Tagungsbericht „Mittelalterliche Stadtsprachen“

Jahrestagung des Forums Mittelalter, Regensburg, 12.–14.11.20151

Susanne Ehrich

Die Großstadt gilt heute als ein Schlüsselort für die Herausbildung von neuen sprachlichen Praktiken und Mehrsprachigkeit. Allerdings sind Sprachvariation und das Neben- und Miteinander verschiedener (Schrift-)Sprachen nicht nur Phänomene des Globalisierungszeitalters. Bereits im Mittelalter spielte die Ausdifferenzierung der Schriftkultur und die Entwicklung einer mehrsprachigen Schriftlichkeit eine wichtige Rolle im Prozess der europäischen Urbanisierung. Mit dem Thema „Mittelalterliche Stadtsprachen“ griff die Jahrestagung des Forums Mittelalter vom 12. bis 14. November 2015 also nicht nur einen hochaktuellen, sondern auch einen für die Mediävistik zentralen Themenbereich auf. Neu war dabei die Zielsetzung, die historische Stadtsprachenforschung sowohl grenz- als auch disziplinenübergreifend zu profilieren und dafür die romanistischen, germanistischen und slavistischen Sprachwissenschaften sowie die Stadtgeschichtsforschung ins Gespräch zu bringen. Die Tagung wurde vom Lehrstuhl für Romanische Sprachwissenschaft der Universität Regensburg (Prof. Dr. Maria Selig) in Kooperation mit dem Regensburger Themenverbund „Urbane Zentren und europäische Kultur in der Vormoderne“ veranstaltet und von der Regensburger Universitätsstiftung Hans Vielberth und der Fritz Thyssen Stiftung gefördert.

Im Vorfeld der Tagung fand ein Doktorandenworkshop zur Städte- und Stadtsprachenforschung statt, in dem Dissertationsprojekte aus den Sprach- und Geschichtswissenschaften diskutiert wurden. Während Kathrin Kraller (Regensburg) ein Dissertationsprojekt zur volkssprachlichen Urkundenschriftlichkeit der communes notarii aus Moissac vorstellte, skizzierte Christina Waldvogel (Leipzig) ihr sprachanalytisches Vorgehen bei der Untersuchung von vier Bautzener Gerichtsbüchern aus den Jahren 1359 bis 1509. Thomas Brunner (Straßburg) konnte bereits die Ergebnisse einer Analyse des Sprachgebrauchs im Rahmen der „révolution de l’écrit“ im französischen Douai des 13. Jahrhunderts erläutern. Die Nachwuchswissenschaftler profitierten in dem Workshop von der Expertise einzelner Tagungsreferenten und waren anschließend als Diskutanten auf der Tagung anwesend. Eröffnet wurde die Jahrestagung mit einem Vortrag von Claudine Moulin (Trier) zum Thema „Sprachen in der Stadt – Städtisches Schreiben: Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Kontenbücher als sprach- und kulturhistorische Quelle“. Die Germanistin beschrieb die Stadt der Vormoderne als eine von Mehrsprachigkeit und zunehmender Verschriftlichung geprägte Gesellschaft: Im Dienste eines effektiveren Verwaltungshandelns wurden besonders ab dem 14. Jahrhundert die Bereiche der pragmatischen und institutionellen Schriftlichkeit (literacy), aber auch der Rechenfähigkeit (numeracy) ausgebaut. Beispielhaft für die wissenschaftliche Rekonstruktion dieses Prozesses stellte Moulin ein von Historikern und Linguisten gemeinsam betreutes Forschungsprojekt zu den spätmittelalterlichen Luxemburger Kontenbüchern (1388 bis 1500) vor. Die im Rahmen des Projekts erfolgte Edition des deutschsprachigen Quellenkorpus ermögliche verschiedene disziplinäre Zugänge, wie eine Auswertung nach systemlinguistischen, textpragmatischen oder lexikalischen Gesichtspunkten. Für die Stadtgeschichte seien die Kontenbücher der an der Grenze von Germania und Romania gelegenen Stadt als topographisches Instrument zur Erfassung von Anwesen oder für prosopographische Studien nutzbar.

Die erste Sektion mit dem Titel „Mehrsprachige Städte – zu einem neuen Forschungsparadigma“ leitete Arend Mihm (Köln) mit einem Vortrag zur Mehrsprachigkeit im mittelalterlichen Köln ein. Da das Wachstum der Städte maßgeblich auf Zuwanderung beruhte, bildeten sich in Großstädten wie Köln seit dem 11. Jahrhundert Quartiere mit verschiedenen fremdsprachigen Domänen heraus. Bei den Kölner Kaufleuten setzte der Handel mit auswärtigen Regionen zudem entsprechende Fremdsprachenkenntnisse voraus. Anhand von Grundbucheintragungen in den sog. Kölner Schreinskarten zeigte Mihm die Verwendung verschiedener Sprachen, wie des Lateinischen als lingua franca, der Stadtsprache Ripuarisch und des von Kaufleuten verwendeten Französischen. Bei den unterschiedlichen bürgerschaftlichen Gruppierungen bildete sich auf der Basis dieser Kontakte ein differenziertes Spektrum innerstädtischer Varietäten aus, von denen sich im ausgehenden 15. Jahrhundert das Oberländische allmählich als Prestige- und Distanzsprache durchsetzte.

