Ästhetische Einsamkeit: Bildung außerhalb des Kanons

Manuel Clemens

Wenn man über Bildung schreibt oder dieses Thema unterrichtet, kann man leicht in eine pathetische Falle geraten: Man spricht vom ‚ganzen Menschen‘, nimmt sich Goethe zum Vorbild oder zitiert Schiller, der im 22. Brief aus Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) schreibt:

[…] der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.1

Die einheitliche Lebensweise, Goethe und das ausgleichende Spiel wurden um 1800 gegen die beginnende Moderne angeführt, weil diese dem Menschen seine Tradition und Ruhezonen nahm und ihn dem Druck einer ökonomischen Denk- und Lebensweise aussetzt. Bildung – und das heißt Kunst, Zweckfreiheit, ganzheitliche Erziehung – soll dementsprechend diesen Verlust ausgleichen. Damit stehen sich in der Bildungsdiskussion zwei Pole gegenüber. Die Welt des ökonomischen Denkens und der Entfremdung auf der einen Seite und die ästhetische Enklave der Literatur und der Kunst auf der anderen. Das Problem, welches schließlich in die pathetische Falle führt, ist, dass es zwischen diesen beiden Polen wenig Austausch gibt. Man kann zwar in der Kunst Momente der Befreiung erfahren, aber da die Kunst vom Leben getrennt ist, muss man sich stets die Frage stellen, was mit dieser Befreiung geschieht, wenn die Kunstenklave verlassen und man wieder ins Leben zurück muss. Dies ist meist ein Verlustgeschäft, weil die Anforderungen des realen Lebens einer Logik gehorchen, welche ästhetische Entspannungen schnell zunichte macht. Ist man jedoch ganz ehrlich, dann muss man sich aber auch eingestehen, dass es bereits schwierig ist, überhaupt erst in einen ästhetischen Zustand zu gelangen, um sich kurzweilig vom Leben zu befreien, dessen Anforderungen es nicht erlauben, es plötzlich künstlerisch zu verändern. Weil es einsam um einen werden kann, wenn man in dieses Spannungsfeld bzw. auf der Suche nach Ästhetik zwischen die gegensätzlichen Pole geraten kann und die Bildungsideen nicht umsetzen kann, haben wir diesem Artikel den Titel „Ästhetische Einsamkeit“2 gegeben.

Es stellt sich deshalb die Frage, wie man vom Leben in die Kunst kommt, um sich zu bilden und anschließend, wie man nach der ästhetischen Bildungsphase wieder in das Leben gelangt ohne von den dortigen Anforderungen wieder so sehr vereinnahmt zu werden, dass die Bildung in der realen Welt nicht zur Wirkung gelangt. Weil diese Übergänge schwierig sind, reduziert sich die Bildungsidee oft auf Pathos: Da man nicht weiß, wie sie funktionieren soll, aber als Idee immer noch für so gut befunden wird, kompensiert man ihre ausbleibende Umsetzung gern mit überschwänglicher Rhetorik. In meinem Beitrag möchte ich nun aufzeigen, was Bildung jenseits dieser pathetischen Falle, aber auch jenseits der schwierigen und daher oft ausbleibenden Übergänge sein könnte. Dafür werden wir nicht nur die ‚Klassiker‘ der Bildungsidee (Kant und Schiller) vorstellen, sondern in einem zweiten Schritt auch Anregungen und Kritik außerhalb dieses Kanons miteinbeziehen (Bergson, Bourdieu und Rancière). Dieser Ansatz soll schlussendlich darlegen, wie sich das Thema Bildung (und damit auch der Bildungsroman) diskutieren lässt, so dass die Grundkategorien und -kategorien erklärt werden können.

Kant und Schiller

Die klassische Epoche der Bildung lässt sich um 1800 in Weimar, Jena und Berlin verorten. Ihre Protagonisten heißen Goethe, Schiller und Humboldt und man nennt diese Konstitutionsphase aufgrund ihrer Ausstrahlung auf das 19. und 20. Jahrhundert auch die ‚Weimarer Klassik‘. Sie begründet die Bildungsidee durch ein neuartiges Zusammengehen von Pädagogik und Ästhetik zur ästhetischen Bildung. Dieser Ursprung der Bildungsidee lässt sich am besten anhand von Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen nachlesen. Die zweite große Figur der klassischen Bildungsepoche ist Wilhelm von Humboldt. Er war von Schillers Ideen so sehr überzeugt, dass er es nicht bei dessen theoretischen Konzeption belassen wollte, sondern die ästhetische Bildung mit einer neuen Organisation des Bildungswesens in die Praxis umsetzte. Auf ihn geht das humboldtsche Gymnasium zurück, das nicht auf einen bestimmten Beruf, sondern im Hinblick auf Persönlichkeitsbildung ausbildet, sowie die moderne Forschungsuniversität, an der das Wissen nicht auswendig gelernt und streng abgefragt, sondern in Form eines kritischen Dialogs zwischen Professor und Studenten erörtert wird. Der Übervater der Bildung ist allerdings Goethe. Zwar hat er diese nicht theoretisch begründet, jedoch wurde er mit seinem Genie und vielseitigem Interesse an der Welt zum Vorbild der Bildungsidee. Er stand Schiller und Humboldt stets Rat gebend zur Seite und schrieb mit Wilhelm Meister den ersten großen deutschen Bildungsroman, der, wie Schillers Ästhetische Briefe, auch heute noch ein wichtiger Referenzpunkt ist.

Schillers Grundgedanke erschließt sich am besten, wenn man sich zunächst seinem prominentesten Gegner zuwendet. Dieser heißt Immanuel Kant und ist Schillers Kontrahent, weil er mit dem kategorischen Imperativ ein Gesetz aufstellt, nachdem er die Menschen auffordert zu leben, diese es aber aufgrund seiner Strenge nicht umsetzten können. Der kategorische Imperativ ist ein moralisches Gebot aus Kants Kritik der praktischen Vernunft (1788) und besagt, dass man so leben solle, dass die eigene Handlung jederzeit zu einem allgemeinen Gesetz für alle Menschen werden könne. Das ist an sich noch nicht streng, sondern erinnert, zumindest auf den ersten Blick, an das Sprichwort „Was Du nicht willst, das man Dir tu’, das füge auch keinen anderen zu“, gegen das nichts einzuwenden ist. Aber Kant geht einen entscheidenden Schritt weiter. Er möchte nicht, dass man beliebig und situativ abwägt, was das Gute sein könnte, sondern postuliert, dass stets nach dem gleichen Schema vorgegangen werden müsse: Befinde ich mich in einer Situation, die eine Entscheidung zu einer guten Handlung erfordert, muss ich notwendig immer so handeln, dass diese Handlung nicht nur in diesem Einzelfall gut ist, sondern auch wenn alle Menschen so handeln würden noch gut wäre und damit die Grundlage für ein allgemein verbindliches Gesetz sein könnte.

