotation en Bourse. Il y en a même à Lhassa, vous vous rendez compte. Bientôt, chaque village aura le sien. „Finis ton hamburger, mon fils, sinon tu ne seras jamais un bon Américain.“
– C’est un cauchemar, frémit Chevalier. (168–9)
Wird die Fastfood-Kette einerseits über die überspitzten Verweise auf das drohende Weltende und die Orte der Verdammnis an die dunklen Motive der Matière de Bretagne angebunden, sorgen etwa die Vorstellung der Werbefigur und die Erklärung des Firmenlogos in der Rede des schon angetrunkenen Le Bernique durch den Einbruch des allzu Alltäglichen andererseits für einen parodistischen Stilbruch, bei dem der Leser ein Schmunzeln nicht unterdrücken kann. Zum anderen ist das postmoderne Verfahren der ‚Trivialisierung‘ im Gegenstand des (angeblichen?) Heiligen Grals selbst, und zwar in Form der Collage-Technik, angewendet:
Oui, elle était là devant eux […]. Le Bernique la découvrait en même temps que ce gentil fou qu’il connaissait à peine de la veille. Sur le buffet, parmi toutes sortes de choses et d’autres, une Coupe sur un socle de faux marbre avec un morceau de plastique noir collé et portant l’inscription suivante:
championnat du monde de lancer de charentaises
Keremma. 1991.
– Par tous les saints, souffla Chevalier. Elle était si bien maquillée qu’il aurait pu passer devant elle sans la remarquer. (239)
Der Heilige Gral besitzt das Aussehen eines Siegerpokals im Filzschuhweitwurf – einer typisch bretonischen Aktivität: Die Diskrepanz zwischen dem sakralen Objekt der mittelalterlichen Literatur auf der einen und seiner jetzigen Gestalt am Rande zum Kitsch und seiner banalen Funktion auf der anderen Seite könnte kaum größer sein und wird durch die ergriffene Reaktion des „sympathischen Irren“ Chevalier, die zwar dem Artefakt der Stofftradition, nicht aber diesem „Schund“ angemessen ist, besonders herausgestellt. Die einstige erhabene Schlichtheit ist hier einer übertriebenen, eher schlecht als recht gemachten Dekoration – Verkleidung – gewichen, auch hier ruft der parodistische Kontrast beim Rezipienten wieder Belustigung hervor.
Ist die Queste als Hauptstruktur der Handlung somit angemessen charakterisiert, gilt es nun, die einzelnen Bestandteile von Chevaliers ganz besonderer „Aventürenfahrt“ narrativ genauer zu untersuchen, wobei zunächst die beiden Kapitel Voilà le plombier! und Soirée gothique zu Beginn seiner Mission exemplarisch herangezogen werden sollen. Nachdem er die Adressliste von Gauvain bei einem nächtlichen Einbruch erbeutet hat, kann seine Suche beginnen. Dass Chevalier, der das Funktionieren der Kaffeemaschine der „fée Électricité“ (140) zuschreibt und den Taxifahrer Loïc als seinen „Kutscher“ bezeichnet, die moderne Welt nach mittelalterlichem Muster deutet – und dies einen stark parodistischen Effet hat, der sich durch die gesamte Handlung zieht –, ist schon am Einstieg in diese „aventure“ ersichtlich: Ohne einen Plan zu entwerfen, lässt er das Abenteuer wie ein Artusritter auf sich zukommen und wartet wiederholt auf eine Eingebung (vgl. 139, 142). Am zufällig ausgewählten Startort seiner Suche, einem Wohnhaus mit mehreren Mietparteien, muss er zunächst Rückschläge in Form von nicht öffnenden Bewohnern oder knallenden Türen hinnehmen und erste Zweifel29 überwinden, bis sich ihm der richtige Weg „schicksalhaft“ auftut: Eine offenbar auf seine Ankunft wartende Mieterin führt ihn in ihre Küche, dem Schauplatz seiner ersten „ritterlichen Bewährungsprobe“, wie es für ihn den Anschein hat:
Une flaque d’eau se répandait sur le carrelage et la femme eut un air si désespéré que Chevalier sentit une grande compassion sourdre en lui. Il existait tant de misères dans ce monde cruel ! […] Son idéal chevaleresque le pressait de relever le défi que lui lançait la tuyauterie. (143–4)