Arne Ziegler (Graz) widmete sich unter dem Thema „Sprachenwechsel in der mittelalterlichen Stadt“ anschließend dem sprachlichen Phänomen des Code-Switching innerhalb mehrsprachiger städtischer Kontexte. Der Germanist fokussierte dabei die Mikroebene des Einzeltextes und ging der Frage nach, inwieweit Ansätze moderner interaktionaler Soziolinguistik in der historischen Soziolinguistik fruchtbar werden können. So werde funktionales Code-Switching aus dem Lateinischen in die Volkssprache etwa in mittelalterlichen Arzneibüchern als konkrete kommunikative Strategie eingesetzt, um wissenschaftliche von didaktischen Passagen zu unterscheiden. Ein ähnlicher, zielgruppenorientierter Sprachenwechsel zeige sich auch in anderen Textsorten, wie den Predigten des 15. Jahrhunderts.

Das mittelalterliche Venedig, speziell das sprachliche Milieu der toskanischen und nicht-toskanischen Händler, war Thema des folgenden Beitrags von Lorenzo Tomasin (Lausanne). Während die schriftliche Kommunikationssprache der Händler in anderen Städten, wie etwa Mailand, eine deutliche Tendenz zur Toskanisierung zeigte, habe in Venedig umgekehrt die venezianische Stadtsprache die Skripta der toskanischen Händler beeinflusst. Tomasin wies dies überzeugend an der Korrespondenz des Händlers Pignol Zucchello aus der Mitte des 14. Jahrhunderts nach. Zusammenfassend schlug der Italianist eine Taxonomie vor, um lexikalische und morphosyntaktische Merkmale zu erfassen, die den Einfluss des venezianischen Volgare auf die geschriebene Sprache der nicht-venezianischen Händler in Venedig spiegeln.

Der Beitrag von Margriet Hoogvliet (Groningen) präsentierte zum Abschluss der Sektion erste Ergebnisse eines Forschungsprojekts an der Universität Groningen unter dem Titel „Cities of Readers: Religious Literacies in the Long Fifteenth Century“. Auf Grundlage eines umfangreichen Quellenkorpus religiöser Literatur, wie etwa den Stundenbüchern, untersucht das Projekt eine mehrsprachige städtische Lesekultur in den sprachlichen Kontaktzonen Nordfrankreichs und den südlichen Niederlanden. Trotz der klaren romanisch-germanischen Sprachgrenze und trotz territorial-politischer Grenzen war dieses Gebiet in der Zeit von 1400 bis 1550 durch einen regen kulturellen Austausch zwischen den städtischen Zentren gekennzeichnet. Multilingualität gehörte zum Alltag mittelalterlicher Textproduktion. Hoogvliet machte wahrscheinlich, dass das Städtenetz zwischen Paris und Antwerpen über sogenannte „open access“-Bücher und -Bibliotheken für religiös interessierte, mehrsprachige Laien verfügte, wenn deren eigene Mittel oder Bildungsstand keinen Zugang zu schriftlich vermitteltem religiösen Wissen erlaubte. Diese vorwiegend volkssprachliche Lesekultur konnte sich über Sprach- und Territorialgrenzen hinweg verbreiten und habe durch die diskursive Bearbeitung in städtischen und häuslichen Lesegemeinschaften das Potential besessen, kulturelle, politische und konfessionelle Unterschiede zu überbrücken.

Die zweite Sektion bezog unter dem Rahmenthema „Recht und Schrift in den Städten der mittelalterlichen Romania“ auch geschichtswissenschaftliche Beiträge ein. Im ersten Vortrag der Sektion beschäftigte sich die Historikerin Petra Schulte (Trier) mit der Rolle von Notaren in den Stadtkommunen des mittelalterlichen Italien. Schulte bezeichnete die italienischen Notare als „Sprachmittler“, da sie die verantwortungsvolle Aufgabe hatten, mündlich im Volgare verhandelte Rechtsgeschäfte, Verwaltungs- oder Gerichtsakte in lateinischer Sprache zu dokumentieren und damit in eine formalisierte juristische Schriftsprache zu übertragen. Um eine Kontrolle zu ermöglichen, musste das schriftlich Fixierte im Anschluss vorgelesen und damit ins Volgare zurückübersetzt werden. Der Vortrag suchte nach Spuren dieses doppelten Übersetzungsprozesses in der städtischen Gesetzgebung, den Traktaten zur Notariatskunst und in der Rechtswissenschaft. Er konturierte den Notar dabei als städtischen Amtsträger, dessen Autorität und Vertrauensstatus kontinuierlich durch formale Kontrollmechanismen gesichert werden musste und schließlich in einer kleinteiligen Registrationspraxis der Kommunen aufging.

