Fingerübungen in Digitalien

Erfahrungsbericht eines teilnehmenden Beobachters der Digital Humanities aus Anlass eines Lehrexperiments

Hanno Ehrlicher

Die Versuchsanordnung

Dieser Text ist ein Essay und handelt von einem Versuch: vom gerade (im Sommersemester 2015 an der Universität Augsburg) unternommenen Versuch, im Rahmen einer ganz regulären curricularen Vorlesung des Faches Romanistik Studierende mit dem neu entstehenden und seit einigen Jahren ebenso intensiv wie kontrovers diskutierten Feld der Digital Humanities vertraut zu machen. Dieses noch wenig konturierte, da noch in Emergenz befindliche transdisziplinäre Feld, das auch in Deutschland seit einigen Jahren mit der nicht zufällig dem anglophonen Kulturraum entlehnten Wortzusammensetzung bezeichnet wird, ist ein unsicheres Terrain und ‚Neuland‘. Neuland zumal für den Romanisten, der wie ich selbst nicht als Computerphilologe und/oder Informatiker ausgebildet wurde und zumindest ansatzweise zu programmieren versteht, sondern die entscheidenden Jahre seiner akademische Sozialisierung mit dem Erlernen und Anwenden von Methoden intensiver Textlektüre verbracht hat, seien diese hermeneutischer, (post)strukturalistischer oder dekonstruktiver Natur. Dass ein derart traditionell sozialisierter Romanist für ein recht spezifisches Forschungsprojekt eine eigene Virtuelle Forschungsumgebung einrichten und so zum teilnehmenden Beobachter am und im Feld der Digital Humanities mutieren konnte1, liegt an der Dynamik dieses Feldes, in der sich direkt die Dynamik des Wandels der Webtechnologien spiegelt, die es nun eben auch Nutzern ohne vertieftes Wissen um die genauen Funktionsweisen von Computern erlauben, eigene Angebote im Netz zu generieren – sofern sie nur fähig und willens sind, mit entsprechenden Experten zusammenzuarbeiten und das Minimum an Kompetenz im informationstechnologischen Bereich mitbringen, das heute in jedem Sekretariat vorausgesetzt wird. Wie Thomas Krefeld, Stephan Lücke und Isabel von Ehrlich in einem kürzlich erschienen Beitrag zum Stand der Digital Humanities aus italianistischer Perspektive zu Recht formuliert haben, hat erst die „totale Durchsetzung der sozialen Medien und des so genannten Web 2.0 in allen Sphären unserer Lebenswelt seit ca. 2003“2 für den Paradigmenwechsel gesorgt, der aus den verhältnismäßig kleinen, ausdifferenzierten Teilbereichen computergestützter Methoden innerhalb der etablierten geisteswissenschaftlichen Einzeldisziplinen ein Disziplinen übergreifendes Methodenfeld hat werden lassen, das sich eines seitdem kontinuierlich wachsenden Grades an Aufmerksamkeit erfreut. Folgt man der Presseberichterstattung in den Medien, die den geschilderten Paradigmenwechsel mindestens ebenso stark selbst produzieren wie sie ihn widerspiegeln, geht es um viel, vielleicht sogar ums Ganze: um die Zukunft und das Überleben der Geisteswissenschaften, die nun durch das neue Primat der Technik kräftig „unter Strom“ gesetzt seien.3

Auch wenn man den Aufgeregtheiten der Debatte nicht folgen will, lässt sich das neue Feld der DH doch schlichtweg nicht länger ignorieren, jedenfalls nicht, wenn man die Zukunft der Geisteswissenschaften aktiv mitgestalten und nicht nur den Status Quo verwalten möchte. Anlass genug, so dachte ich mir, als ich mich an die Durchführung meines Lehrexperimentes machte, zu versuchen, selbst Übersicht über das Phänomen zu gewinnen und ihn denjenigen zu verschaffen, die von diesem Paradigmenwechsel am Wesentlichsten betroffen sind: der Generation der Studierenden. Konzeptionell standen dabei einige Grundentscheidungen für die Gestaltung der Vorlesung schnell fest:

  • Da sich das gesamte Methodenspektrum der DH unmöglich von einem eingeschränkten Kompetenzbereich aus angemessen darstellen lässt, wurde die Vorlesung zur Einführung in die Digital Humanities von vorneherein als perspektivengebundene konzipiert und mit dieser Einschränkung – „aus literaturwissenschaftlicher Sicht“ – auch angekündigt;

