Quellen einer noch zu schreibenden Fachgeschichte: Romanistik als Passion III
Maria Selig
Klaus-Dieter Ertler, Hrsg., Romanistik als Passion: Sternstunden der neueren Fachgeschichte III, Fachgeschichte: Romanistik 4 (Münster: LIT Verlag, 2014), 458 S.
Der zu rezensierende Band ist die Nummer drei in einer Folge von inzwischen vier Bänden mit Erinnerungen von Romanistinnen und Romanisten, die seit 2007 in der Reihe „Fachgeschichte: Romanistik“ erscheinen. Das Format der Bände dürfte inzwischen bekannt sein. Mit der einzigen Bedingung, dass die Erinnerungen sich auf nicht mehr aktiv lehrende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beziehen (10), hat Klaus-Dieter Ertler autobiographische Essays, knappe Darstellungen des akademischen Werdegangs, Erinnerungen an die akademischen Lehrer, Würdigungen, Nekrologe, Interviews in diesem wie in den vorangehenden und folgenden Bänden zusammengestellt. Die Auswahl der Beitragenden bzw. Gewürdigten in den einzelnen Bänden ist nicht systematisch, sondern ganz offensichtlich dem ‚Angebot‘, d.h. der Bereitschaft der vertretenen Autorinnen und Autoren, geschuldet. Dennoch gibt es klare Entwicklungslinien, die vor allem die Rezeption und Akzeptanz der Reihe, aber auch fachgeschichtliche Entwicklungen reflektieren: Band III enthält mehr Darstellungen weiblicher Romanistinnen als die vorangehenden Bände; ebenso hat sich der Anteil der in der Sprachwissenschaft Tätigen deutlich erhöht (im bereits erschienenen vierten Band sind sogar mehr Beiträge aus der Sprachwissenschaft als aus der Literaturwissenschaft vertreten). Noch eine weitere Entwicklung scheint mir signifikant: Von den 20 Beiträgen des Bandes sind sieben Erinnerungen an bereits verstorbene Kolleginnen und Kollegen, eine Charakteristik, die sich im darauf folgenden Band nicht mehr fortgesetzt hat. Der dritte Band der Reihe scheint also eine Art Bestandsaufnahme zu sein, in der das bisher entstandene Bild komplettiert wird um Persönlichkeiten, die für die Fachentwicklung in den Nachkriegsjahren wichtig waren, an dem Projekt aber nicht mehr teilnehmen können (Wolfgang Klein, „Karlheinz Barck (1934–2012)“, 15–29; Jens Lüdtke, „Eugenio Coseriu (1921–2002)“, 69–94; Käthe Köhler, „Erich Köhler (1924–1981)“, 157–66; Wolf-Dieter Stempel, „Harri Meier (1905–1990)“, 167–74; Max Pfister, „Gerhard Rohlfs (1892–1986)“, 223–40; Christine Bierbach, Isabel Zollna, Gabriele Berkenbusch und Robert Lug, „Brigitte Schlieben-Lange (1943–2000)“, 241–64; Hans-Martin Gauger, „Mario Wandruszka (1911–2004)“, 399–426).
Die übrigen Beiträger1 des Bandes sind als Sprachwissenschaftler Klaus Bochmann („…das Bedürfnis nach dem ganz Anderen“, 31–67), Gerold Hilty („Romanistik in Zürich“, 125–36), Maria Iliescu („L’importance du hasard“, 137–55), Wulf Oesterreicher („Wie wird einer wie ich Romanist?“, 175–212), Max Pfister („Romanistik als Passion“, 213–22), Ludwig Schauwecker („Wie einer zum Romanisten wurde“, 265–89), Christoph Schwarze („Autobiographische Notizen“, 291–315) und Rudolf Windisch („Sie studieren ja Französisch, nicht Romanistik“, 343–70). Von literaturwissenschaftlicher Seite kommen Wolfgang Drost („Geteilte Liebe: Romanistik und Kunstgeschichte“, 95–108), Winfried Engler, „…allons voir si…“, 109–23), Helmut Siepmann („Romanistik als Passion“, 317–26), Ion Taloş („Mein Weg zur Romanistik: über die rumänische und romanische Volkskunde“, 327–42) und Friedrich Wolfzettel („König Artus (Interview mit Angelika Rieger)“, 371–98). Für die Sprachwissenschaft sehr interessant ist es, in den Beiträgen über Gerhard Rohlfs, Harri Meier, Eugenio Coseriu und Brigitte Schlieben-Lange einerseits und denen von Hilty, Oesterreicher, Pfister, Schwarze und Windisch andererseits etwas über die ‚Kräfteverhältnisse‘ zur Zeit der großen Ordinarien zu erfahren und nachzuvollziehen, wie sich Forschung in einer Zeit vollzog, in der diese Ordinarien noch zentrierende und sich gegenseitig ausschließende methodologische und thematische Standards setzen konnten. Für die Literaturwissenschaft sind vielleicht die Hinweise wichtig, die zu einer Rekonstruktion der Entwicklung der romanistischen Mediävistik (Wolfzettel) oder der Lusitanistik (Siepmann) genutzt werden können.