Das rigorose Absehen von den eigenen Interessen hat zur gewünschten Folge, dass von den persönlichen Bedürfnissen abgesehen wird und sich das Handeln auf das Interesse der Allgemeinheit ausrichtet. Somit lautet der kategorische Imperativ in seiner bekanntesten Formulierung „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“3 Er besagt, dass wir dieses Prinzip fest in uns verankern sollen und uns zu ihm a priori, d.h. vor jeglicher Erfahrung mit der Realität und dem persönlichen Einzelfall bekennen müssen. Dieser Anspruch, sei er nun rein oder tollkühn zu nennen, ist für das Projekt dann insofern von Vorteil, als es nicht scheitert, wenn es mit Schwierigkeiten konfrontiert wird. Und eben diesen Schwierigkeiten bzw. den menschlichen Leidenschaften wollte Kant aus dem Weg gehen. Die Nachteile dieses Gesetzes ergeben sich fast schon von selbst, denn der Mensch lebt nicht abstrakt vor seinen Erfahrungen, sondern situativ mit oder* innerhalb dieser Erfahrungen. Doch wie bekommt man denn die Menschen dazu, stets im Hinblick auf ein allgemeines Gesetz und gegen ihren individuellen Willen zu handeln? Kant hat darauf keine Antwort, schreibt aber an zahlreichen Stellen in der Kritik der praktischen Vernunft*, dass sich der Mensch zum Guten überwinden, ja sogar nötigen müsse:

Die Handlung, die nach diesem Gesetze, mit Ausschließung aller Bestimmungsgründe aus Neigung, objektiv praktisch ist, heißt Pflicht, welche, um dieser Ausschließung willen, in ihrem Begriffe praktische Nötigung, d.i. Bestimmung zu Handlungen, so ungerne, wie sie auch geschehen mögen, enthält.4

Nur, der Mensch überwindet seine individuellen und oft lustvollen Neigungen und Launen nicht so gerne, und wenn er es dennoch tut, heißt es noch lange nicht, dass dieses Resultat auch gut ist, weil es durch Lustlosigkeit und Zwang erzeugt wurde. Schillers Antwort auf den von Kant postulierten Imperativ ist eine ästhetische Bildung, die er in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen beschreibt. Seine grundlegende Idee ist, dass der Zwang durch Schönheit ersetzt werden soll. Das bedeutet – und das ist an dieser Stelle wichtig hervorzuheben –, dass er nicht Kants Idee einer allgemeinen Gesetzlichkeit für alle Menschen gleichermaßen kritisiert, sondern nur den kategorisch imperativen Weg dorthin. Dieser Weg soll für Schiller über das Medium Kunst vermittelt werden, weil diese den entscheidenden Vorteil hat, zwanglos erziehen zu können.

Der Grundgedanke der Ästhetischen Briefe ist folgender: Der kategorische Imperativ spricht nur den Verstand an, der nur geringen Einfluss auf das menschliche Wollen und Sollen hat. Unsere Wünsche und Bedürfnisse entstehen nach Schiller in einer unbewussten Sinnlichkeit, die sich wenig um Verstand, Moral und Gesetz kümmert. Schreibt man also dem Verstand vor, was er zu tun hat, dann ignoriert dies die Sinnlichkeit, weil sie nach Freiheit und der Verwirklichung individueller Wünsche und Lüste strebt. Sie schaltet unsere Vernunft aus, und letztere kann nur die Oberhand über die Sinne gewinnen, wenn sie diese durch Selbstzwang überwindet und eliminiert. Die Sinnlichkeit ist jedoch letztendlich immer stärker als der Verstand und weißt der Verstand die Sinne in ihre Schranken, so befolgt sie seine Befehle nur oberflächlich, weshalb sich somit Ziele nur oberflächlich mittels einer einseitigen Konzentration auf den Verstand umsetzen lassen. Für Schiller soll daher der Verstand nicht versuchen, die Sinnlichkeit zu erziehen, vielmehr findet er mit Hilfe der Kunst ein Verfahren, mit dem die Kunst als Sinnlichkeit eine andere Sinnlichkeit anspricht. Schillers Hoffnung ist also, dass die Kunst – die nach Schillers Kunstideal über das gleiche Maß an Moralität verfügt wie der kategorische Imperativ – die Sinne des Menschen erzieht, so dass der Mensch schließlich über diesen Umweg das Gute genauso in sein Handeln integrieren möchte wie das Ausleben seiner Wünsche. Die Idee des Guten wird sozusagen in einen sinnlichen Trieb umgewandelt und wirkt daher auf den Einzelnen lustvoll und nicht so Lust abtötend wie die Botschaften des Verstandes. Ist das Gute über die Schönheit in einen Trieb verwandelt, dann begehren wir das Ausleben dieses Triebes genauso wie die Erfahrung unserer Lüste, Launen und Irrationalitäten.

Schiller kritisiert allerdings nicht nur Kant, sondern die gesamte Aufklärungsepoche. Kants kategorischer Imperativ ist für ihn nur der radikalste Ausdruck dessen, was in dieser Epoche schief läuft: Das Menschenbild ist zu einseitig auf den Verstand konzentriert und weil der Mensch eben nicht nur rational, sondern auch irrational ist, zwingt man ihn dazu, sich zu verbiegen und das Irrationale zu unterdrücken und sich ein Korsett nach den Regeln der Vernunft anzulegen. Die negativen Auswirkungen dieses Drucks verdeutlicht Schiller an zwei Momenten: an der brutalen Durchführung der Französischen Revolution und dem Unglück des Einzelnen in der modernen Gesellschaft.