Dabei tut es Chevaliers Hilfsaktion keinen Abbruch, dass es sich bei dem „Fräulein in Nöten“ im Alltag des heutigen Brest um eine bereits betagtere „personne entre deux âges“ (143) handelt, denn schließlich weist sie ihm bei der erbetenen Reparatur des leckenden Wasserhahns mit dem erleichterten Ausruf „Vous êtes mon sauveur“ (144) seine altangestammte Rolle als ritterlicher Held zu. Scheinbar todesmutig begibt sich Chevalier in den Unterschrank, diese „caverne suintante“, aus der gelegentlich ein „grognement“ (beide 144) zu hören ist, weil „der Ritter“ – „en train d’étrangler le serpent“ – gegen diesen „tuyau diabolique“ (beide 145) ankämpft. Dem mittelalterlichen Narrativ entsprechend, befindet sich Chevalier für die Zeit des „Abenteuers“ quasi in einer anderen Welt, er antwortet auf Fragen mit einer „voix d’outre-tombe“ und kehrt erst wieder mit seiner Abwendung vom „Kampfplatz“ „dans le monde des humains“ (alle 145) zurück. Doch gelingt diese Mission nicht ohne die Hilfe Loïcs, der einem „magicien“ (145) gleich, in Wirklichkeit durch Abdrehen des Haupthahns, zunächst das Austreten des Wassers stoppt und sich anschließend selbst „armé d’un étrange casse-tête“, dem „Kampf“ stellt und damit „le sortilège“ (alle 146) beendet. Die Parallelführung des mittelalterlichen Handlungsmusters, des ehrenwerten Ritterethos, mit der banalen Klempnerarbeit ist nur ein besonders augenfälliges Beispiel für die doppelte – ritterlich-höfische und ironische – Lesart30 dieses gewollt postmodernen Fantasy-Thrillers, die in der nächsten Episode eine weitere Variante erhält.
Wie die Kapitelüberschrift Une soirée gothique durch das mehrdeutige Adjektiv31 schon erahnen lässt, besitzt auch das anschließende Ereignis mehrere (Be-),Deutungsebenen, wie nachfolgend zu zeigen ist. Wieder durchstreift Chevalier die Stadt eher planlos als bewusst suchend (vgl. 148), bis das Abenteuer ihn findet, doch diesmal geht es nicht um den Beistand für eine Hilfsbedürftige, sondern um das (erneute) Zusammentreffen mit einer Eingeweihten, der mysteriösen fille gothique mit dem nach Kräutern duftenden Parfüm, in deren Person sich das Feenhafte der mittelalterlichen („gotischen“) Literatur und Attribute der heutigen Punk- und Gothic-Szene überlagern. Wieder ist auch diese Begegnung vom Zufall32 bestimmt:
Il avait fini sa bouteille – ponctuatée d’un rot – et prenait son café quand il vit passer un groupe de jeunes gens habillés de noir, au teint pâle et aux cheveux soigneusement hirsutes. Puis ce fut elle qu’il vit passer. Elle était dans le sillage du groupe précédemment entrevu. Elle avait une longue robe noire qui contrastait avec la pâleur de sa peau. […] Elle avait certes changé d’aspect, mais c’était bien elle. Il était convaincu que l’odeur de bruyère ne l’avait point quittée. Elle s’arrêta devant la vitrine derrière laquelle il terminait son repas. Son regard de couleur indéfinissable la traversa pour venir la saisir, lui, parmi les autres consommateurs. Elle lui adressa ce qu’il prit pour une invitation à la suivre, mais peut-être était-ce un effet du vin. Puis elle reprit son chemin, nonchalamment, et disparut derrière un arrêt de bus. (149)
Äußerlich unverkennbar der Grufti- und Emo-Bewegung zuzuordnen, legt das geheimnisvolle Mädchen – zumindest in Chevaliers Augen – in ihrem Verhalten deutlich feenhafte Züge an den Tag. Strukturell gleicht die Verfolgung dieser Gothic-Anhängerin (bei der es scheint, als verberge ihr schwarzes Halstuch einen Vampirbiss) in der Tat dem Nachjagen einer Fee, die in der mittelalterlichen Literatur häufig in der Gestalt einer weißen Hirschkuh auftritt, wobei der parodistische Bruch hier mittels des Schwarz-Weiß-Kontrasts vollzogen wird. Chevaliers Verfolgungsjagd endet, wie sollte es im Gothic-Milieu anders sein, in einer Punkrock-Disco, in der die Undurchschaubare schon zwei Gläser für ihn und sich bereithält. Klang Chevaliers Alkoholkonsum33 im obigen Zitat schon an, setzt er sich hier mit dem Genuss von „perceline“ (152), einem mysteriösen Trank, fort, was den Helden spätestens ab diesem Zeitpunkt zu einem unzuverlässigen Erzähler macht. So kann der Inhalt des anschließenden Gesprächs mit der fille gothique einerseits als Halluzination interpretiert werden, andererseits fügt er sich auf der Ebene der mittelalterlichen Lesart34 als wirkliche Offenbarung einer Fee in die Handlung ein. Wie bei beiden Möglichkeiten der Fall, verschwimmen allmählich Raum- und Zeitgefühl des Betroffenen:
– Tu te souviens de moi ? dit-elle.