  • Um den Studierenden gleichwohl deutlich zu machen, dass es sich bei den DH um ein Phänomen handelt, dessen Methodenspektrum transversal zu den etablierten Disziplinen verläuft, war innerhalb der Vorlesung eine Reihe von Gastvortragenden eingeplant, die nicht nur jeweils als Experten für bestimmte Anwendungsbereiche innerhalb der DH und die damit verbundenen Werkzeugen fungierten (Digitales Edieren, Topic Modeling und Metadatenanalyse, Repräsentation von raum-zeitlichen Daten, Stilometrie), sondern auch in unterschiedlichen disziplinären Bereichen beheimatet sind (von der Kunstgeschichte und der Geschichtswissenschaft über die Judaistik bis zur Romanistik). Die Zusammenstellung der Reihe veranschaulichten so insgesamt den transdisziplinären Charakter der DH-Methoden;

  • Dritter leitender Gedanke war die Überlegung, dass es dem Phänomen der DH nicht gerecht würde, deren Methoden theoretisch zu beobachten und distanziert zu beschreiben. Dies hieße nur, den allgegenwärtigen Feuilletondiskurs noch einmal akademisch aufzubereiten ohne dem Phänomen wirklich näher zu kommen. Eine der großen, wenn nicht die größte Herausforderung der DH an die etablierten Geisteswissenschaften ist ja gerade ihr praxis- und projektorientierter Zugang zu Fragestellungen der Forschung und die Verbindung von Erkenntnisinteressen mit pragmatisch-instrumentellem Wissen zum Umgang mit bestimmten Softwareprodukten und digitalen „Tools“. Die Gastvorlesungen wurden deshalb jeweils mit Workshops verbunden, in denen einige besonders einschlägige Werkzeuge aus dem Instrumentenkasten der DH eingeübt werden konnten: der XML-Editor von Oxygene zur Einübung in das digitale Edieren nach den Standards der TEI, Mallet als Software für Topic Modeling, der Dariah-Geobrowser für die Erstellung von raum-zeitlichen Datenrepräsentationen sowie das statistische Open-Source-Programm R, das unter Zuhilfenahme eines entsprechenden Zusatzpackets (Stylo) für die stylometrische Analyse von Texten genutzt werden kann. Komplettiert wurde diese anwendungsorientierte Workshopreihe durch eine Exkursion ans Münchner Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek, wo ein konkreter Einblick in die (Retro)Digitalisiserung historischer Buchbestände gewonnen werden konnte.

Um es vorweg zu nehmen: die Reaktionen der Studierenden auf dieses Lehrexperiment fiel äußerst gespalten aus. Die Verlaufskurve aus den statistischen Mittelwerten der Fragebögen, die in einer Lehrevaluation nach der ersten Hälfte des Semesters ausgefüllt wurden, war dabei an sich so undramatisch wie Statistiken, die notwendig die Extreme nivellieren, eben sind. Wesentlich interessanter und für das Stimmungsbild der Studierenden repräsentativer dagegen waren die qualitativen Anmerkungen, die in Freifeldern zusätzlich gegeben werden konnten und in auffällig hohem Maße auch gegeben wurden. Diese intensive Beteiligung der Studierenden an der Evaluation war grundsätzlich Beleg dafür, dass die zunächst recht unspektakulär wirkenden Durchschnittswerte kein Produkt lauer Indifferenz darstellten. Die Kommentare ließen vielmehr in ihrer Gesamtheit eine deutliche Spaltung der Studierenden erkennen in ein Lager von Hochzufriedenen, dem ein Lager der hoch Unzufriedenen entgegenstand, eine Wertungsdifferenz, die umso irritierender war, als sich beide Lager teilweise explizit auf die gleichen Phänomene bezogen. Während die eine Gruppe gerade die Neuheit des Themas honorierte und die Möglichkeit zur praktischen aktiven Einübung in Werkzeuge der DH als „innovativ“ und anregend („probiert mal was Neues“) wertete, beklagte sich die andere über zu hohe Anforderungen und sprach der Vorlesung einen Nutzwert tendenziell ab („selbst nach halbem Semester noch keine wirkliche Ahnung um was es eigentlich geht, bzw. wofür der Kurs sinnvoll ist“). Ursächlich für die Polarisierung der Studierenden bezüglich der Zufriedenheit mit einer – zugegeben – experimentell angelegten Vorlesung war ganz offensichtlich nicht das oder mehr weniger ausgeprägte pädagogische Talent des Lehrenden, sondern der vermittelte Stoff, die Methoden der DH.

