Zeugnis als Genre und Schreibpraxis: zu Peter Kuons L’écriture des revenants
Isabella von Treskow
Peter Kuon, L’écriture des revenants: lectures de témoignages de la déportation politique (Bruxelles: Éd. Kimé, 2013), 456 S.
Peter Kuon verwendet in seiner Analyse der Erinnerungsliteratur von KZ-Überlebenden in L’écriture des revenants präzise bezeichnete Kriterien für den methodischen Zugriff auf das Zeugnis als Genre und Schreibpraxis. Als Grundlage wie Hauptziel seiner Untersuchung weist er ihm einen eigenen Textstatus zu. Für die einen ein nur zeitweilig und schwach entwickelter Flussarm der Literatur, für die anderen gar nicht Teil eines sich scharf von Sachtexten abgrenzenden Supersystems Literatur, für die dritten „lediglich“ Dokumente, für die vierten umkämpfte und der Verteidigung bedürftige Textklasse von hoher, eigener Relevanz werden Zeugnisse zur nationalsozialistischen und faschistischen Repression und Gefangenschaft in Europa – rapportierende oder erzählende Berichte, Romane, Theater und Dichtung – gegenwärtig mit sehr verschieden intendierten Perspektiven literaturkritisch observiert. „Zeugnis“ ist einerseits zum Rahmenbegriff geworden, der die Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen erfasst, andererseits zum Textsortenbegriff, der sich eng auf Prosaschriften bezieht, die ihrerseits eng auf die Person der Zeugin oder des Zeugen bezogen sind. Die literaturwissenschaftlichen Zugänge zu Texten oder auch Interviews, die mit Zeugnis zu bezeichnen sich etabliert hat, unterscheiden sich z.B. durch die Auswahl des Korpus nach Sprache oder spezifischem historischem Bezug. Die Gattungsdefinition hat im Zuge der steigenden Beschäftigung mit dem Zeugnis und der Erinnerungsliteratur, die ohne die Referenz zur politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht denkbar ist, eine Um-, auch Aufwertung erfahren. Der Aufwertung scheint die Suche nach Distinktionszeichen noch hinterherzuhinken, wenn sie natürlich auch die Auseinandersetzung wesentlich antreibt.
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In L’écriture des revenants kritisiert der Verf. ohne Umschweife diskreditierende Positionen zum témoignage und legt umsichtig die Fundamente für ein Gerüst aus geeigneten Mitteln zur Analyse von Zeugnissen politisch Verfolgter. Sein Korpus bilden französischsprachige Schriften, die im Zusammenhang mit dem KZ-System Mauthausen, Österreich, entstanden sind. Im Anhang befinden sich die Informationen zum Korpus, in fünf Annexes werden tabellarisch die wichtigsten Details und kurze Inhaltsangaben geliefert, zusätzlich das Material nach verschiedenen Merkmalen strukturiert und ausgewertet. Die literaturanalytischen Mittel dienen dazu, die nur teilweise dem belletristischen Hauptstrang zugehörige, darüber hinaus etwas wildwüchsige, aber nicht diskursiv isolierte und stets vom Willen zu einem treffenden Ausdruck, zu publikumsorientierter Kommunikation und ethischer Klarheit gespeiste Produktion aus der Feder von Rückkehrern des KZ-Systems Mauthausen zu untersuchen, die Originalität der Einzeltexte zu erfassen und uns ihren spezifischen Wert vor Augen zu führen. Der Verf. plädiert dabei für die Anerkennung des eigenen textuellen Status („statut textuel“) des Zeugnisses, in den das soziale Ansehen und die Autorität des Zeugen, der Anspruch und die Versicherung der Autorinnen und Autoren, die Wahrheit zu sagen („la prétention à dire la vérité“), die Vermittlung von Erfahrungen, die die Leserschaft nicht kennt, und damit die Untrennbarkeit der Verbindung zwischen Autorschaft und Inhalt, auch Inhalt symbolischer Art, sowie die autobiographische Dimension („la dimension autobiographique“) einfließen. Die Kriterien sind damit deutlich weiter als z.B. jene, die Mesnard in Témoignage en résistance1 für einen témoignage littéraire geltend gemacht hat. Kuons Anliegen ist, dem Defizienz-Vorwurf, der an die Masse der Deportierten-Literatur gerichtet ist, entgegenzutreten und aktuellen Forschungstendenzen zu widerstehen, die der Öffentlichkeit unbekannteren Werke gar nicht erst heranzuziehen, wenn es um Zeugen- bzw. Überlebenden-Literatur geht. Selbst Untersuchungen zum Zeugnis, die ein breites Spektrum an Texten zum Gegenstand haben, entwickeln ihre Hauptthesen aus einem engen Kreis bekannter Werke renommierter Autoren und Autorinnen, wie er im ersten Kapitel ausführt, mit entsprechenden Folgen für die literaturwissenschaftlichen Bahnen, in denen gemeinhin gedacht wird.