– Me souvenir…
Il savait qu’elle ne parlait pas de la veille où les choses n’avaient été que prélude à la rencontre ou aux retrouvailles. […]
– J’habitais une chaumière au font de la forêt et tu t’y es arrêté. Tu étais blessé et je t’ai soigné. Comment va la cicatrice que tu portes à la jambe? […]
Il ne savait quels ingrédients composaient la perceline, mais sa tête commençait à tourner. Cela n’était pas désagréable. Il se sentait bien à sa place, bien dans son être, et de plus, en compagnie de cette apparition à l’odeur de bruyère. Une chaumière en forêt, avait-elle dit. En quel temps, en quel lieu?
Il se passa un temps infini où ils n’échangèrent aucun mot.
Il revoyait ou imaginait la lune se mirant dans le miroir d’un étang. „Tu es la plus belle“, disait l’étang à la lune. Le murmure dans les arbres… Le bar était passé dans une autre dimension. Ils étaient dans une bulle qui attendait d’éclater. (152–3)
Betrunkenes oder trancehaftes Wohlgefühl, promilleverursachte Sinnestäuschung oder reale Erinnerungsfetzen – Chevalier befindet sich für die Dauer seines phantastischen Zustandes außerhalb von Raum und Zeit, ein Phänomen, auf das noch zurückzukommen sein wird. In dieser Konstitution erhält er Kenntnisse über Vergangenes – über den Verbleib des Grals, den Joseph in einer der vielen Bars gegen Alkohol eingetauscht hat – und über Zukünftiges – die Ankunft seines Widersachers und den bevorstehenden Kampf – und somit erweist sich das unbekannte, feenhaft-ambivalente Mädchen jenseits jeglicher Phantastik und der Spannung zwischen wunderbarer oder wirklicher Ausdeutung als hilfreiche Informantin des weinseligen „Agenten“ Chevalier innerhalb der Thriller-Handlung.
Der große Showdown zwischen diesem und seinem Erzfeind findet im selbst für Brest unnatürlich dichten Nebel und auf der Luxusyacht des letzteren statt, die im vorletzten Romanteil gleich drei Mal zum ausführlich geschilderten Gegenstand der Narration wird. Mit Brumes wird die phantastische Unentschlossenheit (hésitation)35 der beiden vorausgehenden Partien vollends in Richtung der wunderbaren Explikation, in Richtung einer zeit- und raumlosen, abenteuerlichen Fantasiewelt hin aufgelöst: „L’attente dura le temps que la nuit s’installe dans les palpitations du souffle du dragon. […] Chacun vivait dans une sphère encerclée de mystère. […] Brest, le port, le Finistère, la Bretagne, l’univers entier, tout cela n’existait plus“ (251). Vor dieser Kulisse legt das Schiff von Chevaliers großem Widersacher an, dessen Äußeres es ganz klar als zum Reich der Dunkelheit gehörig kennzeichnet: „Soudain, émergeant de la brume, apparut une masse sombre. […] Le navire accosta dans un silence irréel. Il tenait à la fois du yacht et du voilier – courbure aérodynamique de la coque et voiles ramenées comme des ailes de chauves-souris“ (252). Dass es sich nicht um ein Schiff aus unserer Wirklichkeit handeln kann, geht nicht nur aus den unheilverkündenden Assoziationen mit Kreaturen der Nacht hervor, sondern v.a. aus der Beschaffenheit des Interieur, zu dem ein Steg „comme un pont-levis“ (252) führt und dessen vertäfelte Wände allmählich einem „mur de pierre noire éclairé par des bougies“ (253) weichen. Offenbar sind die Raumgesetze, das Gesetz von Masse und Ausdehnung, vollkommen außer Kraft gesetzt:36