Digital Natives und Digital Naïves

Wenden wir uns, um diese Wirkung des Lehrexperiments gründlicher zu verstehen, den Befindlichkeiten der um ca. 1990 geborenen Studierenden zu, die unsere Hörsäle heute bevölkern. Einer durch Marc Prensky popularisierten Metaphorik zufolge handelt es sich bei dieser Generation um „Digital Natives“, denen wir noch vordigital sozialisierten Lehrende – so Prensky schon im Jahr 2001 – als „Digital Immigrants“ notwendig fremd gegenüberstünden.4 Prenskys Argument ist ebenso einfach wie voraussetzungsreich: der Umgang mit den digitalen Technologien bewirke eine Art kultureller Evolution, die irreversibel sei, und da sich die „digital Geborenen“ aufgrund ihres evolutionären Fortschritts nicht mehr den alten Verhältnissen anpassen könnten, müssten die Lehrenden sich eben umgekehrt dem Fortschritt der neuen Lerner anpassen. Den irreversiblen Charakter der Evolution erklärt Prensky aus einer Veränderung von Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten („their thinking patterns have changed“), die er auch als neue „Sprache“ bezeichnet. Der so erzeugte Kurzschluss zwischen Biologie und Kultur führt einerseits dazu, dass der Effekt des Wandels von Kulturtechnologien, der eben keine biologischen Folgen hat, überdramatisiert wird, andererseits aber verdeckt er genau die Ebene, aus der heraus sich die sozialen Folgen des digitalen Wandels tatsächlich begründen: die Ebene des Habitus. Also der Ebene, auf der soziale Strukturen und sozio-kulturelle Wertungen inkorporiert und damit zu einer vom Individuum nicht bewusst reflektierten sondern unbewusst eingenommenen Haltung transformiert werden. Pierre Bourdieu verortete in seiner Theorie des sozialen Feldes in diesem Sinne nicht nur den Habitus als entscheidende Schnittstelle zwischen Sozialstruktur und reproduzierendem Individuum, sondern schlug zugleich eine Methode der Kritik vor, die er im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Homo academicus in Umkehr zur ethnologischen Verfahrensweise als „Exotisierung des Heimischen“ beschreibt, als „Abbruch der Primärbeziehung der Vertrautheit mit Lebens- und Denkweisen, die ihm, weil zu vertraut, fremd bleiben“.5

Die Metapher von den digitalen ‚Eingeborenen‘ macht, so gewendet, viel mehr Sinn als in der Rede von Marc Prensky. Das Problem ist nicht, dass sich eine ‚alte‘ prä-digitale und eine ‚neue‘ digitale Generation wie fremde Ethnien gegenüberstünden, sondern dass die kritische Exotisierung scheinbar zutiefst vertrauter und in tief in den Lebensalltag verankerter Kulturtechnologien unbequem ist und liebgewordene Illusionen zerstört – allen voran die Illusion, dass Webtechnologien automatisch ‚smart‘ funktionieren, sich den Bedürfnissen des einzelnen Users optimal anpassen und deshalb reflexhaft und reflexionslos zu bedienen und zu konsumieren sein müssen. Vielleicht ist der verfremdete – kritisch distanzierte – Blick auf digitale Technologien leichter für diejenigen, die mit diesen Technologien noch einen wenig habituellen Umgang haben, er ist aber auch für die Digital natives nicht unmöglich. Auch dies zeigte das Lehrexperiment. In jedem einzelnen der Workshops war, obgleich die dabei vorgestellten Werkzeuge unterschiedlich hohe Anforderungen und Vorkenntnisse an die Nutzer stellen und obgleich die Bereitschaft und Fähigkeit zur pädagogischen Unterstützung innerhalb der Lehrenden dabei unterschiedlich hoch ausgeprägt war, ein ähnlicher Effekt unter den Studierenden zu beobachten: Diejenigen, die ein intrinsisches Interesse am vorgestellten Tool mitbrachten, weil sie z.B. ein wie auch immer geartetes eigenes Forschungsprojekt damit umsetzen zu können hofften, oder aber auch einfach Neugier an der Funktionsweise des Werkzeugs hatten und darüber aufgeklärt werden wollten, waren motiviert, arbeiteten intensiv und wollten darüber hinaus möglichst viele Informationen, um im Anschluss an den Workshop selbst ihr erworbenes praktisches Wissen vertiefen zu können. Bei anderen war die Frustrationstoleranz dagegen extrem gering und die Unlust, mit einem beim Einstieg zunächst schwierigen und relativ voraussetzungsreichen Tool, das nicht auf Knopfdruck funktioniert, sondern bewusst und informiert genutzt werden muss, entsprechend hoch. Es lag dabei nicht an theoretischer Überforderung oder einer zu hohen Komplexität von Informationen, sondern an einer grundsätzlichen Bequemlichkeit, die bei den meisten Studierenden dieses Typus übrigens nicht nur ihre Haltung der Technik gegenüber prägt, sondern auch die zur Literatur.