Dass die gute Idee dieser Revolution in den Terror der Jakobiner umschlug, ist für Schiller die zwangsläufige Entwicklung der einseitigen Vorstellung von Aufklärung. Bevor man die Idee der Freiheit in der Politik verwirklichen kann, so Schiller, muss es zunächst eine Einübung der Freiheit im Innenleben der Menschen geben. Nur wenn sie auch als persönliche Maxime internalisiert ist, kann sie sich auch im Äußeren verwirklichen. In der Französischen Revolution war jedoch das Gegenteil der Fall. Freiheit war – wie der kategorische Imperativ – eine bloße Kopfgeburt, die, ohne verinnerlicht zu sein, im äußeren Staatsgebilde postuliert wurde, weshalb das Volk nicht in der Lage war, danach zu handeln. Der Revolutionsterror ist für Schiller das Resultat des Verstandesterrors, der mit aller Gewalt eine gute Idee in der Allgemeinheit umsetzen möchte. Die Konsequenz der einseitigen Verstandesorientierung drückt sich jedoch nicht nur in historischen Großversuchen wie der Französischen Revolution aus – sondern auch im Alltag. Auch hier führt das Übermaß am rationalen Weltzugang zur Feststellung, dass der Mensch sich selbst fremd wird: Die einseitige Rationalität führt nicht nur zum Zwang in der Erziehung, sondern auch zu dem Druck, so oft wie nur möglich rational zu Denken und danach das gesamte Leben auszurichten. Die Vorherrschaft dieses Weltzugangs beschreibt Schiller vor allem am Denken in ökonomischen Zwecken. Diese sind zwar notwendig, um das Überleben zu sichern, werden jedoch zum Feind des Menschen, wenn sie ein bestimmtes Maß überschreiten und den dominanten oder gar ausschließlichen Modus des Weltzugangs darstellen. So kann man schließlich die Welt gar nicht mehr anders als unter wirtschaftlichen Kriterien wahrnehmen und möchte deshalb den Gewinn auch dann noch steigern, wenn man ihn gar nicht mehr benötigt und zu diesem Zweck schlussendlich das ökonomische Denken auf immer mehr Bereiche anwendet.

Bergson und Freud

Mit dieser großen Aufgabe für die Kunst, die bei Schiller ja die Politik ersetzen soll, wird die eingangs gestellte Frage, wie der unästhetische Mensch ästhetisch werden kann, umso wichtiger. Da dieser jedoch von einer den Sinnen feindlichen Umwelt dominiert wird, ist die Frage, wie er innerhalb dieser Ordnung ein ästhetisches Leben führen kann, nur schwer zu beantworten. Nietzsche beschreibt diesen Konflikt treffend. In seinen Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872) entwirft er einige fiktive Studenten, die mit einer philosophischen Lehrerfigur über den richtigen Bildungsweg streiten. Als dieser ihnen von der ganzheitlichen Lebensweise des griechischen Genius vorschwärmt und ihn als Vorbild empfiehlt, stellt einer von ihnen, der zwar von seinen Ausführungen fasziniert ist, sich gleichzeitig aber auch der Schwierigkeit des Übergangs zwischen Kunst und Leben bewusst ist, die Frage:

[…] wenn mich Jemand fragte, was ich am morgenden Tage thun wolle oder was ich überhaupt mir von jetzt ab zu thun vornähme, so würde ich gar nichts zu antworten wissen. Denn offenbar haben wir bis jetzt ganz anders gelebt, ganz anders uns gebildet, als es recht ist – aber was machen wir, um über die Kluft von heute zu morgen hinwegzukommen?5

Angesichts der „Kluft von heute zu morgen“ beklagt der Schüler seine Ratlosigkeit in Bezug auf eine ästhetische Lebensweise. Allerdings führt er für den rätselhaften Abstand zwischen Kunst und Leben die Metapher des Traums ein, die – das wird im Folgenden zentral sein – eine mögliche Hilfe zur Überbrückung der Kluft sein wird:

In der Unterredung mit ihnen geht es mir oft so, daß ich mich über mich selbst hinausgehoben fühle und mich an Ihrem Muthe, Ihren Hoffnungen, bis zum Selbstvergessen, erwärme. Dann kommt ein kühlerer Augenblick, irgend ein scharfer Wind der Wirklichkeit bringt mich zum Besinnen – und dann sehe ich nur die weit zwischen uns aufgerissene Kluft, über die Sie selbst mich, wie im Traume, wegtrugen. Was Sie Bildung nennen, das schlottert dann um mich herum oder lastet schwer auf meiner Brust, das ist ein Panzerhemd, durch das ich niedergedrückt werde, ein Schwert, das ich nicht schwingen kann.6

Das „wie im Traume“ deuten wir einmal als den Wunsch, dass die Versöhnung zwischen Kunst und Leben gelingen möge, dann aber auch als Ausdrucks des Zwangs, der hinter diesem Versuch der Versöhnung steckt. Wollte Schiller mit seinem Kunstprogramm nicht den pädagogischen Zwang aus der Welt schaffen und diesen durch ästhetische Zwanglosigkeit im Inneren ersetzen? Es zeigt sich nun, dass dieser Zwang nicht abgeschafft wurde, sondern nur an einer anderen Stelle wieder auftaucht. Bisher fand er zwischen den Ideen und deren Realisierung statt, jetzt zeigt er sich nach dem ästhetischen Ausweichmanöver, aufgrund dessen zunächst einmal nichts mehr zwanghaft umgesetzt werden muss, aber dieser Zwang dann doch wieder auftaucht, wenn die Resultate der entspannten ästhetischen Phase umgesetzt werden müssen. Es bedarf also nicht nur eines Theoretikers wie Schiller, der den Druck von den Ideen nimmt, sondern auch einer Anstrengung, den Druck von der Ästhetik zu nehmen. Diesen Versuch finden wir in Frankreich mit Henri Bergson.

Bergsons prozessphilosophische Vorstellung der „Dauer“7, die dieser häufig mit einem Traum vergleicht, zeigt, dass die Bildungsphilosophien Schillers und Nietzsches immer noch dem Geist des kategorischen Imperativs unterliegen, obwohl Schillers Ästhetische Briefe ausdrücklich gegen Kants Moralgesetzgebung gerichtet sind. In unserer Interpretation umgeht Schiller zwar den Zwang, dass der Mensch sich stets so verhalten solle, dass sein Verhalten zu einem allgemeinen Gesetz werden könne, indem er ihm die Möglichkeit zur ästhetischen Erziehung gibt, jedoch lebt dieser Zwang wieder auf, wenn es um die Umsetzung seines idealen Entwurfs geht und Schiller fordert, man müsse dem schönen Schein der Kunst folgen oder wenn Nietzsche mit einem Genievorbild zur Orientierung aufwartet. Bergsons Modell der „Dauer“ gewährt den Menschen dagegen die Möglichkeit, einen Innenraum aufzusuchen, in dem sie sich selbst nicht mehr überwinden müssen.