Ils descendirent encore une vingtaine de marches tournant autour du tronc central d’un colimaçon. Vingt marches! Normalement, ils auraient dû toucher le fond du port. Ils arrivèrent enfin dans une vaste pièce aux murs incertains. Des piliers de pierre supportaient un plafond voûté. Des meubles lourds ornés de ferrures, des tapisseries représentant des scènes guerrières où des hommes en armure entrechoquaient leurs armes, de grands candélabres et, tout au fond, une vaste bibliothèque remplie de vieux grimoires sentant le moisi habillaient la salle. (253–4)
Die Yacht ist eine Heterotopie im Sinne Foucaults,37 sie beherbergt – als realisierte Utopie – im Schiffsrumpf das Innere einer mittelalterlichen Burg und legt also an einem einzigen Ort mehrere Platzierungen – und im speziellen Fall auch mehrere Zeitebenen als eine besondere (phantastische) Form der Heterochronie – zusammen. Dabei stellt sich die „schwimmende Festung“ – „ce navire noir qui semblait exister en parallèle au monde des vivants“ (271) – als Abweichungs- und als Krisenheterotopie zugleich dar: Ersteres lässt sich etwa an Chevaliers Sinneseindrücken nachweisen, als er die Stufen hinabsteigt: Der gewöhnliche Lärm der Kneipengegend am Hafen, das Gelächter und das Klirren von Besteck, schwingt in seiner Wahrnehmung um in „incantations“, „grognements d’animaux“ und „bruits d’instruments de torture“ (alle 272) – alles Geräusche, die sich mit der Vorstellung eines finster-unheimlichen Mittelalters verbinden. Ebenso verändern sich die Gerüche: „L’air ne sentait plus la mer, même plus la brume, mais semblait gorgé de moisi et de rance, avec par instants le serpent odorant d’une traînée d’ozone et de soufre“ (272). Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Umgebung augenscheinlich von der (realen) Außenwelt divergiert. Das Moment der Krise offenbart sich in der folgenden Begegnung der beiden Parteien, wird das Schiffsinnere doch zum Ort der Bestimmung der Kampfmodalitäten,38 welcher (in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Bedeutung von Krise) und mit noch ungewissem Ausgang endlich die Entscheidung in der mittlerweile schon jahrhunderteandauernden Auseinandersetzung zwischen den Mächten des Guten und des Bösen herbeiführen soll (vgl. 274).
Neben dem Foucault’schen Ansatz ist insbesondere Bachtins Theorie des Chronotopos für die in der vorliegenden Analyse interessierenden parallelen Erzählstrukturen zwischen mittelalterlichem roman courtois und (post-),modernem Fantasy-Thriller von zentraler Bedeutung. 39 Als „Abenteuerzeit“ bezeichnet Bachtin die vorherrschende temporale Form, die im Ritterroman innerhalb der wunderbaren Welt vorherrscht. Diese Zeit besitzt das besondere Merkmal, selbst zu einem gewissen Grad für die Dauer der einzelnen aventures, ihrer Segmente, wunderbar zu werden und entweder in die Länge gezogen oder zusammengedrängt zu werden. Dieses Phänomen existiert auch in La Quête brestoise, wie an einem Gespräch zwischen Le Bernique und Chevalier, einer Unterbrechung in der Konfrontation mit dem Bösewicht auf der Yacht, belegt werden kann:
– Tu viens ou quoi? Cela fait des heures que je t’attends. J’ai un kroum long comme un annuaire au troquet.
– Des heures. Cela fait à peine cinq minutes que je suis parti.