Diese Anmerkung läuft nicht auf eine Denunziation von Studierenden hinaus, die sich ­– wie das Evaluationsergebnis ja deutlich zeigte ­– nicht angemessen als eine homogene Einheit behandeln lassen. Ich formuliere sie, um aus meinen Erfahrungen in der Lehre eine entscheidende These zu gewinnen, die sich weit über die Gruppe der Studierenden hinaus verallgemeinern lässt. Die These nämlich, dass die vermeintliche generationenbedingte Differenz zwischen „Digital Natives“ und „Digital Immigrants“ völlig irrelevant oder mindestens höchst sekundär ist und nur die umso relevantere Differenz verdeckt, die sich auftut zwischen denjenigen „Natives“, die im Zustand der Naivität verharren wollen und denjenigen, die sich um ein aufgeklärtes Verhältnis zu den digitalen Technologien bemühen. In diesem Sinne aber sind wir alle, die nicht direkt als Informatiker oder Programmierer professionell an der Entwicklung der Technologien beteiligt sind, zunächst im Stande der Unmündigkeit mit der Option zum Ausgang aus diesem Anfangsstadium.

Die Mühen, die für ein aufgeklärtes Verhältnis zu den digitalen Arbeitswerkzeugen der DH zu überwinden sind, stellen ja nicht nur eine Hürde für Studierende dar, die sich trotz grundsätzlicher Vertrautheit mit digitalen Arbeitsumgebungen nur unwillig aus einem passiven Habitus herausbegeben, der sie zu den idealen Konsumenten der Produkte macht, mit denen im World Wide Web Geschäfte zu machen sind (die Tools der DH gehören sicher nicht zu dieser Produktpalette). Vielmehr wachsen diese Widerstände aus anderen Gründen zum unüberwindbaren Ressentiment gerade bei denjenigen, die nicht mit den neuen digitalen Arbeitsumgebungen verwachsen sind, sondern mit symbolischem, sozialen und kulturellen Kapital ausgestattet, das eng an das Wissen um die Kulturtechnologien des Buchdrucks geknüpft ist. Hier ist nicht ein Mangel an Motivation zum kritisch-verfremdenden Blick auf das Vertraute Grund für den Widerstand, sondern der entschiedene Wille zur Wahrung langfristig erworbener Privilegien. Das zeigt sich besonders im Kernbereich der Philologie, der Editionswissenschaft, die den Methoden der DH eigentlich am aufgeschlossensten gegenübersteht, da die Digitalisierung im Bereich der editorischen Textkritik eben keinen epistemologischen Bruch mit der Tradition bedeutet. Der von einem Editionswissenschaftler gestartete sogenannte Heidelberger Appell aus dem Jahr 20096, für den sich in nur wenigen Woche eine beeindruckende Anzahl von Autoren, Verlegern, Wissenschaftlern und Publizisten zur Unterschrift mobilisieren ließen, war nur ein besonders deutlicher Beleg für dieses weit verbreitete und immer noch anhaltende Ressentiment, das sich vor allem in der Unfähigkeit oder dem Unwillen zu notwendigen Differenzierungen zeigt. Zur Differenzierung etwa zwischen den auf schnellem und massiven Informationsgewinn ausgerichteten Digitalisierungsprojekten eines privaten Unternehmens wie Google und der open-access-Bewegung, die aus dem Wissenschaftsbereich (vor allem dem Bereich der Naturwissenschaften) selbst stammt und deren Vertretern man nun wirklich nur mit Böswilligkeit eine grundsätzlich Absicht zur Schwächung von wissenschaftlicher Autorschaft im Namen des Kommerzes unterstellen kann. Folgt man der soziologischen Maxime Bourdieus zur „Objektivierung des objektivierenden Subjekts“7, lässt sich leicht erkennen, dass hinter der vermeintlich idealistischen und uneigennützigen Abwehr des kulturtechnologischen Wandels im Namen der Wahrung tradierter Werte der Kultur vor allem die Verteidigung handfester eigener Interessen steckt. Es ist ja nicht verwunderlich, dass Editionswissenschaftler, die ihr Prestige in jahrzehntelanger Arbeit mit der Herausgabe kritischer Klassikereditionen erworben haben und in enger Symbiose mit Verlagen agieren, die sich ebenfalls in diesem Bereich profiliert haben, keine Begeisterung für die Forderungen der open-access-Bewegung aufbringen, aber für eine um Sachlichkeit bemühte Diskussion würde eben doch auch die Bereitschaft gehören, zwischen der eigenen Interessenlage und ‚der‘ Wissenschaft tout court unterscheiden zu können. Für viele Wissenschaftler besteht der Hauptmodus ihres Publizierens nicht im Verlegen der Texte literarischer, kulturell hochkanonisierter Autoren, sondern in der Veröffentlichung eigener Beiträge in Fachzeitschriften oder Sammelbänden – und dabei sind ‚junge‘ open-access-Zeitschriften wie die Romanischen Studien, die für eine schnelle Veröffentlichung und eine ebenso rasche verhältnismäßig breite Resonanz sorgen, nicht notwendig weniger attraktiv als altbewährte Flaggschiffe der Wissenschaft, solange durch redaktionelle Verfahren die Qualitätsstandards gesichert werden, die man als Autor wie als Leser erwartet.