Das Konzept der Dauer Bergsons leistet natürlich nicht die Überwindung des Gegensatzes zwischen Kunst und Alltagsleben, jedoch kann sie dem Vergleich der Studenten in Nietzsches Vorträgen nachgehen, dass sich der Übergang zwischen Kunst und Leben in den Reden des Philosophen „wie im Traume“8 ereignet. Nietzsche geht dieser Traum-Metapher nicht weiter nach, jedoch kann sie mit Bergson aufgewertet werden – schließlich bezieht sich dieser immer wieder auf den Traum, wenn er die Dauer bildlich darstellen möchte:

Die bizarrsten Träume, wo zwei Bilder einander überdecken und gleichzeitig zwei verschiedene Personen zeigen, die aber nur als eine einzige vor uns stehen, können uns eine schwache Vorstellung von der gegenseitigen Durchdringung unserer Begriffe geben, wie wir sie im wachen Zustand haben. Die Einbildungskraft des Träumenden, die von der äußeren Welt isoliert ist, reproduziert in bloßen Bildern und parodiert auf ihre Weise die Arbeit, die in den tieferen Regionen des geistigen Lebens unablässig in der Form von Vorstellung vor sich geht.9

Bergson bringt die als Dauer verstandene Traumdimension als Gegenpol zu einem pragmatisch-alltäglichen und zweckgerichteten Denken ins Spiel. Mit der Suspendierung des Realitätsbezugs des Ästhetischen und der Konzentration auf die Innendimension des Erlebens, konnte ein Gebiet gefunden werden, auf dem die (formenden) Anforderungen des Lebens nicht mehr als Widersacher der (ästhetischen) Seele auftreten. Das Problem bei Bergson ist jedoch, wie man aus dieser tiefen Innenseite der menschlichen Existenz, die noch tiefer als die ästhetische ist, wieder an die Oberfläche und damit in das Leben kommt.

Diese Frage kann an Freud delegiert werden. Die bisherigen ästhetischen Räume boten dem Individuum mit Schönheit, Genie und Innerlichkeit eine besondere Dimension jenseits der Alltagswelt an, ohne jedoch miteinzubeziehen, wie das eben aus dieser Alltagswelt kommende Subjekt auf diese die erfahrene Schönheit und Ganzheit zu übertragen vermag. Um diesen gesuchten Übergang aufzeigen zu können, wenden wir uns Freud zu. Da sich Freud jedoch nicht so selbstverständlich in eine Untersuchung über Bildung einreiht, müssen zunächst die ästhetisch-bildenden Momente ausgearbeitet werden, die sich unserer Meinung nach in seiner Traumdeutung10 und der Konzeption der Psychoanalyse finden. Als das Ästhetische bei Freud könnten die im Schlaf erfahrenen Traumbilder verstanden werden, ebenso die besondere Gesprächssituation während der Analyse. Bisher war es das Problem des ästhetischen Zustands, dass sich das Individuum in ihm verloren hat. Die ästhetische Dimension Freuds erlaubt es jedoch, dass sich das Subjekt mit ihm identifizieren kann: Dem Patienten zeigen sich im Traum und in der Analyse ja keine monumentalen Formen der Sinnlichkeit, Schönheit und Vorbildlichkeit, sondern es begegnet ihm seine eigene Geschichte in Form von Traumbildern und einer von den Zwängen der Alltagssprache entlasteten Mitteilungsform im Gespräch mit dem Analytiker. Setzen wir diese sinnlichen Bilder und unkonventionelle Ausdrucksweise dem ästhetischen Raum der Bildungstheorie Schillers gleich, dann wird das Ästhetische in der Analyse zu einer persönlichen Erfahrung. Der Patient kann sich hier in die ästhetische Expansion seines Lebens hineinversetzen und steht ihr nicht mehr einsam gegenüber; es ist seine ‚Kunst‘ und es sind seine Geschichten, mit denen er sich nun auseinandersetzt. Gelangen Traumbilder und Pathogenese in ein therapeutisches Narrativ, das sich anschließend in einem Heilungsprozess positiv auf die Symptome des Patienten auswirkt, dann ist auch das Ästhetische mit dem Leben verbunden worden, weil es seine Ausgangsform nicht in einem äußeren Vorbild, sondern in der inneren Erfahrung des Individuums hat. In dieser ästhetischen Dimension verweilt der Patient nicht nur im ästhetischen Zustand, sondern dieser wirkt sich auch auf sein Leben aus, wenn sich die Beschwerden vermindern. In dieser Hinsicht versteht sich die Psychoanalyse, entgegen dem Modell des Genievorbilds, als eine Bildungserfahrung, die das Individuum anspricht und den ästhetischen Zustand des Traumes mit dem Leben verbindet. Der ästhetische Raum ist nun allerdings nicht mehr von den schönen Künsten geprägt, sondern wurde pathologisiert, da Freuds Theorie und analytische Praxis nur Zugang zu einer pathologisierten Ästhetik haben. Die ästhetische Zweckfreiheit versteht man dieser Interpretation zufolge am besten als einen Traum im Mußezustand des Schlafens, der durch seine Interpretation auf das Niveau eines Bildungserlebnisses gebracht wird, welches seine sanfte, individuelle und nicht-systematische Beförderung in das Leben durch den Heilungsprozess der Psychoanalyse erfährt.