– Que tu crois. Aberration spatio-temporelle, commandant. (276)
Das räumliche Paradox ist bei Chevaliers letztem Abstieg erneut offensichtlich: „Comment pouvait-il descendre autant? Même si le yacht toujours dissimulé dans les brumes n’avait pas donné d’indices quant à des dimensions, elles ne pouvaient correspondre à celles d’un paquebot“ (333–4). Von der bekannten Widersinnigkeit in Bezug auf die Größenverhältnisse abgesehen, ergibt sich ein weiteres unlösbares Raumrätsel: Am Fuß derselben Treppe, an dem sich bei der ersten Beschreibung noch ein mittelalterlicher Saal befunden hat, öffnet sich nun „une vaste crypte au plafond soutenu par des piliers de basalte“ mit einem „autel de marbre“, der als „table de sacrifice“ (alle 334) dienen wird. Diese Örtlichkeit ist der Schauplatz für das finale Aufeinandertreffen der beiden Erzfeinde, wobei in dieser entscheidenden Episode Thriller- und mittelalterliche Handlungsebene wieder miteinander verschmelzen: Mit einem okkulten Ritual (es geht darum, der entführten Aimée, einer Trinkbekanntschaft Chevaliers,40 das Herz herauszuschneiden und ihr Blut aus dem gestohlenen Kelch zu trinken) will der Bösewicht Macht erlangen und die dunklen Mächte in die Welt bringen. Während Chevalier diese Tat nach seinem mittelalterlichen Horizont ausdeutet – „Et de quel usage s’agit-il? Ramener les dragons à la surface du monde, libérer les orques et les goules, promouvoir le dépeçage d’enfants, transformer les hommes en succubes et les femmes en incubes…“ – liefert der Bösewicht die moderne, kriminalistische Interpretation: „Oh! je me suis mis au goût du jour. Je pourrai commencer par étendre mon empire, être coté en bourse, racheter des mulitnationales, accumuler des bénéfices …“ (beide 339). Ein weiteres Überlappen zwischen Mittelalter- und Thrillermotivik besteht in der Gestalt des Widersachers selbst: Als dieser bemerkt, dass der Heilige Gral verschwunden ist und das Ritual nicht stattfinden kann, zeigt er sein wahres Gesicht: „Ses yeux étaient devenus rouges, ses lèvres se gerçaient et des dents aiguës pointaient au travers un entrelacs de filaments salivaires“ (341). In seiner Person trifft sich das reale Monströse mittelalterlicher Werke mit den dämonisch-verzerrten Zügen41 der bösen Drahtzieher, wie sie die Kriminalliteratur unserer Tage für gewöhnlich bevölkern.
Ein Blick auf den Verbleib Chevaliers und Aimées, noch immer unter Berücksichtigung des Bachtin’schen Chronotopos, soll die Analyse abschließen. Im Kapitel La Belle au Bois dormant, das über den Titel mit der französischen Dornröschen-Version Perraults assoziiert wird und darum bereits auf die Märchenstruktur verweist, wird Chevalier vom Gralsritter des Artusstoffs zum (Traum-),Prinzen der contes de fées, der Aimée – die Geliebte – wachküsst und so von ihrem (im wahrsten Sinne des Wortes) umnebelten Zustand befreit. Nachdem Chevalier, über Bord gegangen, in den Wogen des Atlantiks zu ertrinken droht, findet er sich in einem nebligen Wald auf einem Pferd reitend wieder, bis er an ein sonnenumstrahltes Schloss gelangt. Wie die Welt des Ritterromans verfügt auch die Welt des Märchens über eine wunderbare Raum-Zeit-Struktur: „Cette terre possédait toutes les promesses qu’une terre pouvait faire aux hommes et ils savaient qu’elle les tiendrait“ (363). Sie ist eine ideal gezeichnete Parallelwelt – „le monde d’à-côté le monde“ –, eine zeitenthobene Welt des Traumes mit märchenhafter Raumausstattung: „Dans la chambre claire, dans un lit à baldaquin, entouré de voiles de mousseline, Aimée dormait de son sommeil de cent ans“ (beide 365). Doch nichtsdestotrotz gilt es, aus dieser legendenhaften Unendlichkeit, aus dieser Zeit des Stillstands, in der unbekannte Kräfte die Protagonisten fest- und gefangen halten, zu entkommen. Über den Kuss – und das Öffnen einer „Zauberdose“ mit frischer bretonischer Luft – entreißt Chevalier „seine Prinzessin“ dieser statischen, entindividualisierten Welt und erhält seine Erinnerung zurück – und mit dieser gleichzeitig seine eigene Geschichte:
À présent, il avait un nom, une mémoire, une histoire à mi-chemin entre deux mondes mais son errance demeurait. Il savait qu’il avait libéré Aimée d’une destinée magique qui l’aurait liée à tout jamais aux légendes d’autrefois. (367)
Und damit schließt Chevaliers Geschichte mit diesem epilogischen Teil in Analogie zu den konventionellen Kriminalromanen:42 Mit dem Erreichen eines persönlichen Ziels (der Wiedererlangung des Gedächtnisses), einer erfüllten Liebschaft und einer optimistischen Zukunftsaussicht, in der die beiden Liebenden aus der (vorgeprägten und der Vergangenheit angehörigen) „Legende“ treten, um ihr Leben gemeinsam und individuell in der Wirklichkeit zu gestalten.
