Der Traum als Forschungsgegenstand literatur- und kulturwissenschaftlicher Romanistik

Ein Rundflug mit Zwischenstopps

Marie Bonnot, Kristina Höfer, Agnes Karpinski, Martin Meiser, Janett Reinstädler, Sigrid Ruby und Christiane Solte-Gresser (DFG-Graduiertenkolleg „Europäische Traumkulturen“ (GRK 2021), Saarbrücken)

Seit Menschen träumen, denken sie auch über Träume nach; und seit sie sich künstlerisch betätigen, spielt der Traum in ihrem Schaffen eine bedeutende Rolle. Als Forschungsobjekt der Literatur- und Kulturwissenschaften tritt das Träumen besonders hervor, seit die psychoanalytische Traumforschung einerseits die grundlegende Bedeutung des Traumes für individuelle und kulturelle Prozesse offengelegt hat, andererseits aber die Psychoanalyse nicht mehr als die einzige oder dominante Deutungsmacht gelten kann, die den Zugriff auf dieses komplexe und höchst ambivalente Phänomen bestimmt. Die intensive neurophysiologische und kognitionswissenschaftliche Forschung zum Traum zeigt: Wie die psychologische Traumforschung, so sind auch naturwissenschaftliche Ansätze (noch) immer auf die Vermittlung des Traumes durch Erzählungen oder Bilder angewiesen. Narrative oder visuelle Traumdarstellungen sind somit auch ein interdisziplinär relevanter Forschungsgegenstand.

Spezifisch kulturwissenschaftliche Fragen an Traumerzählungen, Traumbilder oder Traumfilme werden vorrangig aus zwei sich ergänzenden Perspektiven gestellt: Zum einen rekonstruieren wissenspoetische Ansätze ästhetische Traumdarstellungen vor dem Hintergrund entsprechender Traumkonzepte in wissens- oder kulturgeschichtlicher Dimension. Damit tragen sie der besonderen Interdisziplinarität von Traumdiskursen als Forschungsobjekt Rechnung. Zum andern beschäftigt sich eine (medien-),ästhetisch oder gattungsspezifisch ausgerichtete Perspektive mit Fragen der Materialität und Medialität künstlerischer Traumgestaltung innerhalb ihrer spezifischen ästhetischen Traditionen. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier narrative, poetische, filmische, dramatische, musikalische oder ikonographische Verfahren, die oftmals gerade in komparatistischer, inter- oder transmedialer Perspektive hervortreten.

Bei beiden Blickrichtungen stehen ästhetische Traumdarstellungen im Fokus: Träume werden in den Künsten etwa als Themen, Motive, Topoi, Handlungsmuster, symbolische Deutungsangebote, narrative Modelle, historische Stoffe oder diskursive Rahmungen analysiert. Das Spektrum ihrer Funktionen ist damit ausgesprochen breit. So vermögen literarische Träume das Traumwissen ihrer Zeit (oder auch historisch tradierte Traumdiskurse) zu illustrieren, zu popularisieren, zu kritisieren, zu idealisieren oder zu subvertieren, um nur einige besonders offensichtliche Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und künstlerischer Darstellung jenseits einer rein ästhetischen Verwendungsweise zu nennen. Über weite Epochen und Kulturräume hinweg bilden Träume jedenfalls in literarischen Texten, bildkünstlerischen Arbeiten, Filmen, Musik oder Theaterstücken ein anhaltendes Faszinosum. Denn Traumdarstellungen befragen immer auch das grundsätzliche Verhältnis von Realität und Imagination und dienen damit der (autoreflexiven) Auseinandersetzung mit Potenzialen und Grenzen der Literatur und der bildenden Kunst selbst. Nicht zuletzt dies macht sie für literatur- und kulturwissenschaftliche Forschungsperspektiven besonders attraktiv.

Angesichts der skizzierten Breite und Komplexität des Themas bieten sich vielfältige Anknüpfungspunkte für die romanistische Forschung. Alle romanischen Kulturen weisen nicht nur bedeutsame Traumdarstellungen auf; im Laufe der kulturgeschichtlichen Entwicklung finden auch stetige intertextuelle oder intermediale Auseinandersetzungen mit den kanonischen Arbeiten und ihren Traditionen statt. Man denke nur an die lateinisch-römische Philosophie und Kirchengeschichte, die italienische Renaissance-Malerei, das spanische Barock-Theater, Opern aus dem siècle classique, philosophisch-literarische Texte der französischen Aufklärung, Lieder und Poesie der Romantiker oder den französischen Surrealismus – sie alle sind kaum zu verstehen, ohne das Phänomen des Traumes und seine geschichtlichen Fortentwicklungen in besonderem Maße zu berücksichtigen.