Bourdieu und Rancière

Mit Bergson und Freud sind wir vom klassischen Weg abgewichen und haben einen Lösungsvorschlag skizziert, der zwar auch ästhetisch ist und bildet, aber nicht zum Kanon der ästhetischen Bildung gehört. Natürlich kann die skizzierte Reihe mit Bergson und Freud noch nicht enden, aber die Bildungstheorie entwirft seit dieser Zeit keine theoretischen Großentwürfe mehr, die begeistert mit neuer Zuversicht angestrebt werden könnten. Die Ideen und Vorbilder dieser Zeit sind Nietzsches Philosophen insofern ähnlich, als man sich ihnen mit Ehrfurcht annähern muss: Der George-Kreis entfaltet um 1900 zwar seine Wirkung11, er hilft uns gleichwohl nicht weiter, da er sich an privilegierte Studenten richtet, die bereits eifrig dabei sind, den ästhetischen Zustand zu erlangen. Der aus diesem Kreis als Georges Lieblingsschüler hervorgehende damalige Star-Germanist Friedrich Gundolf führt Simmels Projekt der einfühlenden Vorbild-Biographien weiter.12 Auch ruft der damals ähnlich anerkannte Altphilologe Werner Jaeger Mitte der 1920er Jahre den „Dritten Humanismus“ aus und beginnt in dieser Zeit eine dreibändige Kulturgeschichte Griechenlands zu verfassen, die dieser Bewegung zum Vorbild werden sollte.13 Es folgt die Vereinnahmung des Bildungsgedankens durch den Nationalsozialismus14, worauf sich spätestens in der Nachkriegszeit der Vortrag Max Webers über die Wissenschaft als Beruf als eine weitsichtige Mahnung vor zu viel Charisma und Vorbild kanonisiert.15 Die Bildungsidee hatte sich desavouiert, weil die Welt nicht besser wurde und in den 30er und 40er Jahren sogar noch viel schlechter, als Ende des 18. Jahrhunderts von Schiller kritisiert. Zwar konnte sich das Gymnasium humboldtscher Prägung in der Nachkriegszeit wieder etablieren, aber von nun an verstand es sich von selbst, dass Bildung, wie es Adorno formuliert, eigentlich immer nur „Halbbildung“16 sei.

Aber nicht nur ihre besonders vor dem Hintergrund der Nazizeit wahrgenommene Wirkungslosigkeit und Halbherzigkeit im alltäglichen Leben, sondern auch der vormals privilegierte Zugang zur Bildung stellte seine Wirkungsideen in Frage, weshalb sie seit Anfang der 1970er Jahre so weit wie möglich auf alle Bevölkerungsschichten ausgedehnt wurde und sich dementsprechend auch die Universitäten öffneten.17 Diese Ermöglichung von ‚Chancengleichheit‘ war auch dringend notwendig, jedoch wurde in diesem Zusammenhang jeglicher Bildungsansatz, der sich zu stark an Schiller orientierte, als zu elitär kritisiert, was zur Folge hatte, dass niemand mehr daran interessiert war, die Ästhetischen Briefe weiterzudenken. Weil die meisten Gebildeten nicht erst durch Bildung reüssierten, sondern bereits davor – und streng genommen auch ohne sie – eine viel versprechende Zukunft hatten, ging Bourdieu mit seiner Kritik an der ästhetischen Bildung schließlich so weit, dass er nicht nur eine Bildung für alle fordert, sondern Bildung selbst in Frage stellte. Bildung sichert für ihn auch unter den demokratischen Bedingungen der Chancengleichheit die vorherrschende Stellung der Oberschicht ab. Denn wenn alle Menschen danach streben, die Werte, Ziele und Realitäten der Herrschenden zu übernehmen, es aber nur halb so gut können, weil ihnen die Voraussetzungen dazu fehlen, dann ist deren Stellung an der Spitze der Gesellschaft nicht besonders gefährdet.18

Der letzte Teil dieses Artikels beschäftigt sich daher in den beiden folgenden Kapiteln über Bourdieu und Rancière nicht mehr hauptsächlich mit der Frage nach dem ästhetischen Übergang in das Leben, sondern mit zwei Zeitbildern einer Epoche, für die dieser Übergang fraglich wurde und die keine genialen Vorbilder mehr wollte. Ihre Kritik ist gewichtig, weshalb man nicht verfrüht ein von Bergson und Freud inspiriertes Gegenmodell aus dem beginnenden 20. Jahrhundert ins Spiel bringen sollte, ohne es daran zu messen.

Bourdieu entwickelt seine Kritik am Zweckfreien in Die feinen Unterschiede (1979)* und verbindet dies mit dem im Untertitel verankerten Anspruch, eine anti-zweckfreie, und das bedeutet für ihn vornehmlich, eine anti-kantianische Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft zu schreiben, da die Idee, dass es ein zweckfreies Verhältnis zur Kunst gibt, in seiner systematischen Ausarbeitung auf Kant zurückgeht. In der Kritik der Urteilskraft* definiert Kant dieses Begehren als ein „Wohlgefallen […] ohne alles Interesse“,19 welches von allem abgekoppelt ist, das in einem auf Alltagstätigkeiten hin orientierten Weltzugang ganz selbstverständlich zum Umgang mit Objekten gehört. Bourdieus Ansatz stellt das Konzept einer autonomen Kunst und ihrer interesselose Sphäre radikal in Frage. Sein Einwand lautet: Es gibt keine interesselose Kunst, stattdessen aber ein Interesse an der Konstruktion dieser Interesselosigkeit, welche für die Privilegierten, die sich in dem scheinbar zweckfreien Habitusfeld aufhalten, zu einem Vorteil werden, da ihre von der Kunst und Kultur geprägten Lebensweise von Autodidakten nur schwer nachgeahmt werden kann. Ein Beispiel hierfür sind spielerische Täugungskompetenzen, die man nur anwenden kann, wenn man mit dem jeweiligen Habitus vertraut ist:

Ganz im Gegensatz zu ausgeprägten Schulsituationen, die aus sich heraus Bluffstrategien entmutigen oder unterbinden, wird in den ‚besseren Kreisen‘ jener Kunst, mit der Kompetenz zu spielen, freie Hand gelassen. Tatsächlich verhält sich diese Kunst zur Kompetenz, wie beim Kartenspiel die Spielweise zur Kartenverteilung: man kann sein Terrain auswählen, sich geschickt davor drücken, Farbe zu bekennen, Fragen nach Kenntnissen als Fragen nach Vorlieben aufgreifen und Unkenntnis als bewusste Missachtung tarnen. […] Was bedeutet, daß fehlendes in die Tiefe gehendes, methodisches und systematisches Wissen in einem besonderen Bereich der legitimen Kultur nicht im geringsten ausschließt, daß man den in den meisten sozialen Situationen […] eingebauten Bildungsanforderungen Genüge leistet.20