Vgl. etwa Beate Martin, „Parzivals Erben: höfische Ideale im modernen Fantasyroman“, in Artus-Mythen und Moderne: Aspekte der Rezeption in Literatur, Kunst, Musik und in den Medien, Interdisziplinäres Symposion der Phantastischen Bibliothek Wetzlar und der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft, Tagungsband 2001, hrsg. von Sieglinde Hartmann, Thomas Le Blanc, Ulrich Müller und Bettina Twrsnick (Wetzlar: Phantastische Bibliothek, 2004), 385–404.↩
Überhaupt ist seit einigen Jahrzehnten eine nicht abbrechende internationale ‚Konjunktur des Mittelalters‘ à la Tolkien und Eco in Literatur und Film zu konstatieren, von welcher der Sammelband Passé présent: le Moyen Âge dans les fictions contemporaines, hrsg. von Nathalie Kolbe und Mireille Séguy (Paris: Presses de l’École normale supérieure, 2009) stellvertretend für eine ganze Reihe ähnlich gelagerter Forschungsliteratur beredtes Zeugnis ablegt.↩
Vgl. Norris J. Lacy, „König Artus: Mythos und Entmythologisierung“, in Herrscher Helden Heilige, hrsg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich (St. Gallen: UVK, 1996), 47–63. Für einen ersten allgemeinen Überblick über die Artusrezeption vgl. Elisabeth Frenzel, „Artus“, in Stoffe der Weltliteratur (Stuttgart: Kröner, 2005), 76–83.↩
Zu nennen sind zum Beispiel Michel Zink, Déodat ou la transparence: un roman du Graal (Paris: Seuil, 2002) und Sophie Cassagne-Brouquet, Un Mystère en Brocéliande (Saint-Paul: Souny, 2004).↩
Vgl. weiterführend Ellen Schwarz, Der phantastische Kriminalroman: Untersuchungen zu Parallelen zwischen roman policier, conte fantastique und gothic novel (Marburg: Tectum, 2001).↩
Vgl. im Folgenden Peter Nusser, Der Kriminalroman (Stuttgart: Metzler, 1980), 26–73, bes. 54–73.↩
Nusser, Der Kriminalroman, 64.↩
Vgl. Jacques Le Goff, „Le désert-forêt dans l’Occident médiéval“, in L’imaginaire médiéval: essais (Paris: Gallimard, 1985), 59–75.↩
Zu dessen z. T. gegensätzlichen Beschreibungen in der mittelalterlichen Gralsliteratur vgl. Rudolf Simek, „Gral“, in Artus-Lexikon: Mythos und Geschichte, Werke und Personen der europäischen Artusdichtung (Stuttgart: Reclam, 2012), 149–50, zur mythischen Kesselverehrung der Kelten als mögliche vorgängige Vorstellung vgl. Stefan Zimmer, Die keltischen Wurzeln der Artussage: mit einer vollständigen Übersetzung der ältesten Artuserzählung ‚Culhwch und Olwen‘ (Heidelberg: Winter, 2006), 177–81.↩
Vgl. im Folgenden, d.h. den Ausführungen zu Chrétiens Werk, Christine Ferlampin-Acher und Denis Hüe, „Le Gral“ in Christine Ferlampin-Acher, Mythes et réalités: histoire du Roi Arthur (Rennes: Ouest-France, 2009), 91–102.↩
Vgl. weiterführend Laurent Guyénot, La Lance que saigne: métatextes et hypertextes de ‚Conte du Graal‘ de Chrétien de Troyes (Paris: Honoré Champion, 2010).↩
Vgl. im Folgenden Rudolf Simek, „Robert von Boron“ und „Joseph d’Arimathie“, in Artus-Lexikon, 297–8 und 187–8.↩
Dieser umfasst folgende fünf Teile: die Estoire del Saint Graal, die Estoire de Merlin, den Lancelot propre, die Queste del Saint Graal und den Mort Artu.↩
Vgl. Rudolf Simek, „Malory, Thomas“ und „Morte Darthur“ in Artus-Lexikon, 231–2 und 253–4, vgl. weiterführend Muriel Whitaker, Arthur’s Kingdom of adventure: the world of Malory’s ‚Morte Darthur‘ (Cambridge: Brewer, 1984).↩
