Der gefesselte Wald: Gedichte aus Buchenwald. Bemerkungen zum Erscheinen der zweisprachigen Anthologie von Wulf Kirsten und Annette Seemann
Hartmut Duppel
Wulf Kirsten und Annette Seemann, Hrsg. und Übers., Der gefesselte Wald: Gedichte aus Buchenwald, Französisch-Deutsche Ausgabe, Mainzer Reihe N.F. 11 (Göttingen: Wallstein Verlag 2013).
Kurz nach seiner Haft im Konzentrationslager Buchenwald veröffentlichte der Franzose André Verdet 1946 die Anthologie des poèmes de Buchenwald1, eine Sammlung von 55 Gedichten, die Verdet und Mithäftlinge während der Zeit der Lagerhaft heimlich und in ständiger Lebensgefahr verfassten. Diese literarischen Zeugnisse können angesichts der unmenschlichen Haftbedingungen als Spiegel der Verzweiflung, der Angst, des Schmerzes, aber auch der Hoffnung und der Solidarität gelesen werden. – Sie liegen nun in einer ansprechend gestalteten deutsch-französischen Ausgabe in der „Mainzer Reihe“ im Wallstein-Verlag unter dem Titel Der gefesselte Wald. Gedichte aus Buchenwald vor. Nachdem die Anthologie 1995 anlässlich des 50.Jahrestages der Befreiung der NS-Konzentrationslager in den Éditions Tirésias (Paris) wiederaufgelegt wurde, haben sich Wulf Kirsten und Annette Seemann der Herausforderung gestellt, die Gedichte ins Deutsche zu übersetzen und sie durch ergänzende Ausführungen im historischen Kontext zu verorten.2 Das Resultat ist eine gelungene französisch-deutsche Ausgabe, die nicht nur sämtliche Teile der ursprünglichen französischen Fassung – Einleitung, Gedichtsammlung, Schluss – im Original und in Übersetzung liefert, sondern darüber hinaus weiterführende Informationen in einem Nachwort, in Kurzbiographien der Autoren sowie in einem Literaturverzeichnis gibt und somit eine vertiefte Auseinandersetzung mit den lyrischen Texten und deren historischen Entstehungsbedingungen ermöglicht.
„Dichten, um zu überleben“ (165) – unter dieses Motto stellt Wulf Kirsten im Nachwort seine Überlegungen zu den in Buchenwald verfassten Gedichten und betont damit bereits im Titel die Bedeutung, die Literatur und künstlerisches Schaffen im Allgemeinen3 in einem Umfeld des Unmenschlichen und Vernichtenden einnehmen. Die Autoren richten sich mit ihren Texten bewusst gegen die „Demoralisierung“ und nutzten den „[…] aktiv-kreative[n] Akt der Selbstsetzung und Selbstbehauptung […] als Zeichen revoltierenden Widerstands“. Immer wieder stellt Wulf Kirsten den Zusammenhang zwischen dem Schreiben im KZ und dem Konzept des Widerstands her. Treffend bezeichnet er die Anthologie literatursoziologisch als „document humain“ und weist sie als „[…] eines der ersten Zeugnisse geistigen Widerstands in Konzentrationslagern, inspiriert und getragen von intellektueller Résistance“ aus. In der Tat kann dieser „geistige Widerstand“ (167)4 als Bestandteil vielfältiger Widerstandshandlungen im Konzentrationslager angesehen werden – zu denken ist etwa an Sabotageakte in den Rüstungsbetrieben, in denen die KZ-Insassen arbeiten mussten. Den politisch motivierten Widerstand der französischen Häftlinge im KZ Buchenwald zeichnet Olivier Lalieu in seiner 2005 erschienen Studie La zone grise5 exemplarisch nach. Unter anderem macht er auf die Bedeutung des „Comité des intérêts français“6 aufmerksam, das den Schutz der französischen Häftlingsgemeinschaft im Lageralltag gewährleisten sollte und das bei der Organisation klandestiner kultureller Veranstaltungen der Franzosen eine zentrale Rolle spielte.7