Der Romanist Paul Videsott (Bozen) lenkte den Blick anschließend auf die Urkundensprache der Pariser Kanzleien, die sowohl in der Königskanzlei als auch in der Prévôté de Paris ab dem ausgehenden 13. Jahrhundert zum Altfranzösischen überging. In seinem Vortrag ging er der Frage nach, ob und in welchen Bereichen sich die Skriptae beider Kanzleien sprachlich voneinander unterschieden. Die Auswertung von mehr als 250 Kriterien zeige zunächst einen breiten Grundkonsens in der Sprachverwendung beider Einrichtungen. Überraschenderweise erweise sich die Prévôté aber bereits vor der Königskanzlei als Motor einer verstärkten überregionalen Ausrichtung und Standardisierung, was Videsott unter anderem am Abbau der Zwei-Kasus-Rektion festmachte.

Einem oft unterbelichteten Bereich, dem der arabophonen Schriftkultur im christlichen Spanien des Mittelalters, wandte sich der Historiker Christian Saßenscheidt (Erlangen-Nürnberg) in seinem Vortrag zu Toledaner Notaren zu. Auch nach der kastilischen Eroberung von Toledo im Jahr 1085 bestand dort die mozarabische Tradition einer christlich-arabischen Schriftlichkeit ungewöhnlich lange weiter. Der Vortrag exemplifizierte dieses Phänomen anhand der Notarsfamilie der Banū Wa’īd. Seit Beginn des 13. Jahrhunderts ließe sich zwar eine fortschreitende Romanisierung in deren Beurkundungspraxis feststellen, vor allem auch eine zunehmende Verwendung volkssprachlicher Namensbezeichnungen. Insgesamt zeige sich aber, dass die arabophone Rechtstradition bzw. eine lateinischsprachige Rechtstradition in arabischer Schrift von allen Einwohnern Toledos auch mehrere Generationen nach der christlichen Eroberung genutzt wurde, selbst wenn man für die Decodierung des geschlossenen Aktes wieder auf die Hilfe eines Arabisch-Kundigen angewiesen war.

Die letzte Tagungssektion beleuchtete anhand zweier Beiträge das Thema der mehrsprachigen Städte im mittelalterlichen östlichen Europa. Der Germanist Hermann Scheuringer (Regensburg) unternahm eine namenkundliche Beantwortung der Frage, inwieweit das sprachliche Zusammenleben in Städten des böhmischen, ungarischen und slawisch-romanischen Raums von Harmonie oder Konflikt geprägt gewesen sei. Dabei untersuchte er in drei Detailanalysen vor allem die Akzeptanz und den Status deutscher Städtenamen im heutigen Slowenien, Tschechien und Rumänien und erläuterte diese durch historische Sprachkontaktsituationen und wechselnde Herrschaftsverhältnisse. Während im heutigen Slowenien deutsche Städtenamen auf deutliche Ablehnung stießen, finde in Tschechien und Rumänien ein problemloserer zwei- oder mehrsprachiger Namensgebrauch statt. Die rege Diskussion des deutschen Städtenamengebrauchs im Plenum spiegelte die Emotionalität, mit der das Thema weiterhin diskutiert wird.

Katalin Szende (Budapest) ging abschließend ebenfalls dem Konfliktpotential nach, das sich in osteuropäischen Städten aufgrund von Mehrsprachigkeit auftat. Dabei fokussierte die Historikerin den Sprachgebrauch in den ethnisch, kulturell und sprachlich äußerst vielfältigen Städten des mittelalterlichen Ungarn. Während es bei der Sprachwahl auf den Gebieten der Religionsausübung (bei der Vergabe von Predigerstellen) und der städtischen Administration (etwa bei der Ratswahl) öfters Streitigkeiten gegeben habe, sei die Kommunikation in Handel und Gewerbe überwiegend konfliktfrei verlaufen. Insgesamt sei die Sprache im mittelalterlichen Ungarn weniger Ausdruck ethnischer Identität als vielmehr Mittel für Selbstdarstellung oder Machtausübung gewesen.

Die Analyse mehrsprachiger Kommunikationskontexte in mittelalterlichen Städten – dies kann als Fazit festgehalten werden – ist ein vielversprechender interdisziplinärer Forschungsbereich, der weiterhin durch die Zusammenarbeit von Linguistik und historischer Städteforschung profitieren kann. Dabei werden Historiker den Blick auf die städtischen Verwaltungs-, Rechts- und Herrschaftsstrukturen, also die Entwicklung der schriftkulturellen Institutionen schärfen, die Verschriftlichungsprozessen zugrunde liegen. Die Rolle der Sprachwissenschaften zeigt sich in der Bereitstellung von Modellen sprachlicher Heterogenität und standardisierender Überformung, welche die Geschichte der mittelalterlichen Verschriftlichung als einen von Mehrsprachigkeit geprägten Aushandlungsprozess beschreiben.


  1. Verfasst von Dr. Susanne Ehrich mit den Teilnehmern einer Praxisübung zur Tagung aus dem Wintersemester 2015/16.





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