Unheimliche Nachbilder der Katastrophe

Judith Kasper

Thomas Klinkert und Günter Oesterle, Hrsg., Katastrophe und Gedächtnis, linguae & litterae 25 (Berlin: De Gruyter, 2014), 445 S.

Von „Katastrophen“ ist allenthalben die Rede. Kriege, Genozide, Brände, Schiffs- und Eisenbahnunglücke, Flugzeugabstürze, Atomunfälle, Börsencrashs – sie alle werden als Katastrophen bezeichnet, zumal wenn mit einem gewissen Pathos das Erschrecken, das von diesen Ereignissen ausgeht, hervorgehoben werden soll. Der übermäßige Gebrauch des Wortes führt jedoch zugleich zu seiner Entleerung. Umso dringlicher stellt sich von philologischer und kulturwissenschaftlicher Seite die Aufgabe, der Verwässerung des Begriffs entgegenzuwirken, nicht zuletzt weil es sich um einen Begriff handelt, der aus dem Gegenstandsbereich der Literatur- und Kulturwissenschaft selbst – nämlich dem Theater – stammt.

Vielleicht nirgends sonst wie in der Redewendung „das Jahrhundert der Katastrophen“, mit der oftmals das 20. Jahrhundert betitelt wird, verdichtet sich die Inflation des Wortes. Mindestens hundert Katastrophen sind damit gemeint und doch vor allem zwei Weltkriege und die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Wie gehen wir um mit der symptomatischen Unschärfe dieses Begriffs? Wie kommt es dazu und wie können wir dieser Unschärfe entgegenwirken und sie doch zugleich auch theoretisch produktiv machen? Wie lässt sich das Bedürfnis, die einzelnen Katastrophen in ihrer raum-zeitlichen Begrenztheit zu beschreiben und auf diese Weise historisch zu unterscheiden, mit der unerhörten Tatsache zusammendenken, dass das 20. Jahrhundert Katastrophen hervorgebracht hat, die eine solche Beschreibung und Unterscheidung gerade verunmöglicht haben? Ist das „Jahrhundert der Katastrophen“ mit seinen hunderten von Katastrophen eine „einzige Katastrophe“, wie Benjamin geschrieben hat (wobei wir vielleicht im Zahladjektiv „einzig“ das „eine“ und das „zig-Fache“ zugleich hören sollten)? Wann und wo beginnt diese „einzige Katastrophe“, wann und wo endet sie? Wann und wo beginnt und wann und wo endet das Jahrhundert, wenn die Frage, wann und wo die Katastrophe anfängt und endet, vielleicht gar keinen Sinn mehr macht?

Der von Thomas Klinkert und Günter Oesterle herausgegebene Band Katastrophe und Gedächtnis stellt derartige Fragen noch einmal, und zwar unter den Vorzeichen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien, die derzeit nicht mehr ganz so hoch im Kurs stehen, aber im Anschluss an die aktuellen Katastrophen-Diskurse neuerliche Aktualität gewinnen. Während die Protagonisten der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie (ich nenne hier nur Aleida Assmann und Pierre Nora) letztlich von der identitätsbegründenden Funktion des Gedächtnisses ausgegangen sind, rückt dieser Band – im Anschluss an die wichtigen, vor allem amerikanischen Arbeiten zu Trauma und Gedächtnis (ich verweise hier vor allem auf die Veröffentlichungen von Cathy Caruth und Shoshana Felman) – abermals die Tatsache in den Vordergrund, dass es angesichts der Katastrophe kein von der Katastrophe unberührtes, intaktes und identitätsstiftendes Gedächtnis mehr geben kann.