Detailreich und gut recherchiert legt Wulf Kirsten dar, wie die Gedichte in Buchenwald entstanden: Heimliche Veranstaltungen im Untergrund des Lagers, so zum Beispiel während der arbeitsfreien Zeit an Sonntagnachmittagen, sind die Basis der in der Anthologie versammelten Gedichte. Nicht nur wurden zu diesen Anlässen bekannte Gedichte der französischen Literaturgeschichte rezitiert, sondern auch selbst verfasste Texte vorgetragen. Yves Boulogne – mit André Verdet der Hauptinitiator der Veröffentlichung der Buchenwald-Gedichte – veranstaltete einen Schreibwettbewerb, bei dem die im Lager verfassten Gedichte einer Jury vorgetragen und von dieser bewertet wurden. Es sind hauptsächlich diese Texte, die den Kern der noch im Lager zusammengestellten Anthologie des poèmes de Buchenwald bilden. Insgesamt entstanden drei Abschriften, von denen zwei in Jackenärmeln eingenäht und eine unter einer Baracke der französischen Häftlinge vergraben wurden.8
Die ständige Gefahr, der sich die Autoren beim Schreiben ihrer Gedichte aussetzten, betont Wulf Kirsten im Nachwort, indem er Jacques Lamy, der drei Gedichte in der Anthologie veröffentlichte, zu Wort kommen lässt:
Schreiben im Konzentrationslager war streng verboten und wurde in der Regel mit dem Strang bestraft. Schon das Besorgen von Schreibzeug war fast unmöglich. Mir ist es trotzdem gelungen, und ich schrieb im Büro der Fabrik, in der ich arbeitete. Man mußte das Manuskript an einem sicheren Ort verstecken. (165–166)9
Zwei Aspekte dieser Äußerung Jacques Lamys verdienen besondere Aufmerksamkeit: Zum einen war Schreiben im KZ strengstens verboten, zum anderen war es insbesondere den sog. ‚Funktionshäftlingen‘ möglich, an Papier und Stift zu kommen, um heimlich Notizen zu machen. Die genannten Entstehungsbedingungen erklären auch – darauf weist Kirsten hin (165) – weshalb Literatur aus Konzentrationslagern zu einem sehr großen Teil lyrische Texte umfasst.10 In der literarischen Kurzform des Gedichts konnten die Autoren rasch ihre Eindrücke niederschreiben, oft verfassten sie die Reime in Gedanken während der Arbeit oder des Appellstehens, lernten diese auswendig und brachten sie dann zu Papier, sobald sich ihnen eine geeignete Möglichkeit bot, zum Beispiel nachts.11
Die im Lager entstandenen Gedichte sind äußerst vielfältig; sie variieren in Form und Umfang und sie geben einen Eindruck davon, wie Menschen, die unter ständigem Freiheitsentzug und Repression leben, ihre Erfahrungen in Literatur übersetzten. Thematisch sind die Gedichte einerseits vom Lageralltag und seinen Härten und Entbehrungen gekennzeichnet – angesprochen wird unter anderem das Krematorium12, der Hunger13, die Kälte14 sowie Schmerz und Todesangst15 – andererseits finden sich in ihnen stark positiv konnotierte Bilder, die ihr hoffnungsgeladenes Potential beispielsweise aus der Erinnerung an geliebte oder nahestehende Personen beziehen16. Wulf Kirsten macht darauf aufmerksam, dass „[…] es nicht darum gehen [kann], die aufgenommenen Gedichte zu qualifizieren.“ (169). Er stellt sich damit (indirekt) gegen eine häufig vertretene Meinung, wonach die im Lager verfassten Gedichte keine Literatur im engeren Sinne seien.17 Ohne diese Diskussion hier weiterführen zu können, sei die Hypothese aufgestellt, dass eingehendere literaturwissenschaftliche Analysen durchaus das Literarische dieser Texte herausarbeiten können: Die Gedichte variieren traditionelle literarische Formen, verweisen intertextuell auf lyrische Beispiele der Literaturgeschichte und sind – um nur einen Analyseaspekt anzusprechen – in ihrer metaphorischen Gestaltung durchaus innovativ.