Open-access und die damit direkt verbundenen Fragen nach den Umstrukturierungen von Wertschöpfungsketten innerhalb des Marktes der Wissenschaftspublikationen sind jedoch nur der äußerliche Aspekt des neuen Paradigmas der Digitalisierung in den Geisteswissenschaften. Viel entscheidender für eine Etablierung der neuen Methoden der Digital Humanities innerhalb der jeweiligen Fachgemeinschaften ist vielmehr die Frage, ob sie den Mehrwert ihrer Methoden auch mit den feldeigenen Kapitalformen der Wissenschaft erfolgreich behaupten können. ­Im Zentrum dieser Debatte steht dabei das Verhältnis zwischen Daten und Interpretationen und die Frage, wie Texte wissenschaftlich zu lesen sind und was dabei eigentlich genau erforscht werden soll.

Distant Reading? ­– Warum wir mehr Morettis brauchen

An dieser Stelle darf der Reizbegriff „Distant Reading“ nicht fehlen, den der italienischstämmige, an der Universität Stanford lehrende Komparatist Franco Moretti pünktlich zur Jahrtausendwende mit der für ihn kennzeichnenden Lust an der polemischen Zuspitzung in die Debatte geworfen hat8 und mit dem er zu einer Schlüssel- und Reizfigur im neuen Methodenstreit geworden ist. Moretti führt zusammen mit Mark Algee-Hewitt als Direktor des Literary Lab9 seit Jahren eine Forschergruppe an, die mit ihren Papers die Diskussion um quantitative Methoden innerhalb des literaturwissenschaftlichen Bereichs der Digital Humanities entscheidend beeinflusst. Obgleich die Organisationsform und die Arbeiten dieses Laboratorium auf den ersten Blick einem „prototypischen“ Verständnis der Digital Humanities10 fast mustergültig zu entsprechen scheinen (empirische Datenbasis der Forschung, das Internet als dominantes Medium der Forschungskommunikation, Gruppen- statt Individualforschung, prozessuale und iterative Forschungsserien statt Präsentation abgeschlossener Resultate), weicht gerade Moretti selbst in seinem Umgang mit den Instrumentarien der DH immer wieder auch bewusst von den dort etablierten oder sich etablierenden Standards ab. So zum Beispiel, wenn er im zweiten, von ihm selbst firmierten „Pamphlet“ Visualisierungsverfahren der Netzwerkforschung, die in den Sozialwissenschaften für die Interaktion realer sozialer Akteure genutzt werden, für die Plotanalyse eines hochkanonischen Werkes wie Shakespeares Hamlet einsetzt und dabei bewusst auf eine durch Algorithmen gesteuerte automatisierte Datenverknüpfung (wie sie z.B. Gephi ermöglicht) verzichtet, um stattdessen händisch erstellte Visualisierungen einzusetzen.11 Ähnlich auch schon sein kontraintuitives Vorgehen beim vieldiskutierten Atlas der europäischen Literatur12, dessen Karten für kartographische Standards völlig unterkomplex sind und lediglich als Mittel zur persuasiveren anschaulicheren Präsentation der eingesetzten Daten fungieren.13 Moretti wird deshalb durchaus mit guten Gründen von beiden Seiten – den Literaturwissenschaftlern, die weiterhin auf „close reading“ setzen ­auf der einen Seite, dem um Standardisierung der Daten und ihrer Verwendung ringendem ‚harten Kern‘ der DH auf der anderen – gerne geschmäht und als ein Chaot behandelt, der rigorosen Methodenansprüchen nicht genügt und als ein schwarzes Schaf an den Rand der Wissenschaft gedrängt werden sollte, wo er eigentlich hingehöre. Umgekehrt ist aber nicht zu leugnen, dass gerade Morettis fröhlich-unbekümmerter, unorthodoxer und anarchischer Methodenmix immer wieder Impulse gesetzt hat, welche die Forschung vorantrieb, wobei sich die Wege der Forschung dann vom Impulsgeber Moretti meist auch schnell wieder trennten.14 So skeptisch ich in vielen Punkten selbst den Ansätzen Morettis gegenüberstehe (insbesondere etwa seiner Tendenz, die Nationalphilologien auf die Funktion von tumben Datenlieferanten zu reduzieren, um methodologischen Mehrwert ganz für die Komparatistik zu beanspruchen), für eine erfolgreiche Verbindung zwischen Digital Humanities und den tradierten Disziplinen brauchen wir in der Zukunft insgesamt eher mehr als weniger Morettis. Morettis Umgang mit „Daten“ der Literatur (im Sinne von abgrenzbaren Informationseinheiten, die sich in literarischen Texten selbst finden und solchen, die über diese Texte beschafft werden können) mag nicht immer technisch und methodisch zufriedenstellend sein, er zeigt aber allen Verächtern der DH, die diesen Bereich lediglich als einen sinnfreien Positivismus ohne Erkenntnispotential abzustempeln versuchen, dass Datenorientierung auch mit der Schärfung eines Verständnisse für den Formaspekt der Literatur einhergehen kann. Moretti steht ja gegen anderslautenden Gerüchten dezidiert nicht in der Tradition des Positivismus, sondern in der des kritischen Formalismus und hat dessen methodologische Devise der Verfremdung – Ostranenie nach Viktor Šklovskij – internalisiert. Digitale Technik ist für ihn nicht Selbstzweck und Daten besitzen dabei kein empirische Evidenz, die Interpretationen überflüssig machen und ein „Ende der Theorie“ bedeuteten würde, wie es sich einige euphorisierte Anhänger der Big Data tatsächlich wünschen15. Im Gegenteil ist sie bei Moretti Mittel zum Zweck einer veränderten Wahrnehmung und der Ent-automatisierung des gewohnten Blicks auf die Literatur. In diesem Sinne könnte das Reizwort von der „distanzierten Lektüre“ im Zeichen des Neoformalismus eine neue interdisziplinäre Konjunktur einleiten, die in manchem derjenigen der späten 60er Jahre ähnelt, die als strukturalistische bzw. semiotische Wende der Geisteswissenschaften in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist. Polemische Zuspitzungen gehören dabei mit zum Methodenstreit und nach einer Phase immer schneller drehender kulturwissenschaftlicher Turns, die außerhalb des Wissenschaftsbetriebs kaum mehr Interesse zu wecken vermochten, ist es vielleicht wieder an der Zeit, sich noch einmal ernsthaft um Formen und Normen des wissenschaftlichen Verstehens zu streiten.