So hat sich gerade die romanistische Forschung der letzten Jahre dem Traumthema intensiv zugewandt. Wenngleich der Forschungsstand in diesem Bereich inzwischen nur noch schwer zu überblicken ist, so fällt doch auf, dass systematisch angelegte, theoretisch fundierte und synthetisierende Überblicksdarstellungen nach wie vor eine Ausnahme darstellen.

Den größten Raum nehmen nach wie vor solche Arbeiten ein, die bestimmte ästhetische Traumdarstellungen einzelner Künstler/innen, Epochen oder Gattungen monographisch behandeln. So setzt sich, um hier lediglich einen ersten schlaglichtartigen Einblick zu geben, etwa Grażyna Maria Bosy mit den Beiträgen der romanischen Lyrik des Mittelalters zur Motiv- und Themengeschichte des Träumens auseinander. Die frühe Neuzeit in Frankreich bildet den Fokus für Nathalie Dauvois’ und Jean-Philippe Grosperrins Arbeit zu Rhetorik und Ästhetik von Träumen in literarischen und philosophischen Texten. Den Traum in der französischen Lyrik von der Romantik bis zum Surrealismus behandelt die Studie von Inga Baumann. Antonio Alatorre legt umfangreiche Studien zum erotischen Traum in der spanischen Poesie des siglo de oro vor; die Geschichte der spanischen Traumdarstellung als eigenes Genre wird von Teresa Gómes Trueba rekonstruiert. Aus kunstwissenschaftlicher Sicht widmet sich Stefanie Heraeus französischen Traumdarstellungen vor allem des 19. Jahrhunderts. Für denselben Zeitraum und ebenfalls in Frankreich erforscht Vanessa Pietrantonio den Traum als Archetypus des sottosuolo. Uta Felten setzt sich unter anderem mit der Traumästhetik Buñuels, Antonionis, Borges’ und Tabucchis auseinander. Herbert Fritz widmet sich dem Traum im spanischen Gegenwartstheater; die labyrinthische Struktur im frankophonen marokkanischen Roman ist Gegenstand der Monographie von Khalid Idouss.

An komparatistischen Arbeiten, die neben romanischen auch weitere Kulturräume berücksichtigen, wäre vorrangig Peter André Alts umfassende Studie über Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit zu nennen. Die Arbeit von Francesca Brava vergleicht deutsche und französische Romane der 1970er Jahre. Ebenfalls ein deutsch-französischer Blick liegt Nadja Kaltwassers Forschungen zu Traum und Alptraum in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts zugrunde.

Die Auseinandersetzung mit Traumdarstellungen aus dezidiert kultur- und wissenshistorischer Perspektive stellt einen weiteren Schwerpunkt innerhalb der gegenwärtigen Romanistik dar. In diesem Zusammenhang bietet Gabriela Cerghedean einen Einblick in den westlichen Literaturkanon, der insbesondere das spanische Mittelalter berücksichtigt. Aus einer kirchengeschichtlichen Perspektive rekonstruiert Burkhard Freiherr von Dörnberg die westliche Tradition der Traumdeutung bis zu Augustinus. Sylviane Bokdam widmet sich ausgiebig der Theorie und Poetik des Traumes in der Renaissance. Traumtheorien, Repräsentationsweisen des Träumens und ihre Interaktionen im französischen 17. Jahrhundert stehen hingegen im Zentrum der Studien von Florence Dumora. Die Monographie zur Geschichte des Traumes von Jacqueline Carrois bietet ebenso wichtige Erkenntnisse für die interdisziplinäre Traumforschung wie Susanne Goumegou, die das Verhältnis von Traumästhetik und Traumdiskurs bei Nerval, Breton und Leiris analysiert.

Zahlreiche Aufsatzbände versuchen der Vielfalt des Themas durch eine dezidierte Heterogenität der Ansätze und Zugänge gerecht zu werden. Dies hat den Vorteil, dass der Traum sowohl historisch als auch theoretisch-methodisch aus einem weiten Blickwinkel erforscht werden kann. Eine synthetische Gesamtschau lässt sich damit allerdings kaum erreichen; der Erkenntniswert liegt meist vielmehr in den Einzelstudien selbst, die um die Traumthematik herum versammelt werden. Aber auch hier wird den Beziehungen zwischen Traumdiskursen und literarischen oder anderen ästhetischen Artefakten ein wichtiger Raum zugestanden. Marie Guthmüller und Susanne Goumegou geben einen umfangreichen Band über onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart heraus. Die Zusammenhänge zwischen Traum und Wissenschaft in der italienischen Literatur wiederum sind Gegenstand der von Natascia Tonelli publizierten Studien. Die spanische Traumliteratur und ihre jeweils zeitgenössischen Traumdiskurse stehen im Zentrum gleich dreier Tagungsakten, nämlich der Sammelbände von Estrella Ruiz-Gálves Priego, Kateřina Drsková und Laura Dolfi.