Dass die Übersetzung lyrischer Texte zu einer der herausforderndsten philologischen Aufgaben gehört, ist eine Grundhypothese, die in der Forschung vielfach diskutiert wurde.18 In keiner anderen literarischen Gattung tritt uns Sprache in so verdichteter und verschlüsselter Form entgegen, wie dies im Gedicht der Fall ist, nirgends dominiert die ästhetische (Sprach-)Funktion so stark wie in der Lyrik. In der Übertragung der versammelten Gedichte der Anthologie des poèmes de Buchenwald musste Annette Seemann sich nicht nur mit den spezifischen historischen und kontextuellen Bedingungen der Entstehung der KZ-Gedichte auseinandersetzen, sondern sah sich darüber hinaus mit dem Stil und den Eigenheiten einer Vielzahl von Autoren konfrontiert.
Seemann findet bei der Übersetzung der KZ-Gedichte eine ganz eigene Sprache. Auch wenn sie sich im Großen und Ganzen an den Ausgangstexten orientiert, so bleibt sie diesen nicht um jeden Preis verhaftet. Wichtig ist ihr – das zeigt ein Gang durch die Übersetzung aller Gedichte –, die Wirkung der französischen Originale mit den Mitteln der deutschen Sprache möglichst feinfühlig nachzuahmen. Beispiele sehr originaltreuer Übersetzungen sind die Poèmes du cœur von Richard Ledoux19 (132–135). Exemplarisch steht dieses Gedicht für die Angst des Verlustes und der Einsamkeit sowie für den Ausdruck großen Schmerzes. Das lyrische Ich beklagt den Verlust eines als „mon Frère“ angesprochenen Gegenübers:
Ne pars pas déjà, mon Frère
Je n’ai plus rien … plus que toi!
Aie pitié de mon émoi …
Écoute un peu ma prière …![…]
Si tu pars, je désespère
Ta présence était ma Foi,
J’ai peur, j’ai peur … oh! j’ai froid
Regarde donc en arrière …
Ne pars pas … déjà … mon Frère.Geh nicht schon fort, Bruder,
Ich habe doch nichts mehr … nur noch dich!
Erbarm dich meiner Unruhe …
Und hör dir mein Gebet an … ![…]
Wenn du gehst, ist die Hoffnung dahin.
Du warst da und warst mein Glaube,
Ich habe Angst, Angst … ach! und kalt ist mir,
Schau doch zurück …
Und geh nicht … noch nicht … Bruder
Die auffällig kurzen und repetitiven Wendungen und die aufs Äußerste reduzierte Syntax des französischen Textes übernimmt Seemann nahezu identisch in ihrer Version des Gedichts. Es werden keine Bilder des Lagers direkt evoziert, präsent ist lediglich ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. Wo die Angst die Sprache ins Stocken bringt („J’ai peur, j’ai peur…oh! j’ai froid“), wird sowohl der französische als auch der deutsche Text zu einem nur noch skelettartigen Gerüst.
Auch die Bilder der konzentrationären Vernichtung in Paul Goyards Dessin (74–75) überträgt Seemann in eine angemessene deutsche Syntax:
[…]
Faces crispées membres tordus
Agonies hallucinantes
Hurle
Grande Morte
De la grande exterminationPêle-mêle
Membres enchevêtrés
Crânes entre-choqués
Chairs décomposées
Ultime union
Vers le feu
Flamme haute[…]
[…]
Verzerrte Gesichter, verrenkte Glieder,
Halluzinationen im Todeskampf,
Brüll nur
Großer Tod
Der großen Vernichtung.Chaotisch
Die Glieder ineinander verwickelt,
Die Schädel aneinander zerschlagen,
Das Fleisch zersetzt.