Dieser Absatz wurde deshalb so ausführlich zitiert, weil sich hier verdeutlicht, dass sich Die feinen Unterschiedene und das Habituskonzept nicht, wie von Bourdieu behauptet, auf zweckfreie Bildung beziehen, sondern auf deren Verfallsformen, die Adorno mit dem Begriff „Halbbildung“21 zusammengefasst hat. Im Stadium der Halbbildung, hier hat Bourdieu recht, ist die zweckfreie und lebendige Bildung nicht mehr selbstverständlich. Der sich bildende Mensch strebt hier nicht zur Freiheit, sondern benutzt die Bildungsgüter, um sich beruflich zu qualifizieren oder sich unter seinen Mitmenschen als „Bildungsbürger“ zu profilieren. Jedoch widerspricht die von Bourdieu betonte mangelnde Tiefe der Bildungsidee genauso wie die habituseigene Fähigkeit, diese Tiefe durch Bluffstrategien vortäuschen zu können. Aber auch die Lebenssicherheit der im Habitus lebenden Oberschicht und die unbewusste und unreflektierte Übernahme des eigenen Selbstverständnisses aus der Familientradition oder Schule und Universität stehen im Gegensatz zur Bildung, da die Protagonisten der Bildungstheorien und Bildungsromane stets Außenseiter sind. Schillers Künstler und der Kunstsuchende werden zum Außenseitertum und zur Selbsterkenntnis ermahnt – daran entscheidet sich für Schiller, ob sie sich ästhetisch bilden und zum Vorbild heranwachsen. Und auch Freud wollte nichts von Gepflogenheiten wissen, die – gewissermaßen unbewusst – aus dem Elternhaus und der Sozialisation entstammen und unreflektiert lebenslang weitergeführt werden. Der Bruch mit der Tradition durch Freud markiert ja gerade die Aufgabe der falschen Einheit zwischen unbewusstem Erlernen in Familie und Schule, der durch sie mitproduzierte Habitus kann in einem freudschen Sinne nur als Brutstätte von Neurosen aufgefasst werden. Das Habituszentrum der Pariser Oberschicht ist insofern die entfremdete Kultur, aus der Schiller in den Ästhetischen Briefen mit seiner auf Rousseau zurückgehenden Kulturkritik entfliehen möchte.

Bourdieu schreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe der Feinen Unterschiede: „Ich habe allen Grund zur Befürchtung, dass dieses Buch dem deutschen Leser als ‚sehr französisch‘ erscheinen wird“22, weil es sich auf ein Land bzw. eine Stadt bezieht, die im Gegensatz zu Deutschland, auf eine ungebrochene Tradition zurückgeht. Also, auf die verschiedene „Epochen und politische Regimewechsel überdauernde und immer noch wirksame Existenz des aristokratischen Modells der ‚höfischen Gesellschaft‘, inkarniert in einer Pariser Großbourgeoisie“23. Diese Befürchtung bestätigt sich, weil Bourdieus Protagonisten sich nur innerhalb der Pariser Gesellschaft bewegen und es demzufolge dort ausschließlich mit bekannten Größen zu tun haben. Eine spezifische Kindheit und Jugend bereitet sie auf ein klassisches Erwachsenenleben vor, dessen zukünftige Rolle in den gesellschaftliche Strukturen bereits im Vorfeld in ihren groben Zügen feststehen. Bourdieu diskutiert niemals von außen kommende unbekannte Größen. Das wiederholt sich auch im französischen Gesellschafts- und Bildungsroman, der mit seinen Insidern aus gutem Hause ebenfalls in der „höfischen“ Pariser Gesellschaft spielt.24 Den Außenseitern dieser Erzählungen begegnet zwar allerhand Unbekanntes – vor allem wenn sie sich von der Provinz aus nach Paris aufmachen – jedoch steht die Gesellschaft, in der sie Erfolg haben oder scheitern, als das Ziel all ihrer Bemühungen immer schon fest: Es ist die Großbourgeoisie, wie sie von einem allwissenden, dem Leser das Unbekannte erklärenden Erzähler geschildert wird. Von einer Bildungsreise, also dem Raum zwischen der Provinz und Paris, wo das Unbekannte lauern würde, ist dort nie die Rede. Die Protagonisten deutschsprachiger Bildungsromane sehen wir dagegen meist nur auf der Bildungsreise bzw. bei der Bewältigung eines Bildungsprozesses, auf dem es vor lauter unbekannten Größen nur so wimmelt. Sie sind die Ausbrecher aus familiärer, höfischer oder schulischer Tradition. Ihr Held ist Wilhelm Meister und nicht sein in der Gesellschaft reüssierender Freund Werner. Die Protagonisten dieser Bildungsromane spielen mit und überlassen sich dem Unbekannten, das zwischen den zahlreichen kleinen Städten liegt, und besitzen deshalb die Möglichkeit, ihre eigenen Grenzen überwinden zu können. Der Pariser Habitus dagegen versteht sich als absolute Größe, welcher mit seinem Zentralismus ganz Frankreich durchmustert. Und schließlich rechnet auch Bourdieu selbst zu den Außenseitern und verfügt mit seiner Kritik über einen Blick von den Rändern, der es ihm erlaubt, sein Umfeld aus einem anderen Blickfeld wahrzunehmen.

Rehabilitiert sich für uns die Zweckfreiheit durch die notwendige Außenseiterperspektive Bourdieus, so können wir bei Rancière ein Plädoyer für das Zweckfreie entdecken, dass sich nicht gewissermaßen unbeabsichtigt wie bei Bourdieu einstellt, sondern von Rancière selbst zum Mittelpunkt seiner ästhetischen Bildungstheorie erklärt wird.25 Indem wir beide Denker miteinander in Bezug zueinander setzen, zeigt sich, wie auch bei Rancière die vermeintlich ideologische Ästhetik durch eine simple Wahrnehmungsverschiebung zu einem befreienden Mittel werden kann.26

Rancière findet dagegen einen Weg, den Gegensatz zwischen Kunst und Politik zu überwinden, indem er sie nicht mehr in dieser eingespielten Verschiedenheit wahrnimmt. Für ihn gibt es diesen Gegensatz nur, wenn angenommen wird, dass die Politik vor der Kunst kommt, was immer bedeutet, dass eine korrumpierte Politik durch eine nicht-kompromittierte Kunst verbessert werden soll. Der letzte Fall ist dabei stets von der Schwierigkeit gezeichnet, wie sich das Unsittliche mit dem Guten verbinden kann bzw. im Falle Bourdieus gar das Argument vorgebracht wird, dass die Kunst gar nicht das Gute repräsentiert und demzufolge auch nicht die korrumpierte Politik zum Positiven zu verändern vermag. Rancières Ausweg aus diesem Dilemma ist, nicht mehr davon auszugehen, dass sich die Politik vor dem Ästhetischen ereignet, sondern umgekehrt, dass das Ästhetische die Politik hervorbringt, also das Ästhetische der Politik sozusagen a priori vorgeschaltet ist. Dies hat den Vorteil, dass das Ästhetische jetzt nicht mehr mit seiner Ohnmacht die Politik herauszufordern versucht, sondern dessen Produzent ist und deshalb eine Veränderung der Ästhetik auch die Politik verändert. Diese Fundierung der Politik auf der Ästhetik zeigt den Weg von der Kunstautonomie zum autonomen Subjekt.