Der Band nimmt vor diesem Hintergrund die „man-made disasters“ des 20. Jahrhunderts noch einmal in den Blick: Angefangen mit den erfahrungsarmen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, die das Gedächtnis der Kriegsteilnehmer nachhaltig traumatisiert haben; endend mit den Terroranschlägen auf die Twin Towers in New York am 11. September 2001. Diese Ränder des 20. Jahrhunderts werden in diesem Band durch wenige Aufsätze skizziert.1 Die Mehrzahl der Beiträge steht im Bann der Shoah, die als „catastrophe mémorielle“, „catastrophe épistémologique“ und „catastrophe anthropologique“ den Diskurs über andere Katastrophen – vor allem über den Völkermord an den Armeniern, über den Völkermord in Bosnien und den Genozid in Ruanda – maßgeblich geprägt hat.2

Die drei Adjektive, die die Katastrophe hier flankieren – „mémorielle“, „épistémologique“ und „anthropologique“ entstammen dem Beitrag von Aurelia Kalisky. Es ist der einzige, der auf Französisch verfasst ist und es ist der umfangreichste in diesem Band. Kalisky nimmt sich darin vor, die Katastrophe ganz grundsätzlich in den Blick zu nehmen. Am Ende ihrer Argumentation schreibt sie „Catastrophe“ schließlich mit einer Majuskel, sie wird damit zum „emblematischen Namen der Genozide“ erhoben.3 Während „Genozid“ vor allem ein juridischer Begriff sei, erfasse die „Catastrophe“ als ein philosophisch-kultureller Begriff die Auswirkungen eines Genozids in gedächtniskultureller Hinsicht.

Selbst wenn Kalisky zunächst weit ausholt und auch die sogenannten Naturkatastrophen kurz in den Blick nimmt, ist doch von vornherein klar, dass es ihr um die Katastrophe der Genozide geht und insbesondere um die Frage, wie der Mord an einer Bevölkerungsgruppe auch das politische, kulturelle und kollektive Gedächtnis daran entscheidend kontaminiert. Die Absicht der Nationalsozialisten, nicht nur die europäischen Juden zu vernichten, sondern auch alle Spuren, die davon zeugen könnten, ist dafür paradigmatisch. Die „Catastrophe“ ist mithin eine Katastrophe, die auch eine Gedächtniskatastrophe – einen „mnémocide“ – impliziert. Die „catastrophe mémorielle“ betrifft damit einerseits die singulären, traumatisierten Gedächtnisse der Überlebenden, andererseits das Archiv: die Aufbewahrung von Dokumenten, aber insbesondere auch deren Manipulation und Zerstörung. Beides zusammen führt zur immensen Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, in den überlieferten kulturellen und institutionellen Formen Trauerarbeit zu leisten bzw. von der Katastrophe, wenn sie denn das Gedächtnis an sie selbst zu zerstören droht, Zeugenschaft abzulegen.

Wenn die Herausgeber also in ihrem Vorwort die Katastrophe als „destruktives Ereignis großen Ausmaßes verstehen, welches nicht nur einzelne Mitglieder eines Kollektivs, sondern das Kollektiv insgesamt betrifft“4, dann muss die Art und Weise dieses Betreffens vor allem in den Auswirkungen dieses destruktiven Ereignisses auf die Gedächtniskultur insgesamt analysiert werden. Während sich Kalisky aus explizit kulturwissenschaftlicher Perspektive hauptsächlich um die juristischen und politischen Aspekte der Gedächtniskatastrophe kümmert, legen die anderen Beiträge vielmehr den Akzent auf die Frage, wie sich künstlerische Ausdrucksformen – vornehmlich Literatur und Film – zu einer Katastrophe, die ein zerstörtes Gedächtnis hinterlässt, verhalten, wo sie selbst nichts anderes sind als Äußerungen eben dieses zerstörten Gedächtnisses.

Abgesehen von wenigen Ausnahmen wird das Wort „Katastrophe“, dem eine ausgesprochen komplexe Begriffsgeschichte zugrunde liegt, in diesem Sammelband relativ unhinterfragt und unkritisch verwendet. Es dient meist als Ausgangspunkt, um die Erfahrungen von Krieg und Gewalt zu bezeichnen, die in immer wieder anderer Weise sprachlich oder bildlich verarbeitet werden. Meines Erachtens wäre es jedoch wichtig gewesen, die Katastrophe nicht als selbstverständlichen Begriff zu setzen, sondern vielmehr in begriffsarchäologischer und diskursanalytischer Weise zu untersuchen, in welcher Art und Weise Philosophen, Schriftsteller und Künstler mit dem Begriff der Katastrophe operieren, wenn sie versuchen, die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts in den Blick nehmen. Dies geschieht nur sporadisch, zum Beispiel wenn Kalisky darauf hinweist, ohne weiter darauf einzugehen, dass die überlebenden Opfer des Holocaust als erste den Begriff Katastrophe verwendet hätten und Adorno der erste gewesen sei, der diesem Begriff in Minima Moralia in Bezug auf den Mord an den Juden eine philosophische Dimension verliehen habe.5