Vgl. Dietmar Rieger, „Amadis und andere: zu den literarischen Leitfiguren ‚ritterlicher‘ Eliten des 16. Jahrhunderts“, in Die Inszenierung der heroischen Monarchie: frühneuzeitliches Königtum zwischen ritterlichem Erbe und militärischer Herausforderung, hrsg. von Martin Wrede (München: Oldenbourg, 2014), 40–56 und Robert Baudry, „Avatars du Graal en littérature française des xviiie et xixe siècles“, in Moderne Artus-Rezeption: 18. – 20. Jahrhundert, hrsg. von Kurt Gamerschlag (Göppingen: Kümmerle, 1991), 23–50.↩
Vgl. Uwe Baumann, „Artus-Stoff und arturische Motive in der Geschichte, Kultur und Literatur Englands der Tudor- und Stuartzeit“ in König Artus lebt! Eine Ringvorlesung des Mittelalterzentrums der Universität Bonn, hrsg. von Stefan Zimmer (Heidelberg; Winter, 2005), 273–96.↩
Vgl. beispielhaft Stephanie Wodianka, Zwischen Mythos und Geschichte: Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur (Berlin: de Gruyter, 2009) und Kurt Gamerschlag, „Arthurischer Neubeginn: Die englische Mittelalterbewegung des 18. Jahrhunderts und der Artusmythos“, in Moderne Artus-Rezeption, 1–22.↩
Isabelle Cani hat die modernen Bearbeitungen des Gralsthemas einer detaillierten, Nationen überschreitenden Kategorisierung unterzogen. Vgl. Isabelle Cani, „Le Graal aujourd’hui. Pour une typologie des œuvres“, in Graal et Modernité: colloque de Cerisy, hrsg. von Robert Baudry und Gérard Chandès (Paris: Dervy, 1996), 169–81. Vgl. weiterführend Isabelle Cani, Le Graal en question: un mythe pour sortir de la modernité (Paris : Dervy, 2005).↩
Vgl. Gabriele Krämer, Artusstoff und Gralsthematik im modernen amerikanischen Roman (Gießen: Hoffmann, 1985).↩
The Mists of Avalon ist sowohl der Titel eines Fantasy-Jugendromans der US-Amerikanerin Marion Zimmer Bradley (1982) als auch derjenige des auf diesem beruhenden zweiteiligen Fernsehfilms des deutschen Regisseurs Uli Edel (2001).↩
Der kurze vierte Teil mit der Überschrift Le chant du coq mag an das Hahnenmotiv im Umfeld der Gralsgeschichte und der passio Christi gemahnen.↩
Pelles ist im Lancelot-Graal-Zyklus der Name des Fischerkönigs, während in anderen Versionen Bron (bei Robert de Boron) oder Anfortas (im deutschen Parzifal des Wolfram von Eschenbach) gebräuchlich sind. Vgl. Rudolf Simek, „Pelles“, in Artus-Lexikon, 274.↩
Zur Entwicklung der Figur vgl. Bernhard Anton Schmitz, Gauvain, Gawein, Walewein: die Emanzipation des ewig Verspäteten (Tübingen: Niemeyer, 2008).↩
Die französische Hafenstadt und deren weitläufige Umgebung bilden auch die Hintergrundkulisse für die literarischen Investigationen von Mary Lester, Titelheldin des bretonischen Krimiautors Jean Failler, dessen Romane – ähnlich wie diejenigen Donna Leons und ihres venezianischen Commissarios Brunetti – immer wieder erfolgreich verfilmt werden.↩
Aufgrund des jahrhundertelangen Schlafs leidet er an Gedächtnisschwund und erhält seinen Namen erst nach der Rettung der Geliebten. Das mittelalterliche Motiv, nach welchem die Kenntnis des Namens dem Eingeweihten Macht über den/das Bezeichnete verleiht (vgl. Wolfgang Aly, „Name“, in Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 6: Mauer–Pflugbrot, hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli (Berlin: de Gruyter, 32000), 950–61), kommt in einer weiteren Episode vor: als der Drahtzieher Gauvain für dessen Dienste den geheimen Namen von Brest verrät.↩