Wie gelangt Rancière zu dieser Behauptung? Die Politik konstituiert sich für ihn primär im Ästhetischen durch eine „Aufteilung des Sinnlichen“27, indem die sich jeweils konstituierende Gemeinschaft festlegt, was sichtbar wird und was unsichtbar bleibt, was als sagbar aufgenommen wird und was unsagbar bleiben muss, was gedacht und gefühlt werden darf und was mit einem Tabu belegt wird. Wer diesen ästhetischen Verteilungsprozess dominiert, verfügt anschließend über politische Repräsentation. Politische Partizipation formiert sich deshalb über den ästhetischen Weg der Aufteilung der Sinnlichkeit. Als Beispiel dienen Rancière die Bürger der griechischen Verfassung, denen Aristoteles Teilhabe an der Politik zuspricht, jedoch davon Sklaven ausschließt, weil sie nicht über die Sprache verfügen, die zur Aufnahme in die politische Gemeinschaft notwendig wäre. Mit diesen beiden Beispielen verdeutlicht Rancière, dass der sinnliche – der sprachliche oder räumliche – Weltzugang den Gemeinsinn konstituiert, dieser jedoch niemals so umfassend ist, dass er alle potenziell in Frage kommenden Menschen einschließen würde. In diesem Sinne versteht Rancière auch Schillers Ästhetische Briefe – und besonders dessen Beschreibung der Büste der Juno Ludovisi28 –, die er als eine Neuverhandlung des sinnlichen Zugangs versteht, der den Ausgeschlossenen miteinschließt oder, in den Worten Rancières, die den „Anteil der Anteilslosen“29 einklagt.

Wir sehen hier, dass in Rancières politischem Neuordnungsansatz dem Sinnlichen eine ähnlich zentrale Rolle zufällt wie Schillers ästhetischem Bildungsprojekt. Genauso wie letzterer die ästhetische Revolution vor eine politische Revolution stellt, so postuliert Rancière ebenfalls eine Neuordnung des Sinnlichen, da für ihn nur diese zur Grundlage politischer Veränderungen werden kann. Da das Resultat für ihn jedoch nicht mehr die restlose Einheit im Schönen ist, sondern die permanente Neuverhandlung über die Ordnung des Sinnlichen, wird aus dem harmonischen Spiel Schillers ein Streit, in dem die Anteilslosen ihren Anteil einklagen, wodurch schließlich jede fixierte sinnliche Ordnung aufgelöst wird, damit der Streit zwischen den Anteilslosen und Anteilsbesitzern zur konstitutiven Dauereinrichtung der Gemeinschaft wird.


  1. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, hrsg. von Klaus L. Berghahn (Stuttgart: Reclam, 2006), 22–23.

  2. Für eine längere Ausführung der „ästhetischen Einsamkeit“ siehe meine Dissertation: Manuel Clemens, Das Labyrinth der ästhetischen Einsamkeit: Eine kleine Theorie der Bildung, (Bielefeld: Aisthesis, im Erscheinen, zugl. Dissertation, Yale Univ.).

  3. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. von Horst Brandt und Heiner Klemme (Hamburg: Meiner, 2003), AA 54.

  4. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 107.

  5. Friedrich Nietzsche, Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, Kritische Studienausgabe I, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, (München: dtv, 1988), 721.

  6. Nietzsche, Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, 721.

  7. Die „Dauer“ steht bei Bergson für eine innere Erlebensdimension. Im Gegensatz zum überrationalisierten äußeren Erleben, das die Welt und das zeitliche Erleben kategorisiert und wissenschaftlich vermisst, erlebt diese innere Dimension tiefer, weil sie ‚andauert‘, d.h. Erfahrungen nicht abbrechen oder in Kategorien unterteilen muss, um sie analysieren zu können. In der Dauer werden diese Aufteilungen wieder aufgehoben. Im diesem Erlebniskontinuum ist die reine, nicht mit Unterbrechungen in Berührung gekommene Zeit als Dauer – oder genau genommen als – „reine Dauer […] nur eine Sukzession qualitativer Veränderungen, die miteinander verschmelzen, sich durchdringen [und] keine präzisen Umrisse besitzen“. Vgl.: Henri Bergson, Zeit und Freiheit (Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1999), 85. Die Dauer steht also für ein intuitives Verständnis der inneren Zeit und ist der Träger und die Kraft von kreativen Veränderungen. Im äußeren Raum ist die Erlebnisfähigkeit durch die homogenisierte Zeit standardisiert und unfrei und kann mit ihrer Fortbewegungskraft weniger oder nichts mehr ausrichten, da sie sich nur zwischen bereits bekannten und fixierten Darstellungen bewegt. Die Kreativität der inneren zeitlichen Dauer wird dadurch ausgeschaltet. Damit ist jede Veräußerung ein Verlustgeschäft, da wir aus der „Bewegung gewissermaßen die Beweglichkeit herausziehen“ (Bergson, Zeit und Freiheit, 97), indem zuerst die inneren Vorstellungen abstrakt werden und sich anschließend nur nach bereits im Voraus vorgefassten Richtungen bewegen.

  8. Nietzsche, Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, 722.

  9. Bergson, Zeit und Freiheit, 103. Im Original: „Les rêves les plus bizarres, où deux images se recouvrent et nous présentent tout à la fois deux personnes différentes, qui n’en feraient pourtant qu’une, donneront une faible idée de l’interpénétration de nos concepts à l’état de veille. L’imagination du rêveur, isolée du monde externe, reproduit sur de simples images et parodie à sa manière le travail qui se poursuit sans cesse, sur des idées, dans les régions plus profondes de la vie intellectuelle.“ Henri Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience (1888) (Paris: P.U.F., 1441970).