Die Begriffsgeschichte der Katastrophe – dies sei hier nur angedeutet – ist voraussetzungsreich und von komplizierten Übertragungen gezeichnet.6 Aus der antiken Poetik (wo der Begriff übrigens – das wird häufig übersehen – gerade im Kontext von Aristoteles’ Ausführungen zur Tragödie, woher wir sie zu kennen meinen, fehlt) wandert er unter dem Eindruck der verheerenden Erdbeben von Lissabon und Messina in den geologischen Diskurs ein und überträgt sich von dort wiederum auf die revolutionären Ereignisse der Sattelzeit um 1800. In der Folge neigt das ganze 19. Jahrhundert dazu, politische Umwälzungen in naturhistorischen Katastrophen-Begriffen zu fassen. Man denke hier nur an Kleists paradigmatische Erzählung Das Erdbeben von Chili. Erst das 20. Jahrhundert entwickelt einen kritischen Katastrophendiskurs, der zwischen Natur- und von Menschen verursachten Katastrophen zu unterscheiden sucht. Doch erfährt hier der Begriff angesichts der unvordenklichen Erfahrungen von Totalitarismus, Genozid und Vernichtungskrieg eine andere Unschärfe. In der Tat ist nun nicht mehr auszumachen, wo eine Katastrophe anfängt und wo sie aufhört, weder im zeitlichen noch im räumlichen Sinne.

Letzterer Sachverhalt hat damit zu tun, dass diese Katastrophe eine „epistemologische Katastrophe“ zeitigt: Sie hat unsere raum-zeitlichen Ordnungskonzepte zunichte gemacht. Kalisky erörtert diesen Zusammenhang in verdienstvoller Weise sehr ausführlich; umso problematischer erscheint jedoch gerade darum ihr unerschütterter Anspruch, einem mehr affirmativen als fragenden Gestus folgend, die Diskurse über die Katastrophe systematisieren zu wollen, um zu festen Kategorien und Aussagen zu gelangen.

Es gibt aber auch Beiträge in diesem Band, die letzteres Desiderat, nämlich die epistemologische Problematik in die eigene Reflexion einfließen zu lassen, zu befriedigen wissen. So bieten Vittoria Borsòs Überlegungen ausgehend von Walter Benjamins neunter geschichtsphilosophischer These, in der der berühmte Engel der Geschichte aufgerufen wird, Überraschungen. Denn sie zeigt, wie das überstrapazierte Denkbild, dem bekanntlich Paul Klees Zeichnung „Angelus Novus“ zugrunde liegt, in sich – in Bild und Text – gespalten ist und nie mit sich selbst übereinstimmt. Die Differenz zwischen Sichtbaren und Sagbarem bleibt darin unaufhebbar. Wenn Benjamin also von einer „einzigen Katastrophe“ spricht, „die unablässig Trümmer auf Trümmer anhäuft und sie dem Engel vor die Füße schleudert“, dann ist damit nicht nur einfach eine Umschreibung der Katastrophe gegeben (wenngleich freilich eine, die jede Eingrenzung der Katastrophe von vornherein problematisiert), sondern im spannungsgeladenen Verhältnis von Bild und Text wird etwas von der Katastrophe selbst aktualisiert. Wenn Katastrophe mit „Gabelung“ übersetzt werden kann, wie Borsò vorschlägt, dann manifestiert sie sich genau in der Aufsprengung der „These“ in etwas, das sich nicht mehr als These fassen lässt. Die „These“ wird vielmehr zu einer in sich zerklüfteten Collage, die keine schlüssige Deutung mehr zulässt. Die Gabelung der Katastrophe, die auf diese Weise in Benjamins Reflexion selbst eintritt, würde somit aber auch – und das ist die entscheidende Umwendung – in den Moment, an dem sich die Geschichte in einen einzigen Schrecken einzuschließen droht, zugleich eine Öffnung bewirken, durch die sich die Jetztzeit zum Anderen hin öffnet.7

Sich an dieser Gabelung der Katastrophe aufzuhalten, darin sieht Borsò mit Rancière die Politik des Ästhetischen. Das impliziert in erster Hinsicht, das Zweideutige, Gegabelte am Begriff der Katastrophe selbst herauszuarbeiten, um auf diese Weise die einsinnige Rede über die Katastrophe aufzustören.