Aus dem hier skizzierten Spektrum an romanistischer Traumforschung werden im Folgenden einige ausgewählte Arbeiten zur kulturellen Traumdarstellung genauer in den Blick genommen und, was die jeweiligen Forschungsgegenstände angeht, chronologisch präsentiert: Die Teilrezensionen reichen von historischen Studien zu lateinischen Kirchentexten der römischen Antike über das Mittelalter und die französische Renaissance bis hin zum spanischen Gegenwartsdrama. Vorangestellt werden zwei Arbeiten aus dem Bereich der komparatistischen, vorrangig französischen und spanischen Literaturwissenschaft, die sich zur Aufgabe gemacht haben, einen größeren historischen Zeitraum monografisch abzudecken und damit Einblicke in die literaturgeschichtliche Entwicklung der ästhetischen Traumdarstellung zu liefern.

Von den seit den 2000er Jahren erschienenen frankophonen Werken zur Traumdarstellung in der Literatur des 20. Jahrhunderts liefern nur relativ wenige eine Gesamtschau. Es gibt zwar Werke, die zumindest in Teilen oder auch monografisch die Traumthematik in Werken bestimmter Autoren, wie z.B. Henri Michaux, Michel Leiris oder Raymond Queneau, untersuchen, nur wenige jedoch befassen sich mit einem umfangreicheren Korpus oder beleuchten die Traumdarstellung aus einem theoretischen Blickwinkel.

Julie Wolkenstein indes hat in ihrem Buch Les récits de rêve dans la fiction, das 2006 bei Klincksieck erschienen ist, diese Herausforderung angenommen und sich mit dem Verhältnis zwischen Traum und Fiktion aus ästhetischer wie auch narratologischer und epistemologischer Perspektive auseinandergesetzt. Hierfür bedient sie sich nicht nur verschiedener Beispiele aus diversen Epochen – von der Antike (Artemidor, Aischylos, Sophokles) über das Zeitalter des Barock (Shakespeare), der Klassik (Corneille, Racine, Pascal, Descartes), Romantik (Novalis, Hugo), der Moderne (George Du Maurier, Kafka, Larbaud, Proust, Schnitzler) bis hin zur Gegenwart, sondern sie räumt auch – ganz im Sinne eines komparatistischen Ansatzes – der Cineastik einen größeren Platz ein, mit Filmen von George Méliès, Alfred Hitchcock (Rebecca, Spellbound, Vertigo), Stanley Kubrick (Eyes Wide Shut), David Lynch (Mullholland Drive) und Arnaud Desplechin (Rois et reine).

Wolkensteins Essay ist in 50 Fragen aufgegliedert, deren unterhaltsame Formulierungen („Le freudisme est-il soluble dans le cinéma hollywoodien?“, „Pourquoi Gary Cooper rêve-t-il du logo de la Paramount?“) den wissenschaftlichen Anspruch des Werks jedoch in keiner Weise schmälern. Ziel des Werks, so die Autorin, sei es, „de parcourir de manière subjective et sélective l’histoire littéraire et cinématographique et d’ouvrir, à partir d’exemples précis, une réflexion sur la relation entre rêve et fiction“ (12). Diesem Maßstab Rechnung tragend, enthält das Werk eine Abfolge von Analysen konkreter Beispiele und theoretischen Abhandlungen unter Berücksichtigung narratologischer und ästhetischer Aspekte von Traumepisoden in unterschiedlichen Fiktionsgattungen (Roman, Theater, Kino). Des Weiteren befasst sich die Autorin mit der kritischen Rezeption dieser Traumsequenzen – insbesondere unter Berücksichtigung der Kritik aus psychoanalytischer Perspektive –, um schließlich den fiktiven Status von Traumdarstellungen zu hinterfragen und den Begriff der Fiktion zu überdenken.