Finger und Hand: Plädoyer für ein pragmatisches Verhältnis zu den Digital Humanities

Die Digital Humanities können in diesem Sinne die Geisteswissenschaften methodologisch bereichern, indem sie eine neue Methodenreflexion befördern. Dass es dabei zum Rückfall in apodiktische und ideologisch grundierte Wahrheitspostulate kommen könnte, die den Methodenstreit der späten 1960er und frühen 1970er Jahre vergifteten, braucht nicht ernsthaft befürchtet zu werden. Dafür sind die DH in ihrem Kern viel zu stark pragmatisch ausgerichtet und auf funktionierende kollaborative Zusammenarbeit zwischen Geisteswissenschaftlern und Informatikern angewiesen. Pragmatische Zusammenarbeit ist dabei einerseits leicht möglich, weil die jeweiligen Kompetenzbereich und Disziplinen so deutlich voneinander getrennt sind, dass man sich anders als in bei inner-geisteswissenschaftlicher Interdiziplinärität nicht andauernd in fruchtlosem Streit um symbolisches Kapital verstricken muss. Andererseits setzt sie diese Zusammenarbeit eine Fähigkeit voraus, die nicht allen Geisteswissenschaftlern gegeben ist: die Fähigkeit zum Respekt dem Wissen und Tun des Anderen gegenüber, auch wenn man dessen Interessen nicht unmittelbar teilt. Philosophische Invektiven gegen den seinsvergessenen „fingernden“ Menschen, der nichts mehr zu „behandeln und bearbeiten“ verstehe, weil er nur noch zählen könne und das „Additive, das Zählen und das Zählbare“ verabsolutiere,16 führen, so geistreich sie auch formuliert sein mögen, nicht weiter. Auch Heideggers eigene ontologische Technikkritik war in ihrem Fundamentalismus kaum eine angemessene Antwort auf die Kultur der Moderne, die eben immer auch vom Wandel der Kulturtechnologien geprägt ist. Im Übrigen ist es – gerade mit Blick auf Heidegger – vielleicht gar nicht nur von Schaden, dass die Geisteswissenschaften sich angesichts eines zunehmenden gesellschaftlichen Reputationsverlustes nicht länger als Hüter des Seins und des wahren Denkens gerieren können. Experten bestimmter Kulturtechnologien, deren eigenes spezifisches Wissen ganz auf diese Kulturtechnologie ausgerichtet ist, neigen jedenfalls immer dazu, Veränderungen im Gefüge der Kulturtechnologien als Untergang des Abendlandes zu dramatisieren, einfach weil sie mit dem Bedeutungsverlust ‚ihrer‘ Technologie (der eigentlich immer nur eine Bedeutungsrelativierung ist, da kaum eine etablierte Kulturtechnologie je völlig spurlos verschwunden ist) persönliche Einbußen an Reputation und sozialer Distinktion zu befürchten haben. Das ist in der Debatte um Reformen der Rechtschrift und um die Notwendigkeit des Erlernens der Handschrift in der Schule nicht anders als in der um die Legitimität datengestützter quantitativer Methoden. Wer sich auf das neue Feld der DH als interessierter Beobachter auch nur ein wenig einlässt, wird in jedem Fall relativ schnell von solchen apokalyptischen kulturkritischen Szenarien ablassen. Weder sind die Akteure, denen man dort begegnet, „im Schwarm“ versunken, noch stehen sie in der Gefahr, das Nachdenken und wissenschaftliche Forschen zugunsten bloßen