Montage – in Benjamins Katastrophen-Denken zentral – ist nicht zuletzt eine vorherrschende Praxis, mit der die Künste – spätestens seit dem 1. Weltkrieg – im Feld des Katastrophischen agieren. So stellt Alexander Honold in den Mittelpunkt seiner Überlegungen Döblins Berlin Alexanderplatz, der für den Montageroman paradigmatisch ist; Angelika Corbineau-Hoffmann erläutert anhand der zerklüfteten Bilder von Otto Dix die „alles Maß übersteigende Herausforderung an die Künste“ angesichts des Leidens etwas tun zu müssen, was sie eigentlich nicht können, nämlich „das Sterben der individuellen Erinnerung als kollektive Memoria festzuhalten“8.

Die Montage bricht die Repräsentation auf zugunsten einer Aktualisierung. Um diesen Aspekt geht es auch Silke Segler-Meßner in ihrer Auseinandersetzung mit den beiden paradigmatischen französischen Filmwerken über die Verfolgung und Vernichtung der Juden: Alain Resnais’ Nuit et brouillard und Claude Lanzmanns Shoah. Für beide ist der klassische Dokumentarfilm ungeeignet, die Erinnerung an historische Traumata zu aktualisieren. Aktualisierung ist das Gegenteil von Identifizierung, meint vielmehr die Verstörung durch Bilder, die eine Realität nicht mehr eindeutig darstellen, sondern als Vexier- und Kippbilder immer auch anderes aufscheinen lassen. Auch hier geht es um gespaltene, gegabelte Bilder, in die die Katastrophe selbst eingebrochen ist, so zum Beispiel wenn in Nuit et brouillard die Stimme aus dem Off ein Feriendorf beschreibt, während die Kamera bereits das KZ-Gelände ins Bild bringt.9

Montage überträgt also die Katastrophe in die Repräsentation und sprengt diese von innen her auf. Ähnliches passiert mit Referenz, wie dies beispielhaft von Claudia Brodsky herausgearbeitet wird. Sie unterstreicht in ihrem Beitrag, wie für Lanzmann die Frage der exakten Bestimmung, wo ein Lager anfing und wo es aufhörte, von höchster Bedeutung ist. Dieser Bestimmungsversuch wird von einer Geste begleitet, die sich in einem Raum vollzieht, in dem die Grenzen nicht mehr nachvollziehbar sind. „Genocide“ und „countryside“, die sich im englisch verfassten Essay von Brodsky reimen, müssen unterschieden werden. Und zugleich wird die Unmöglichkeit einer solchen Unterscheidung nirgendwo deutlicher ausgestellt als in der deiktischen Geste, die diese Unterscheidung noch einmal vornehmen möchte.10