Ansonsten gilt, wie bereits für die vorherigen Bände, dass eine thematisch-wissenschaftsgeschichtliche Lektüre ‚quer‘ zu den Beiträgen verlaufen muss. Es ist ja auch hervorzuheben, dass die thematische Vielfalt der Beiträge es ermöglicht, entlang der individuellen Lebensläufe ganz unterschiedliche Interessen an die Texte heranzutragen: Die Schilderungen der Kindheit und Schulzeit (Bochmann, Drost, Engler, Iliescu, Oesterreicher, Schwarze, Wolfzettel etc.) können sich auf bildungsgeschichtliche Analysen hin öffnen, die Überlegungen zu den akademischen Lehrern, Mitstreitern und Kollegen führen weiter zu Netzwerken und deren Rolle in der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung. Auch der Hinweis auf die eingestreuten Bemerkungen zu den Berufsverbänden (Romanistenverband, Hispanistenverband) sei erlaubt. Man kann hier institutionsgeschichtliche Überlegungen anschließen, institutionsgeschichtlich im engeren Sinne, konzentriert auf die professionelle Selbstorganisation der Wissenschaftler. Selbstverständlich muss man darauf hinweisen, dass derartige Auswertungen vorsichtig sein müssen. Es besteht, was die biographischen Daten angeht, die Gefahr des Anekdotischen, und selbstverständlich müsste die Konfrontation mit anderen Fächern wie Anglistik oder Germanistik gesucht werden, um zu erkennen, ob es etwas spezifisch ‚Romanistisches‘ an den erzählten Sozialisationen und erläuterten Motivationslagen gibt. Und die Erinnerungen an das berufliche Handeln, die universitären und die forschungsbezogenen Ziele, die von den Verfassern angegeben werden, sind, wie sollte es anders sein, hochgradig subjektiv und wären zumindest empirisch zu kontrollieren, bevor sie für fachgeschichtliche Argumentationslinien eingesetzt werden können.
Es ist allerdings nicht ganz von der Hand zu weisen, dass ich eine Lektüre vorschlage, für die dieser Band nicht vorgesehen ist. Vorbild und Bezugspunkt ist, so scheint es mir, wohl eher eine individualistische und ereigniszentrierte Auffassung von Wissenschaftsentwicklung, und das Interesse richtet sich eher auf die Forscherpersönlichkeit als auf geschichtliche, gesellschaftliche, akademische und schließlich epistemische Strukturen, die über diese Texte im Hintergrund sichtbar gemacht werden sollten. Folgt man dieser Logik, sind die gesammelten Texte in der Perspektive des autobiographischen Schreibens oder Erzählens – in durchaus unterschiedlicher Qualität – zu lesen, und der fachgeschichtliche Zugang, der sie als Datenbasis nutzt, ist klar ein sekundärer. Meine sprachwissenschaftliche forma mentis macht mir allerdings diesen ersteren Zugang schwer. Ich verkenne nicht, dass gerade das Fragmentarische und Individuelle diese Textsammlung vor vielen anderen fachgeschichtlichen Primärdatensammlungen heraushebt. Die Romanistik hat hier einen sehr hoch zu schätzenden Vorrat an Selbstreflexionen, der einen neuen Zugang zur Fachgeschichte erlauben wird. Ich meine aber, dass der Anspruch, der mit dem Reihentitel „Fachgeschichte: Romanistik“ erhoben wird, cum grano salis gelesen werden muss. Die Erinnerungssammlung kann nicht unmittelbar verglichen werden mit fachgeschichtlichen Ansätzen, und zwar unabhängig davon, ob diese die traditionelle Form des Narrativs haben, das Fachgeschichte als eine kohärente Folge von Ereignissen rekonstruiert, oder sie stärker strukturorientiert sind und Fachgeschichte als Geschichte der Rahmenbedingungen der Forschung und Lehre in den Fokus rücken. In diesem Sinne gehört der Band in den Bereich dessen, was man die Quellen einer noch zu schreibenden Fachgeschichte nennen könnte. Als solcher aber ist er wertvoll und durch nichts zu ersetzen.
Verstorben sind unterdessen die Romanisten Gerold Hilty und Wulf Oesterreicher.↩
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