Aus den Bedingungen und Zielen der Autoren und Autorinnen und der Zeugnisse selbst werden die Untersuchungskriterien abgeleitet, auch ausgehend vom unbedingten „Prinzip der Individualität der Texte“ (14, 85) und in unmissverständlicher Ablehnung der Ansprüche und eingefahrenen Erwartungen von Lesern, die gar nicht die primären Adressaten testimonialer Literatur sind. Den Akzent legt Kuon dabei auf den performativen Aspekt. Ecriture ist nicht einfach ein aktuellerer Begriff für literarisches Schaffen. Zum Bezugspunkt wird anstelle unzureichender Versuche der Orientierung an einer festen Gattungsidee die Beschreibung eines Felds autobiographischer Praxis, „un champ, sillonné par plusieurs pratiques d’écriture“ (57).
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L’écriture des revenants gliedert sich in drei große Hauptteile: (1) Méthodes, (2) Expériences, (3) Ecritures. Im Teil Méthodes wird zunächst die Konzentration auf Zeugnisse zur politischen Deportation erkärt und die Verfasstheit des Korpus dargelegt (vgl. Annexes und Bibliographie 1. Textes, 1.1. Témoignages sur Mauthausen). Detailliert werden die literatursemiotisch fundierten Zugänge ausgebreitet, die Analyse-Matrix expliziert und die Schlüsselidee begründet, das Zeugnis als hybrides Genre zu definieren. Es gilt hier eben nicht als defizitär, sondern als Zeichensatz und Ergebnis einer Fügung vielfältiger Intentionen, welche sich nicht selten behindern oder entgegenstehen. Sie bilden die „hybride Essenz des KZ-Zeugnisses“ („l’essence hybride du témoignage concentrationnaire“, 84). Gerade in der so entstehenden „heterogenen Textualität“ (textualité hétérogène, 84) erkennt der Verf. den Ausdruck der Schwierigkeit zu sagen, was unsagbar scheint, die Konzentrationslager-Erfahrung („la difficulté de dire ce qui paraît indicible: l’expérience concentrationnaire“, 84). Wie Wieviorka in Déportation et génocide2 und Mesnard in Témoignage en résistance kann Kuon der topischen Unsagbarkeits-These kaum etwas abgewinnen. Aus den Punkten Heterogenität und difficulté de dire entwickeln sich wesentliche Impulse der Untersuchung L’écriture des revenants: Verstehen der hybriden Textstrukturen und Erkenntnis der Schwierigkeiten ihrer Urheber, die Erfahrung der KZ-Haft und des Überlebens überhaupt oder treffend zum Ausdruck zu bringen, wobei speziell die Frage der Angemessenheit Aufmerksamkeit auf sich zieht und zurecht als Problem erscheint – denn wer wollte bestimmen, was angemessen ist.
Der Teil Expériences zeigt die sprachlich-literarische Bandbreite der rhetorischen Möglichkeiten in Bezug auf vier Erfahrungsfelder: Ankunft, Entmenschlichung, Widerstandsfähigkeit und Widerstand, Befreiung. Sorgfältig werden die Zeugnisse analysiert und zueinander in Bezug gesetzt. Keinesfalls berücksichtigt der Verf. übrigens nur französischsprachige Texte und keinesfalls stehen nur Berichte in Rede – in L’écriture des revenants zählt auch der Roman, die Reportage, die Lyrik u.a. zum Textsortenspektrum, wenn sich letzteren v.a. auch eigene Kapitel im dritten Teil zuwenden. Das erklärte Ziel, die französischen Texte zum KZ Mauthausen in ihrer Autonomie zu würdigen, sie im politisch-historischen Kontext zu situieren und miteinander in Dialog zu bringen, geht über die ohnehin weiten Grenzen der Text-Untersuchung hinaus und wird hier, was die wissenschaftliche Umsetzung angeht, auf anschauliche Weise überzeugend erreicht. Besonders sticht die Sensibilität hervor, mit der Peter Kuon die Lektüren vornimmt, Lectures, wie sie der Untertitel bescheiden vermeldet.
Ecritures widmet sich als dritter Teil dem Potential der Zeugnisse in hochgradig komplexen Bezügen, geleitet durch Fragen nach dem Charakter und der Plausibilität von Mythisierungen und Symbolisierungen, der Transparenz des Traumas in der Literatur, das als eigenes und fremdes wie auch als übergreifendes Merkmal für das KZ-System in all seinen Komponenten kennzeichnend ist. Kuon macht deutlich, wie Romane den fiktionalen Status untergraben, der ihnen eigentlich Autorität verleiht, indem sie das Dargestellte als authentisch kaschieren.