Damit stellt Leonettis Roman auch einen intermedialen Bezug zu der in Frankreich sehr populären TV-Produktion La carte aux trésors (1996–2009) her, in deren Sendezeit seine Publikation fällt und in der die Kandidaten auf ihrer ‚Schatzsuche‘ eine Reihe von Rätseln – u.a. auch über das kulturelle Erbe – zu lösen haben und auf diese Weise immer weitere Indizien für die Lösung erhalten. Ich danke Dietmar Rieger für diesen hilfreichen Hinweis.↩
Bernard Leonetti, La Quête brestoise: polar arthurien (Brest: Barbu, 2007), 170.↩
Vgl. Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik: Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung (Tübingen: Niemeyer, 21970), 66–88.↩
Sein „Ah! Joseph, Joseph, pourquoi m’as-tu abandonné?“, 142, parodiert den Ausruf Jesus am Kreuz und bringt Chevalier gleichzeitig in die Rolle des Auserwählten für diese Mission.↩
Das Kapitel endet mit der Ankunft des echten Klempners, der nur die Information erhält „que tout allait pour le mieux dans la meilleure des cuisines brestoises“, 146, eine ironische Anspielung auf Voltaires Candide, in dem die darin gleichermaßen als ideal-märchenhaft geschilderte Welt ebenfalls parodiert wird.↩
Zur Begriffsentwicklung und dem Bedeutungswandel vgl. U.A. Fanthorpe, „Goth, gothic“, in The Handbook of the Gothic, hrsg. von Marie Mulvey-Roberts (New York: Univ. Press, 22009), 126–7.↩
Diese momenthafte Stadt-Begegnung erinnert an Baudelaires berühmtes Sonett À une Passante, als dessen parodierte Umschreibung à la gothique sie sich darstellt.↩
Im Nachhinein deutet Chevalier die alkoholische „Begießung“ seines Auftrags bei dem ominösen Notar in Marseille als „Initiation“ und Vorbereitung auf seine weinlastige Mission, 152, – und das, obwohl ihn Loïc als Mitglied der „geheimen Gilde“ der Anonymen Alkoholiker vor den Folgen des übermäßigen Alkoholgenusses noch warnen wird, Kpt.: Société anonyme.↩
Die Beteuerung des Mädchens gegenüber Chevalier „Nous sommes de la même histoire“, 152, mit Verweis auf die Fiktionalität des Artusstoffs und der Helden fügt dem Ganzen eine fiktionsironische Note hinzu.↩
Vgl. Tzvetan Todorov, Introduction à la littérature fantastique (Paris: Seuil, 1970).↩
Damit erinnert diese Yacht in ihrer phantastischen Innenausstattung an die Nautilus, das Unterseeboot aus Jules Vernes Vingt mille lieues sous les mers (1869/70), welches im Schiffsrumpf unter anderem eine stattliche Bibliothek mit 12.000 Büchern beherbergt.↩
Vgl. im Folgenden Michel Foucault, „Andere Räume“, in Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. von Karlheinz Barck (Leipzig: Reclam 1992), 34–46.↩
Als „Turnierform“ wird der parodistischen Tendenz des Romans gemäß kein mittelalterlich-übliches Duell mit ritterlichen Waffen, sondern ein Filzschuhweitwurf bestimmt, auf den bei der Umsetzung noch ein Lambric-Wetttrinken der beiden champions folgt.↩
Vgl. im Folgenden Michail M. Bachtin, Chronotopos (Frankfurt: Suhrkamp, 2008), bes. 79–87.↩
Parodiert wird die Szene etwa im Wortwechsel zwischen dem Strippenzieher und der manipulierten fille gothique, die ihm eine Jungfrau beschaffen sollte, nachdem sich herausstellt, dass Aimée ihre Jungfräulichkeit schon verloren hat, oder als die unter Drogen Gesetzte ihrem Aufpasser einen Straußenwitz erzählen will, der bei der Kneipentour immer wieder als Leitmotiv auftauchte, aber als running gag nie (wie auch in dieser Episode) zu Ende erzählt wird.↩
Vgl. Nusser, Der Kriminalroman, 62.↩
Vgl. Nusser, Der Kriminalroman, 58.↩
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