Letzte Vereinigung
Zum Feuer,
Hohe Flamme.[…]
Wo der Tod im Zentrum steht, wo verzerrte Gesichter, verrenkte Glieder und Halluzinationen im Todeskampf den Ton des Gedichts bestimmen, ahmt Seemann überzeugend die ungebremste Geschwindigkeit und den zerstörenden Rhythmus des Gedichts mit den Mitteln der deutschen Sprache nach. Dabei meistert sie den bei Lyrikübersetzungen so diffizilen Spagat zwischen einer möglichst originalgetreuen Wiedergabe und übersetzerischen Freiheiten dort, wo dies möglich ist. Paul Goyard unterstreicht die Geschwindigkeit und das Zerstörerische in seinem Gedicht durch eine fehlende Interpunktion. Die geschundenen Leichenteile werden nicht nur durch entsprechende Adjektive als völlig ineinander verschlungen beschrieben, durch das direkte Aufeinandertreffen der Wörter wird dieses Ineinanderverwobensein auch auf syntaktischer Ebene zum Ausdruck gebracht:
Faces crispées membres tordus
Agonies hallucinantes
Dieses ungebremste Aufeinandertreffen wird in Seemanns Übersetzung dadurch etwas geschwächt, dass sie dem Gedicht durch regelmäßig gesetzte Kommata eine gewisse Gliederung verleiht und das Tempo des Originaltextes somit reduziert:
Verzerrte Gesichter, verrenkte Glieder,
Halluzinationen im Todeskampf
Dass es nicht immer einfach ist, auf dem schmalen Grat zwischen einer möglichst originalgetreuen Wiedergabe und übersetzerischer Freiheit zu wandern, zeigt die Übersetzung des Gedichts Elle fume von Maurice Beaufrère (14–17), das die Anthologie eröffnet. Das vergleichsweise lange Gedicht beschreibt eine mit jeglicher zivilisatorischen Tradition brechende Stadt: Es gibt weder große Boulevards, Kirchen oder Bistrots, noch ein Rathaus oder einen Friedhof. Was es jedoch gibt und was diese Stadt auszeichnet, ist ein einziges Monument, das sie dominiert und ihr einen ‚stolzen‘ Anstrich verleiht: das Krematorium. Der Beschreibung dieses „Monuments“ – das Krematorium als solches wird nie direkt benannt – gilt die zweite Hälfte des Gedichts. Vervollständigt wird das Bild der Vernichtungsmaschine gegen Ende des Gedichts, wo die Einwohner der Stadt mit ihren „hohlen Augen“ und ihren „Füßen im Schlamm“ das Rauchen des Qualms betrachten und froh sind, dass sie das Monument lediglich von außen besichtigen, denn:
[…] solange sie es qualmen sehen,
Werden sie wohl das Recht haben zu träumen
Die Übersetzung von Elle fume ist ein Beispiel für eine sehr freie übersetzerische Interpretation. Annette Seemann greift nicht nur auf lexikalisch-semantischer Ebene stark in den Text ein – Wörter werden ausgetauscht, so zum Beispiel „Stades hippiques“ durch „Aeroport“, an anderen Stellen werden Lexeme dort ergänzt, wo sie im französischen Text gar nicht stehen, der Vers „Pas de grands boulevards“ wird zu „Keine Boulevards, kein Rondell“. Sie verändert ihn auch auf syntaktischer Ebene an einigen Stellen, was Auswirkungen auf die rhythmische Gestaltung hat. Man mag dieser Übersetzung an manchen Stellen zu Gute halten, was Seemann in zwei Fußnoten auch explizit erläutert: dass lexikalische Veränderungen (Ergänzungen und Ersetzungen) vorgenommen wurden, um das Reimschema zu erhalten. Diese Argumentation verwundert jedoch, wenn man sich vor Augen führt, dass sich der deutsche Text an lediglich jenen beiden Stellen reimt, an denen Seemann Veränderungen vorgenommen hat, dass sich aber alle anderen Verse des Gedichts, die im französischen Original zumeist über Paar- und Kreuzreime zusammengehalten werden, nicht reimen.