  10. Sigmund Freud, Traumdeutung, Studienausgabe 2, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey (Frankfurt am Main: Fischer, 1969).

  11. Zum George-Kreis vgl.: Carola Groppe, Die Macht der Bildung: Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933 (Köln: Böhlau, 1997), sowie: Thomas Karlauf, Stefan George: Die Entdeckung des Charisma (München: Blessing, 2008).

  12. Friedrich Gundolf, Goethe (Berlin: Bondi, 1925); sowie ders., Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte: 26 Arbeiten aus den Jahren 1900–1931 (Heidelberg: Schneider, 1980).

  13. Vgl.: Werner Jaeger, Paideia: Die Formung des griechischen Menschen (Berlin/New York: De Gruyter, 1989); sowie ders., Humanistische Reden und Vorträge, 2., erw. Aufl. (Berlin: De Gruyter, 1960). Jaeger arbeitete in dieser griechischen Kulturgeschichte von Hesiod bis zum späten Platon in jedem einzelnen Werk heraus, dass sich der griechische Mensch nicht mit banalen und pragmatischen Alltagserscheinungen zufrieden gab, sondern immer zu einem außeralltäglichen Ideal bzw. einer Idee aufblickte, die er anstrebte. Dieser Grundzug so seine Hoffnung, sollte einer allzu zweckorientierten Zeit wieder zum Vorbild werden. Zur Vertiefung dieses Projekts empfiehlt sich: Barbara Stiewe, Der ‚Dritte Humanismus‘: Aspekte deutscher Griechenrezeption vom George-Kreis bis zum Nationalsozialismus (Berlin: de Gruyter, 2011).

  14. Ein kurzer Abriss dieser Zeit findet sich bei Bollenbeck, Bildung und Kultur: Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994), 289–304. Für eine detaillierter Untersuchung siehe: Esther Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik: Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945 (Berlin: Akademie-Verlag, 2004), 295–365; Beat Näf, Von Perikles zu Hitler? Die athenische Demokratie und die deutsche Althistorie bis 1945 (Bern: Lang, 1986).

  15. Vgl.: Richard Pohle: Max Weber und die Krise der Wissenschaft: Eine Debatte in Weimar (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009). Für einen kurzen Blick auf diesen Zeitraum empfiehlt sich wieder Bollenbeck, Bildung und Kultur, 305–312.

  16. Adorno, Theodor W., Theorie der Halbbildung, Gesammelte Schriften 18, hrsg. von Rolf Tiedemann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972). Zur Halbbildung bei Adorno vgl.: Christiane Thompson, Bildung und die Grenzen der Erfahrung: Rundgänge der Bildungsphilosophie (Paderborn: Schöningh, 2009), 79–147.

  17. Ralf Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht: Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik (Hamburg: Nannen, 1965).

  18. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987). Mit dieser Untersuchung, die in Frankreich bereits 1976 erschien, wurde der Ansatz Bourdieus zum Vorbild für zahlreiche genealogische oder dekonstruktive Folgestudien, die sich ihm (oder Foucault) zuordnen lassen: Alfred Schäfer, Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion (Weinheim: Dt. Studien-Verlag, 1996); Norbert Ricken und Markus Rieger-Ladich (Hrsg.), Michel Foucault: Pädagogische Lektüren (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004); Gary Peters, Irony and Singularity: Aesthetic Education from Kant to Levinas (Hants: Ashagte Publishing, 2005); Norbert Ricken Die Ordnung der Bildung: Beiträge zu einer Genealogie der Bildung (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2006).

  19. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. Heiner Klemme (Hamburg: Meiner, 2000), A 211.

  20. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 156.

  21. Theodor W. Adorno, Theorie der Halbbildung, Gesammelte Schriften 18, hrsg. von Rolf Tiedemann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972), 102.

  22. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 11.

  23. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 11.

  24. Zu den Unterschieden im deutschen und französischen Bildungsroman vgl.: Peter Brooks, „Balzac: Epistemophilia and the Collapse of the Restoration“, Yale French Studies 101, „Fragments of Revolution“ (2001): 121. Brooks betont hier die stark nach außen gerichtete soziale Orientierung der Charaktere Balzacs bei ihren Aufstiegen und Untergängen in der Pariser Gesellschaft: Balzacs „ambitious young men may not be brooding intellectuals, but they are theorists of their destinies, and quickly come to understand that the realization of vouloir/pouvoir depends on a certain social savoir.“ Diese Beobachtung lässt sich auch über auf Stendals Rot und Schwarz übertragen. Vgl. dazu: Franco Moretti, The Way of the World: The Bildungsroman in European Culture (New York: Verso, 2000), 75–129. Die Geschichte der Deutschen auf der Suche nach einer tiefen Innerlichkeit lässt sich am besten bei Bruford nachlesen: Walter Horace Bruford, The German Tradition of Self-Cultivation: Bildung from Humboldt to Thomas Mann (London, New York: Cambridge University Press, 1975). Einen Vergleich des deutschen mit dem französischen Bildungsbegriff leistet der Sammelband: Bildung in Frankreich und Deutschland: Ideale und Politiken im Vergleich / L’éducation en France et en Allemagne: les Idées et les politiques en comparaison, hrsg. von Martin Gessmann und Felix Heidenreich (Münster: LIT-Verlag, 2006).

  25. Zur Rehabilitation der ästhetischen Erziehung durch Rancière siehe auch die Einleitung und das Rancière-Kapitel von Nora Sternfeld, Das pädagogische Unverhältnis: Lehren und lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault (Wien: Turia + Kant, 2009), 7–53.

  26. Zum schwierigen Verhältnis zwischen Rancière und Bourdieu vgl.: Jens Kastner, Der Streit um den ästhetischen Blick: Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière (Wien: Turia + Kant, 2012). Kastner beschreibt sehr anschaulich, wie Bourdieu, im Urteil Rancières, nur eine Entmystifizierung des Ästhetischen betreibt, ohne ihre immer noch gewaltige Bedeutung für politische Emanzipation zu berücksichtigen.

  27. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen: Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien (Berlin: b-books 2006), 25–27 und 77–86.

  28. Vgl.: Jacques Rancière, „Was bringt die Klassik auf die Bühne?“, in: Spieltrieb: Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute, hrsg. von Felix Ensslin (Berlin: Theater der Zeit, 2006).

  29. Jacques Rancière, Das Unvernehmen: Politik und Philosophie (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002), 27.





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