Wo Lanzmanns Geste angesichts der Bestimmungen der Grenzen des Ortes der Katastrophe versagt, sagt sie doch zugleich, dass dieses Versagen gesagt werden muss. Sie referiert nicht zuletzt noch einmal auf die „Urform kultureller Erinnerung“ (Jan Assmann), die gemeinhin in der durch Cicero und Quintilian überlieferten Legende von der Erfindung der Mnemotechnik erkannt wird. Der kulturelle Gedächtnisakt, der ein mnemotechnischer ist, erwächst aus einer Katastrophe, deren einziger Überlebender der antike Dichter Simonides ist. Während eines Festbanketts stürzt der Palast ein und alle geladenen Gäste, mit Ausnahme von Simonides, liegen verstümmelt unter den Trümmern. Da Simonides sich eingeprägt hatte, wer an welchem Platz saß, konnten die Leichen identifiziert, begraben und betrauert werden. Günter Butzer erinnert in seinem Beitrag an diese Legende, die gleichsam in einer Urszene Katastrophe und Gedächtnis aneinanderbindet.11 Er widmet sich im Folgenden dem Motiv der Unterweltsreise in Primo Levis Darstellung der Lagererfahrung. Ich möchte indessen einen Moment bei dieser antiken Legende verweilen, auf die sich zahlreiche gedächtnistheoretische Arbeiten der letzten zwanzig Jahre beziehen, ohne sie indessen eingehender zu analysieren.12 Zumindest möchte ich die Gelegenheit ergreifen, darauf hinzuweisen, dass die Legende ja nicht nur von der Erfindung eines mnemotechnischen Dispositivs erzählt, dank dessen die Leichen einer Katastrophe identifiziert, begraben und betrauert werden können; sie erzählt auch davon, dass die Mnemotechnik aus der Dichtung heraus entwickelt worden ist, dass die Katastrophe aber auch den Dichter dazu genötigt hat, seinen Gesang zu unterbrechen, um stattdessen eine mnemotechnische Operation durchzuführen. Dichtung steht mithin in einem wesentlich engeren Zusammenhang zu Gedächtnis, Zeugenschaft und Trauer, als wir dies heutzutage gemeinhin annehmen. In Bezug auf das Gedächtnis an die Katastrophen unserer Gegenwart muss oftmals allzu mühsam gerechtfertigt werden, dass es neben den gerichtlichen Prozessen und den historischen Forschungen auch der literarischen Bearbeitung bedarf. Selbst wenn die gegenwärtigen Katastrophen nicht mehr so überschaubar sind wie der Einsturz des Palastes des Fürsten Skopas, lohnt es sich doch, diese Legende immer wieder neu zu lesen. Denn sie ruft uns in Erinnerung, dass der Dichter als Überlebender einer Katastrophe nicht einfach ein Zeuge unter anderen ist, sondern ein besonderes Bewusstsein für die komplexe Verbindung zwischen Dichtung und Zeugenschaft im Hinblick auf das Gedächtnis einer Katastrophe hat. Diese Verbindung kann vielleicht folgendermaßen knapp gefasst werden: Dichtung ist die Voraussetzung für das Gedächtnis der Katastrophe, zugleich setzt das Gedächtnis der Katastrophe Dichtung aus.

Die Durcharbeitung der traumatischen Folgen einer Katastrophe braucht hingegen Literatur und Kunst mehr denn je. Denn wo die kulturell überlieferten Rituale der Trauer zu kurz greifen, erweisen sich Literatur und Kunst als Ausdrucksformen, in denen auf nie einfach gegebene, sondern immer wieder neu zu erfindende Weise eine Transformation traumatischer Erinnerungen eingeleitet werden kann. Darin sieht Rolf G. Renner die entscheidende Funktion des Ästhetischen in der Moderne. Er zeigt dies am Beispiel von Semprúns und Sebalds Schreiben und er betont darin – hier ergibt sich ein enger Bezug zu Borsòs Beitrag – wiederum das intermediale Spiel von Text und Bild, in dem jene Zwischenräume entstehen, die eine endgültige Deutung eines katastrophalen Ereignisses zugunsten immer neuer Gabelungen aufschieben.13 Angesichts einer „catastrophe mémorielle“ ist die mimetische Abbildung verunmöglicht; statt einer getreuen Abbildung machen sich Gespenster und Phantasmen breit, die von den vermeintlich authentischen Bildern einer Katastrophe weit entfernt sind. Die Gedächtnisfunktion von Literatur ist nunmehr weniger darin zu sehen, dass sie Historie abbildet, sondern dass sie sich zu den unheimlichen Nachbildern der Katastrophe in ein Verhältnis setzt und Gesten findet, die dem irreparabel Beschädigten, dem Verstummten in der Sprache eingedenk sind.