Wie bereits angedeutet, finden sich in der Anthologie auch Gedichte, die von Hoffnung und positiven Erinnerungen geprägt sind. Zum einen kann es sich hierbei um Liebesgedichte handeln, zum anderen sind dies auch Texte, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der (bevorstehenden oder bereits erfolgten) Befreiung des Lagers stehen. Als Beispiel eines Liebesgedichtes sei das im April 1944 von André Verdet an seine Geliebte adressierte Camille (156–157) genannt. Seemann überträgt diese Verse in eine ebenso farbenfrohe und erfrischende Liebeshymne, wie es das Original darstellt, in welchem das lyrische Ich seine Angebetete mit positiv konnotierten Blumenattributen beschreibt und ihr so einen in Worte gekleideten Blumenstrauße in Gedanken überreicht:
In deiner Maiglöckchenkorsage
Mit deiner Veilchenstimme
Deinem Vergißmeinnichtblick
Deinem Immergrünlächeln
O meine Blonde, geliebte Frau
Gnade der Tage und Jahre
Du, so zerbrechlich in der Freude
So stark im Wind
Und doch so zart und duftend […]
Dans ta gaine de muguet
Avec ta voix de violette
Ton regard de myosotis
Et ton sourire de pervenche
Blonde ô ma femme bien aimée
Grâce des jours et des années
Toi si fragile dans la joie
Et si robuste dans le vent
Ma si tendre et si parfumée […]
In dem ebenfalls von Verdet verfassten Le chant (158–159), das laut Gedichtunterschrift am „Jour de la Libération, 11 avril 1945“ entstanden ist, gibt das lyrische Ich seiner Freude in einem um das Wort „chant“ kreisenden Wortspiel Ausdruck:
J’écoute dans mon chant la lumière qui chante
La plus belle chanson qu’on ait jamais chantée
Dans ce chant qui m’enchante et lui-même s’enchente
De s’entendre chanter en état enchanté […]
Die Übersetzung dieser Verse, deren Potential im Französischen in erster Linie durch die Struktur der Binnen- und Endreime in Verbindung mit dem Wortstamm „chant“ entfaltet wird, ist nicht leicht. Annette Seemann gelingt die Nachahmung dieser Reimspiele jedoch wunderbar, indem sie beispielsweise auf das veraltete Substantiv „Sang“ zurückgreift, das sie auf „Klang“ reimen kann:
In meinem Gesang hör ich den Klang des Lichts
Der schönste jemals gesungene Sang
Mich und sich selbst fängt dieser Sang
Durch das Hören des Sangs im Moment seines Klangs
Wir brechen den Gang durch die Gedichte und deren Übersetzung an dieser Stelle ab, um uns abschließend deren Rezeption in Deutschland und Frankreich sowie deren Stellenwert in der literaturwissenschaftlichen Forschung zu widmen. In seinen Überlegungen zur Rezeption der Gedichte, die weniger von literaturwissenschaftlichen denn von historischen Fragestellungen geleitet werden – dieser Eindruck soll sich auch bei der Betrachtung der die Anthologie abschließenden Kurzbibliographie bestätigen, in der die Herausgeber einen äußerst knapp gehaltenen Aufriss der Forschungsliteratur zur Thematik geben und dabei den Aspekt der Lagerliteratur nahezu völlig ausklammern –, macht Wulf Kirsten darauf aufmerksam, dass die Anthologie in Frankreich und Deutschland nur selten wahrgenommen wurde:
In den deutschen, aber auch in den französischen Darstellungen zur Résistance, zu Internierung und Deportation wird André Verdets Anthologie vornehmlich außer Acht gelassen oder allenfalls am Rande erwähnt […] (168).
Von Seiten der historischen Forschung werden Gedichte im Allgemeinen nur selten als Quelle herangezogen, da sie dem Bereich des Fiktionalen zugeordnet werden – ein Dilemma. Denn von Seiten der Literaturwissenschaft werden KZ-Gedichte – wie oben angedeutet – häufig ebenfalls als Forschungsgegenstand ausgeklammert, da sie ihrer Konzeption von Literatur im engeren Sinne nicht zu entsprechen scheinen, mit einer an einem äußerst restriktiven Literaturbegriff gemessenen Wertung also, durch die man dieser spezifischen Literatur nur schwer gerecht werden dürfte. Aufgabe der Forschung sollte nach Meinung des Rezensenten vielmehr sein, das Potential dieser im Kontext der KZ-Haft entstandenen Lyrik auszuloten und zu untersuchen, welche spezifischen ästhetischen Gestaltungsmittel dieser Literatur eigen sind.20 Werden die Buchenwald-Gedichte zwar selten in historischen Darstellungen zur Internierung und Deportation genannt, so muss doch darauf verwiesen werden, dass die von Verdet und Boulogne im Lager gesammelten Gedichte durchaus in französischsprachigen Anthologien zur Verfolgungs- und KZ-Thematik aufgenommen wurden und dem interessierten (französischen) Leser somit bekannt sind.21
Die vorliegende Übersetzung der Buchenwald-Gedichte wird diese einem breiterem Publikum bekanntmachen.22 Aber auch für die Forschung zur KZ-Literatur stellt die von Annette Seemann und Wulf Kirsten bestellte Ausgabe des Gefesselten Waldes einen signifikanten Mehrwert dar: Sie führt die Vielschichtigkeit der Lagergedichte vor Augen und erleichtert den Zugang zu den Texten, indem sie kontextualisierende Informationen bietet. Nicht zu unterschätzen sind in diesem Zusammenhang die aufwändig recherchierten biographischen Informationen zu den einzelnen Autoren, die den Band abrunden. Dass diese stark im Umfang variieren, ist der Tatsache geschuldet, dass sich über manche Autoren keine oder lediglich spärliche biographische Angaben ermitteln ließen (vgl. 169). Erschwert wurde die Recherche auch dadurch, dass viele Autoren – so beispielsweise Maurice Braun – in der Anthologie unter einem Pseudonym erscheinen. Die Übersetzung des Gefesselten Waldes regt zur Beschäftigung mit Texten an, die bis dato weniger im Fokus der Forschung stehen – auch jener Forschung, die sich mit der sog. ‚Lagerliteratur‘ befasst, welche in erster Linie Texte untersucht, die nach der KZ-Haft aus der Erinnerung von ehemaligen Häftlingen verfasst wurde.