Zählens und Sammelns von Informationen aufzugeben. Gerade in den frühen Manifeste der DH, die im angelsächsischen Raum die Bewegung mit utopischer Verve als neue Avantgarde zu stilisieren versuchten, wird immer wieder die durch die DH ermöglichte neue Verschränkung zwischen Theorie und Praxis hervorgehoben17. Tatsächlich muss man, um in den DH mitzuwirken, ein gewisses handwerkliches Ethos mitbringen und bereit sein, viel Zeit für das Erlenen von Tools und bestimmten Softwareprodukten aufzubringen. Wer dies für eine geistlose Tätigkeit hält, sollte besser die Finger davon lassen. Unter den Studierenden, die sich in meinem Lehrversuch besonders aktiv in den Workshops zeigten, wurde aber gerade diese handwerkliche Seite der DH besonders geschätzt und als eine Möglichkeit wahrgenommen, die viel beschworene Berufsorientierung auch in genuin geisteswissenschaftlichen Studiengängen wie der Romanistik konkret zu gewährleisten. Unter diesen Studierenden fand vor allem der Vorschlag Anklang, nach dem ersten Überblick über das neue Feld der DH in Zukunft konkrete Projekte zu organisieren, die im Rahmen von Seminaren durchgeführt werden können. Es gibt eine ausreichend große Anzahl von Lernenden, die dazu bereit sind, nicht Lesen gegen Rechnen auszuspielen, sondern den Computer Daten „lesen“ und verarbeiten zu lassen, um auf dieser Basis dann neue Möglichkeiten des Verstehens von Texten zu gewinnen. Die anderen sind, so meine Befürchtung, weder zum einen (zum Rechnen) noch zum anderen (zum Lesen) zu motivieren. Statt über diese Gruppe der Untätigen zu lamentieren will ich mich in Zukunft lieber mit den anderen weiter darum bemühen, eine Literaturwissenschaft zu betreiben, die von der ganzen Vielfalt des Spektrums an Methoden profitiert, in dem auch die der DH eine Berechtigung besitzen sollten. Meine ersten Fingerübungen in Digitalien haben jedenfalls nicht zu einer spürbaren Atrophie der Hände geführt und der Versuch, den neuen praxo-methodologischen Bereich auch in die romanistische Lehre zu integrieren, wird sicher nicht der letzte gewesen sein.


  1. Ich verweise nicht aus Mangel an Bescheidenheit auf diese im ständigen Ausbau befindliche Forschungsumgebung als mein eigenes Projekt, sondern um den Standpunkt, von dem aus ich argumentiere, von Anfang an transparent zu machen: vgl. http://www.revistas-culturales.de und das im Rahmen des Berliner DH-Summits 2015 präsentierte Poster: https://de.dariah.eu/documents/10180/472725/27_Ehrlicher-Poster_Revistas+culturales+2.0.pdf/288237cc-1651-479a-a12a-91899a30af85.

  2. Thomas Krefeld, Stephan Lücke und Isabel von Ehrlich, „Digitalianistica: die italienische Philologie unterwegs in die digital humanities“, Italienisch: Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur 36, Nr. 2 (2014): 52–70, hier 53.

  3. Vgl. als ein beliebig ausgewähltes, besonders aktuelles Beispiel aus dem Feuilletondiskurs den Beitrag von Urs Hafner, „Geist unter Strom: Digital Humanities und die Geisteswissenschaften, Neue Zürcher Zeitung, 20.07.2015, URL: http://www.nzz.ch/feuilleton/geist-unter-strom-1.18582482.