  1. Zum Ersten Weltkrieg siehe die Beiträge von Alexander Honold, „Im Nervenzentrum der Katastrophe: die Großstadt als traumatischer Gedächtnisraum in Döblins Berlin Alexanderplatz“, 99–119 und Angelika Corbineau-Hoffmann, „Erinnerung in extremis oder: Die Schreibweisen des Entsetzens. Reflexion über Krieg und Kunst“, 120–47; zu 9/11 siehe den Beitrag von Ursula Hennigfeld, „Der Augenzeuge und das Unsagbare: Narrative der Shoah in 9/11-Romanen“, 388–402.

  2. Im Einzelnen sind dies: Silke Segler-Meßner, „Topographien der Auslöschung: Cayrol, Resnais, Lanzmann“, 191–222; Peter Kuon, „‚[…] en contournant le quartier juif […]‘: Verdrängung und Erinnerung in Albert Camus’ ‚La Chute‘“, 223–40; Rolf G. Renner, „Umschreiben und Erschreiben: das Erinnern der Katastrophe bei Semprún und Sebald“, 241–56; Monika Neuhofer, „‚Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben‘: zur Leistung des Ich-Erzählers im Spannungsfeld von Katastrophe und Gedächtnis (Jorge Semprún, Imre Kertész, Norbert Gstrein)“, 257–75; Marisa Siguan, „Literatur und Überleben: die literarische Memoria bei Klüger, Améry, Semprún und Levi“, 276–92; Thomas Schmidt, „‚Wofür nur das alles?‘ Zur literarischen Shoah-Darstellung in der DDR“, 293–319; Claudia Brodsky, „Memory, Catastrophe, and Society in Lanzmann, Rousseau, and Goethe“, 320–32; Bettina Bannasch, „‚Anekdoten wie Mandelblättchen‘: Entwürfe mythischen Erzählens in der neueren Shoahliteratur von Frauen“, 333–49; Michael Butter, „Liebesleuchten und Lynchings: Jonathan Safran Foers ‚Everything is Illuminated‘ (2002) und Philip Roths ‚The Plot against America‘ (2004) im Kontext der jüdisch-amerikanischen Holocaustliteratur“, 350–71.

  3. Vgl. in diesem Band Aurelia Kalisky, „D’une catastrophe épistémologique ou la catastrophe génocidaire comme négation de la mémoire“, 18–74, hier: 69.

  4. Vgl. Klinkert und Oesterle, Katastrophe und Gedächtnis, 1.

  5. Vgl. Kalisky, „D’une catastrophe épistémologique“, 51,

  6. Siehe dazu insbesondere den grundlegenden Beitrag von Olaf Briese und Timo Günther, „Katastrophe: terminologische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, Archiv für Begriffsgeschichte 51 (2009): 155–95 sowie meine eigenen Ausführungen in „Für eine Philologie der Kata/strophe“ in: Unfälle der Sprache: literarische und philologische Erkundungen der Katastrophe, hrsg. von Ottmar Ette und Judith Kasper (Wien: turia + kant, 2014), 7–20.

  7. Vgl. den Beitrag von Vittoria Borsò, „Der Engel der Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts: gedächtnistheoretische Umschreibungen der Katastrophe (Frankreich, Mexiko, Italien)“, 75–98, hier: 79.

  8. Corbineau-Hoffmann, „Erinnerung in extremis“, 124.

  9. Vgl. Segler-Meßner, „Topographien der Auslöschung“, 210.

  10. Vgl. Claudia Brodsky, „Memory, Catastrophe and Society in Lanzmann, Rousseau, and Goethe“, 320–32, hier: 325.

  11. Günter Butzer, „Höllenfahrt ohne Auferstehung: die Unterweltsreise als Narrativ katastrophischen Erinnerns“, 167–90, hier: 167f.

  12. Grundlegend für die Lektüre dieser Legende sind folgende Arbeiten: Jesper Svenbro, La parole et le marbre: aux origines de la poétique grecque (Lund: Studentenlitteratur, 1976), 141–72; Stefan Goldmann, „Topoi des Gedenkens: Pausanias’ Reise durch die griechische Gedächtnislandschaft, in: Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hrsg. von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991), 145–64 und ders., „Statt Totenklage Gedächtnis: zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos“, Poetica 21 (1989): 43–66.

  13. Vgl. Renner, „Umschreiben und Erschreiben“, 241–56.





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