Alles in allem macht die auch unter ästhetischen Gesichtspunkten ansprechende Gedichtanthologie einem deutsch-französischen Publikum einen wichtigen Teil der für beide Länder so einschneidenden (Literatur-)Geschichte zugänglich. Führt man sich vor Augen, dass bereits bei der Konzeption der Anthologie des poèmes de Buchenwald zur Zeit der Lagerhaft die Zusammenarbeit eines internationalen Autorenkollektivs eine wichtige Rolle spielte – an dem Projekt waren neben polnischen und russischen auch zwei deutsche Autoren beteiligt –, so wird die Notwendigkeit einer Übersetzung der Originalausgabe noch deutlicher. Diesem Desiderat sind wir dank der von Annette Seemann und Wulf Kirsten herausgegebenen zweisprachigen Ausgabe der Buchenwald-Gedichte ein Stück nähergekommen.
André Verdet, Anthologie des poèmes de Buchenwald, traduction allemande par Roudi Feuerbach et Jean Thimonnier, traduction polonaise par le Professeur Z.-L. Zaleski, adaptation poétique par André Verdet (Paris: Robert Laffont, 1946).↩
Die Idee, die Anthologie des poèmes de Buchenwald ins Deutsche zu übertragen, wurde geboren, als Annette Seemann Jorge Semprúns Le rêve ancien (144–145) für die Zeitschrift Akzente übersetzte, vgl. Akzente: Zeitschrift für Literatur 58, Nr. 6 (2011): 493.↩
Zahlreiche Forschungsarbeiten widmen sich dem kulturellen Schaffen im KZ, zumeist handelt es sich dabei um Studien, die das literarische, künstlerische oder musikalische Wirken der Häftlinge in einzelnen Lagern untersuchen. Zur im Lager entstandenen Kunst vgl. z.B. Stefanie Endlich, „Kunst im Konzentrationslager“, in Der Ort des Terrors: Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1: „Die Organisation des Terrors“, hrsg. von Wolfgang Benz und Barbara Distel (München: C.H. Beck, 2005), 274–295; Christophe Cognet, „L’art clandestin au camp de Buchenwald“, in Résister à Buchenwald, journée d’étude, 3 juin 2005: „Les Français et la Résistance à Buchenwald, 1943 – 1945“, hrsg. von L’Association Buchenwald, Dora et ses Kommandos (Paris: Éditions Tirésias, 2006) 85–95. Zum Themenkomplex der Musik im KZ vgl. die sehr umfassende Studie von Guido Fackler, „Des Lagers Stimmen“. Musik im KZ: Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 – 1936 (Bremen: Edition Temmen, 2000). In einem umfangreichen Kapitel geht Fackler darin auch der Untersuchung der Musik im NS-Lagersystem von 1933 bis 1945 auf den Grund.↩
In der Forschung wird diese Form des geistigen Widerstands auch als „résistance de l’esprit“ bezeichnet: Charlotte Wardi, „La résistance de l’esprit dans les camps nazis“, in Littérature et Résistance: actes du colloque (Reims: Presses Universitaires de Reims, 2000), 37–48, hier: 47 oder als „act of sabotage“ bezeichnet (Ellen Fine, „Literature as resistance: survival in the camps“, Holocaust and Genocide Studies 1, Nr. 1 (1986): 79–89, hier 84).↩
Vgl. Olivier Lalieu, La zone grise? La Résistance française à Buchenwald (Paris: Tallandier Éditions, 2005). Eine frühere Darstellung des Widerstands der Franzosen im KZ Buchenwald liefert Pierre Durand, La Résistance des Français à Buchenwald et à Dora (Paris: Éditions Messidor, 1991).↩
Lalieu, La zone grise, 162.↩
Vgl. Lalieu, La zone grise, 161–168.↩