Einen eigenen Beitrag zur virulenten Trauma-Debatte und der Problematik der Narratibilität oder Nicht-Narratibilität des Traumatischen bilden die Ausführungen zum psychologischen Echo der Überlebenden-Literatur als Literatur. Penibel wird von Kuon demonstriert, wie Texte vom Trauma explizit („écritures du trauma“, 296–7), jedoch auch implizit, indem Erschütterung vermieden wird (vgl. 287–8), zeugen. Inwiefern „écriture traumatisée“ eine günstige Bezeichnung für Zeugnisse ist, die sprachlich detektierbar Traumatisierung transportieren, wäre zu diskutieren. Kuon arbeitet ungeachtet der methodischen Schwierigkeit, nicht und schwer Vermittelbares ins Verhältnis zu Sprache zu setzen, plausibel heraus, wie sich ein „je souffrant“ bzw. das „anästhesierte Ich“ („je anesthésié“) in „effets d’écriture“ geltend machen kann (293). Über die Wahrheit von Traumata, über ihre Existenz und Abwesenheit lässt sich in der Tat nicht urteilen.
Überlegungen zur Dichtung (Jean Cayrol, André Ullmann, Violette Maurice) und zu Werken, in denen bewusst rhetorische Stilmittel der Belletristik eingesetzt werden (Violette Maurice, François Wetterwald, Paul Tillard) schließen die Untersuchung ab. Maurice, Wetterwald und Tillard versuchen, die Wahrheit der KZ-Erfahrung ästhetisch zu kommunizieren, sie freier von Präzision und konkreter Referentialität und durch stärkere immanente Unifizierungsprozesse nachvollziehbar zu machen. Hier zeigt sich, in Konsequenz auch der zuvor erfolgten minutiösen Analysen weniger stark durchkomponierter Texte, die Kunst der literaturwissenschaftlichen Interpretation in ihrer vollen Stärke. Ohne Pathos, aber engagiert endet die Untersuchung. Es ist nicht möglich – nicht in dieser Studie und nicht in anderen –, vom Gegenstand der Zeugnisse abzusehen.
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L’écriture des revenants ist ein ausgezeichneter wissenschaftlicher Beitrag zur Frage, wie die Literatur der verfolgten Überlebenden des NS-Systems und des zweiten Weltkriegs sinnvoll aus den Konstituenten der Texte selbst zu erfassen ist. Die Mühe, der sich Peter Kuon unterzogen hat, Archivquellen, publiziertes und unpubliziertes Material, sprich eine Vielzahl von Texten eines langen Zeitraums und sehr verschiedener Machart, zu sichten, zu ordnen, präzise zu analysieren und nicht allein anerkannten Werken gewisserweise im Hochamt zum wiederholten Male Bedeutung zu verleihen, ist von unschätzbarem Wert, denn nur diese Intensität verleiht seinen Thesen Glaubhaftigkeit und Schlagkraft. Mehr noch als das ist es auch Kuons Sprachgefühl, das L’écriture des revenants nicht nur für die, die sich mit Literatur im Zusammenhang mit den Repressionen und der Gewalt in Nationalsozialismus und Faschismus, mit Erinnerungsliteratur und Zeugnissen beschäftigen, die Bedeutung literaturwissenschaftlicher Kompetenzen beweist. L’écriture des revenants hat dies mit Dayan Rosenmans Les Alphabeths de la Shoah3 gemein. Dessen Publikation umfasst ein anderes Korpus, ist aber ebenfalls durch eine äußerst sensible Lektüre der Texte charakterisiert und reagiert ähnlich kritisch auf gängige Forschungstraditionen und apodiktische Meinungen im symbolisch hoch angesiedelten Feld der NS- und Genozid-Forschung wie L’écriture des revenants. Die vorzügliche Kenntnis sowohl der Forschungslage wie auch der historischen Umstände ist die Voraussetzung des Gewichts, das die Ergebnisse zur „Mauthausen-Literatur“ in der spezifischen Perspektive des Autors erhalten. Um Peter Kuons Neukonturierung des Felds und seine Zusammenstellung offener Definitionskriterien für Zeugnisse als Texte und Bezeugen als Akt wird man literaturanalytisch nicht herumkommen. Speziell die Methodologie und Interpretationsqualität sind für die Untersuchung der Literatur von Zwangsarbeitern, Inhaftierten und Überlebenden von Lagern vorbildhaft und daher wegweisend.
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