  4. „Digital Natives – Digital Immigrants“ lautete entsprechend der Titel seines zweiteiligen Essays, der 2001 erschien und inzwischen auch online leicht greifbar ist: http://www.marcprensky.com/writing/Prensky%20-%20Digital%20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20Part1.pdf; http://www.marcprensky.com/writing/Prensky%20-%20Digital%20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20Part2.pdf.

  5. Pierre Bourdieu, Homo academicus (Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1992), 9.

  6. Zum Wortlaut des Appels vgl. http://www.textkritik.de/urheberrecht/appell.pdf. Beispielhaft für die Reaktionen gegen diesen Appell z.B. schon Fritz Effenberger in Telepolis, http://www.heise.de/tp/artikel/30/30210/1.html, eine Übersicht der Debatte bietet z.B. der Informationsbrief des Wissenschaftlichen Dienstes für den Deutschen Bundestag von Roger Cloes und Christopher Schappert, https://www.bundestag.de/blob/190744/cf5adb527e25eb026a1004e5fb4a45dc/heidelbergerappell-data.pdf.

  7. Bourdieu, Homo academicus, 10.

  8. Franco Moretti, „Conjectures on World Literature“, New Left Review 1 (2000): 54–68.

  9. http://litlab.stanford.edu.

  10. Vgl. Die Skizze eines prototypischen Verständnis des Arbeitens der Ditial Humanities im schon erwähnten Aufsatz von Krefeld/Lücke/von Ehrlich, „Digitalianistica“, 55f.

  11. Vgl. Franco Moretti, „Network Theory, Plot Analysis“ = Stanford Literary Lab Pamphlet 2 (2011), http://litlab.stanford.edu/?page_id=255. Die Erstfassung des Textes erschien in New Left Review 68 (2011): 80–102.

  12. Franco Moretti, Atlas of the European Novel, 1800–1900 (London: Verso, 1998).

  13. Zu einer wissenschaftsgeschichtlichen Verortung des Ansatzes von Moretti vgl. Jörg Döring, „Zur Geschichte der Literaturkarte (1907–2008)“, in Mediengeographie: Theorie – Analyse – Diskussion, hrsg. v. Jörg Döring und Tristan Thielmann (Bielefeld: Transcript, 2009), 247–89.

  14. Zwei Beispiele für diese Behauptung: Das von Barbara Piattis geleitete Projekt zu einem literarischen Atlas Europas (http://www.literaturatlas.eu) bekennt ausdrücklich, wesentliche methodische Anregungen von Moretti erhalten zu haben, positioniert sich in der kartographischen Basis aber diametral entgegengesetzt zu Moretti. Als weiteres Beispiel kann ein vor kurzem erschienener, von Stephen J. Murphy herausgegebener Sonderband des Journal of Modern Periodical Studies 5, Nr. 1 (2014) genannt werden, der sich mit Möglichkeiten beschäftigt, Kulturzeitschriften als Netzwerke zu visualisieren,. Dieses Projekt entstand ganz offensichtlich in Fortsetzung der Diskussion, die der Herausgeber schon 2011 in einem Blog über erwähnten zweite Pamphlet Morettis initiiert hatte: Vgl. James Stephen Murphy, „MagMods Essay Club: Franco Moretti and the Prospects of Social Network Analysis for Literary Studies“, in: Magazine Modernism: Dedicated to Modern Periodical Studies blog, 18. August 2011, https://magmods.wordpress.com/2011/08/18/magmods-essay-club-moretti-and-the-prospects-of-social-network-analysis-for-literayr-studies.

  15. Vgl. den programmatischen Beitrag von Chris Anderson, der im amerikanischen Original erstmals 2008 in Wired erschien: „Das Ende der Theorie. Die Datenschwemme macht wissenschaftliche Methoden obsolet“ in: Big Data. Das neue Versprechen der Allwissenheit (Berlin: Suhrkamp, 2013), 124–30.

  16. Alle Zitate aus dem Unterkapitel „vom Handeln zum Finger“ des Traktates von Byung-Chul Han, Im Schwarm: Ansichten des Digitalen (Berlin: Matthes und Seitz, 2013), 45–51.

  17. Vgl. folgenden Abschnitt aus dem Digital Humanities Manifesto 2.0: „The dichotomy between the manual realm of making and the mental realm of thinking was always misleading. Today, the old theory/praxis debates no longer resonate. Knowledge assumes multiple forms; it inhabits the interstices and criss-crossings between words, sounds, smells, maps, diagrams, installations, environments, data repositories, tables, and objects. Physical fabrication, digital design, the styling of elegant, effective prose; the juxtaposing of images; the montage of movements; the orchestration of sound: they are all making.“ http://manifesto.humanities.ucla.edu/2009/05/29/the-digital-humanities-manifesto-20/#10, 29. Mai 2009.





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