Vgl. Yves Boulogne, „André Verdet et la résistance intellectuelle“, in Pierres de vie. Hommage à André Verdet, hrsg. von Françoise Armengaud (Paris: Éditions Galilée, 1986), 21–24, hier: 22–23; vgl. ferner Durand, La Résistance des Français, 102 und Lalieu, La zone grise, 234.↩
Leider gibt Wulf Kirsten – so auch an anderen Stellen des Nachworts – nicht die genaue Quelle des Zitats an. Es ist davon auszugehen, dass die zitierte Passage nicht auf Deutsch vorliegt, sondern von den Herausgebern übersetzt wurde.↩
Kirsten sieht im Gedicht „[…] unter den bestehenden Bedingungen die einzig mögliche literarische Form.“ (Nachwort, 165) Dass die im KZ entstandene Literatur vielfältiger ist, als dies Kirsten annimmt, wird daran deutlich, dass auch Texte anderer Gattungen dort entstanden sind – erwähnt seien an dieser Stelle Theaterfragmente, Briefe, kurze Prosanotizen und Tagebuchaufzeichnungen.↩
Die Frage, weshalb sich die Gattung des Gedichts besonders eignete, um die KZ-Erfahrung während der Lager-Haft niederzuschreiben, beantwortet u.a. Yves Ménager, „La poésie des camps: Du témoignage à l’indicible“, in La France de 1945: résistances – retours – renaissances, actes du colloque de Caen, 17 – 19 mai 1995, hrsg. von Christiane Franck (Caen: Presses Universitaires de Caen, 1996), 221–233, hier: 222.↩
Vgl. Elle fume (Maurice Beaufrère, 14–17), Poème (Ady Brille, 42–45), Krematorium (Yves Darriet, 60–61), Krematorium (René Salme, 142–143), Impression vraie (André Verdet, 154–155).↩
Vgl. La forêt enchaînée (José Fosty, 68–69), La faim (José Fosty, 70–71), Les hommes (Christian Pineau, 114–117).↩
Vgl. La forêt enchaînée (José Fosty, 68–69), Saisons à Buchenwald (Franz Hackel, 86–87), Buchenwald (Jacques Lamy, 106–107).↩
Vgl. Otage (Yves Boulogne, 24–25), Chanson de fou (Auguste Clary, 52–57), La mort (José Fosty, 72–73), Dessin (Paul Goyard, 74–75), Poème des heures (André Verdet, 152–153).↩
Vgl. Renouveau (Yves Boulogne, 18–19), L’espoir (Yves Boulogne, 26–27), La sole (Maurice Braun, 38–41), Catherine (François Camaret, 46–51), Berceuse (Yves Darriet, 62–63), Buchenwald (Jacques Lamy, 106–107), Poèmes du cœur (Richard Ledoux, 132–135), Maman (Jerzy Strzelecki, 148–149), Camille (André Verdet, 156–157).↩
Deutlich wird dies z.B. in Arbeiten, die zwar den Stellenwert der in den Lagern entstandenen Literatur, beispielsweise ihre Funktion als Akt des Widerstandes, herausarbeiten, die aber darüber hinaus bei der ästhetischen Beurteilung dieser Texte an einem sehr engen Literaturbegriff festhalten. Vgl. z.B. Hans Günther Adler, „Dichtung aus Theresienstadt“, in Fruchtblätter: Freundesgabe für Alfred Kelletat (Berlin: Pädagogische Hochschule Berlin, 1977), 137–142, hier: 138–140. Vgl. auch die immer wieder betonte Feststellung, die Autoren hätten lediglich auf literarische Beispiele – verstanden als „richtige“ Literatur – zurückgegriffen und diese lediglich paraphrasiert: Ménager, „La poésie des camps“, 224.↩
Zum neueren Stand der Forschung vgl. etwa den Band Lyrik-Übersetzung zwischen imitatio* und poetischem Transfer: Sprache, Räume, Medien / La traduction de la poésie entre* imitatio et transfert poétique: langues, espaces, médias, hrsg. von Carolin Fischer und Beatrice Nickel (Tübingen: Stauffenburg Verlag, 2012). Darin überzeugen insbesondere die Ausführungen Jean-Yves Massons, der die Schwierigkeit des Übertragens von Gedichten zu Beginn seiner Überlegungen zum Übersetzen von Lyrik thematisiert:
„Die Übersetzungskunst im Allgemeinen ist eine widersprüchliche Angelegenheit. Und wenn man sich für das, was doch am schwierigsten zu übersetzten ist, nämlich die Lyrik, interessiert, wo sich der Übersetzer nicht damit begnügen darf, einen ‚Inhalt‘ von der einen in die andere Sprache zu übertragen, sondern wo er vielmehr Rücksicht nehmen muss auf die äußere Form der Nachricht, die mit letzterer eine Einheit bildet, dann kann man beobachten, wie die einer jeden Reflexion über diese Kunst inhärenten Widersprüche erneut zu Tage treten.“ Jean-Yves Masson, „Das Übersetzen von Lyrik“, in Lyrik-Übersetzung zwischen imitatio* und poetischem Transfer*, hrsg. von Carolin Fischer u. Beatrice Nickel (Tübingen: Stauffenburg Verlag, 2012), 43–58, hier: 43.↩
In der ersten Auflage der Anthologie des poèmes de Buchenwald aus dem Jahre 1946 – auch in der Auflage von 1995 – werden diese beiden Gedichte lediglich einem gewissen „Richard“ zugeordnet. Es gehört zu den Verdiensten von Wulf Kirsten und Annette Seemann, in Zusammenarbeit mit der Association Française Buchenwald, Dora et Kommandos das Rätsel um diesen Autor gelöst und ihn als Buchenwald-Häftling Richard Ledoux ausgemacht zu haben. Vgl. Nachwort, 169–170. Vgl. ferner die Ausführungen zu Richard Ledoux im Abschnitt „Kurzbiographien“, 178.↩
Einen Ansatz in diese Richtung unternimmt Gary D. Mole, der Gedichte untersucht, die in NS-Gefängnissen und Konzentrationslagern entstanden sind. Vgl. Gary D. Mole, Beyond the limit-experience: French Poetry of the Deportation, 1940 – 1945 (New York: Peter Lang, 2002). Constanze Jaiser hat in ihrer Studie Poetische Zeugnisse Gedichte verschiedener Sprachen untersucht, die im KZ Ravensbrück entstanden sind, vgl. Constanze Jaiser, Poetische Zeugnisse: Gedichte aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939 – 1945 (Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, 2000).↩
Einzelne Gedichte der Anthologie des poèmes de Buchenwald finden sich bereits bei Michel Borwicz, Écrits des condamnés à mort sous l’occupation allemande (1939 – 1945): étude sociologique (Paris: Presses Universitaires de France, 1954, 21973), dann auch in nachstehenden Textsammlungen (chronologisch nach dem Datum ihres Erscheinens geordnet): Pierre Seghers, La Résistance et ses poètes, 2 Bde. (Paris: Éditions Seghers, 1974); Henri Pouzol, La Poésie concentrationnaire: visage de l’homme dans les camps hitlériens 1940 – 1945 (Paris: Éditions Seghers, 1975); Henri Pouzol, Ces voix toujours présentes: anthologie de la poésie européenne concentrationnaire (Reims: Presses Universitaires de Reims, 1995); Yves Ménager, Paroles de déportés (Paris: Les Editions de l’Atelier/Editions Ouvrières, 2001).↩
Ein Anzeichen hierfür ist Ostens Besprechung der Anthologie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31.Oktober 2013. Vgl. Manfred Osten, „Nachts erscholl des Hammers Qual. Den Tod denken heißt das Leben denken: Gedichte aus dem Lager Buchenwald“, Frankfurter Allgemeine Zeitung 253, 31. Oktober 2013, 26.↩
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