Zunächst steckt sie den Untersuchungsgegenstand ab: die Darstellung nächtlicher Träume der Protagonisten, die in einen fiktiven Kontext eingebettet wird, indem „au sein d’un ouvrage d’imagination, une parenthèse radicalement irréelle, une fiction au carré“ erschaffen wird, „qui pourra par ailleurs viser la véracité, la vraisemblance, tenter d’imiter au plus près les particularités du rêve réel“ (10). Anhand von Arbeiten Dorrit Cohns (Transparent minds: narrative modes for presenting consciousness in fiction, 1978, und The distinction of fiction, 1999), Gérard Genettes (Figures III, 1972, und Nouveaux discours du récit, 1983) sowie Jean-Daniel Golluts Conter les rêves von 1993 – die sich eingehender mit der Traumdarstellung befassen – betrachtet Julie Wolkenstein die narratologische Funktion der Traumdarstellung in der Fiktion und unterstreicht deren doppelte Funktion: das dramatische Moment einerseits (zum Beispiel durch mögliche prophetische Eigenschaften des Traums) und das psychologische andererseits (da er Einblicke in das Seelenleben der Protagonisten erlaubt). Mithilfe eines Vergleichs der in den verschiedenen Epochen und Medien gewählten ästhetischen Mittel und der zwischen dem fiktiven Rahmen und der Traumdarstellung erzeugten Kontraste zeigt Wolkenstein auf, dass Traumepisoden sich nicht immer durch einen deutlichen ästhetischen Bruch oder Verfremdungseffekte, wie man sie eigentlich erwarten könnte, vom Gesamtkontext abheben, in den sie eingebettet sind. Eine Gegenüberstellung des linguistischen und narratologischen Ansatzes lässt sie den Status der Traumdarstellung im Roman im Lichte narrativer Techniken, wie z.B. dem inneren Monolog, überdenken und die Hypothese aufstellen, dass die allmähliche Abkehr der Romanciers vom Traum als Episode darauf zurückzuführen ist, dass „l’écriture romanesque, au xxe siècle, s’appropri[e] les formes du récit de rêve“ (79). Wolkenstein vermutet, dass die mit der Emanzipation des Traumdarstellungsgenres – bei Breton, Éluard, Aragon, Yourcenar oder auch Queneau und Perec – einhergehende Ausweitung der Traumästhetik auf andere Textsorten sich dem Einfluss der Psychoanalyse, aber auch des Films verdankt, „qui introduit une concurrence redoutable dans la représentation de l’expérience onirique“ (76).

Sie zeigt, dass Traumdarstellungen in hohem Maße die Sinne ansprechen und stets mehr oder weniger interpretationsbedürftig sind. In diesem Zusammenhang geht sie – insbesondere unter Bezugnahme auf André Green, George Devereux und Jean Bellemin-Noël – auf die Geschichte der psychoanalytisch orientierten Kritik der Traumdarstellung ein. Anhand der von ihnen durchgeführten Analysen von Werken der griechischen Tragödie oder Prousts stellt sie zum einen die Gelehrtheit ihrer Überlegungen, zum anderen aber auch die Risiken des hermeneutischen Reduktionismus der psychoanalytischen Deutung heraus. Die Träume fiktiver Protagonisten, so Wolkenstein, dürften nicht mit echten Träumen verwechselt werden. Diese ästhetische Schöpfung – die umso größer ist, wenn sie in ein größeres Werk eingebettet wird – dürfe nicht psychoanalytischen Untersuchungen unterzogen werden, die dazu neigten, die auf Papier oder Zelluloid gebannten Kreaturen als vollständige psychische Wesen zu begreifen.

In ihrem Essay beleuchtet Julie Wolkenstein zudem die stimulierende Wirkung, die die Traumdarstellung auf das fiktive Genre hat. Sie zeigt, wie das der Fiktionsgattung immanente Potenzial, viele Individuen an einer höchst eigenartigen und intimen Erfahrung teilhaben zu lassen, besonders im Fantasy- und Science-Fiktion-Genre mithilfe einer Traumepisode ausgeschöpft werden kann. Über die Werke von Philip K. Dick (Au bout du labyrinthe) und George Du Maurier (Peter Ibbetson) schlägt sie den Bogen zu den philosophischen Abhandlungen Descartes’, Pascals oder Roger Caillois’ über den Bezug zur Realität und der Pluralität der Welten. Auch die Gattungen Autobiographie und Autofiktion werden, insbesondere anhand des Werks Guillaume Dustans (Plus fort que moi, Nicolas Pages), aus einem neuen Blickwinkel betrachtet, bei dem der Traum – wenngleich eigentlich nicht als solche konzipiert – wie eine Art Fiktion wirkt, die aus dem Innern heraus das autobiographische Werk beleuchtet.

Im letzten Kapitel ihres Buchs „Le rêve fictif est-il une fiction au carré ?“ arbeitet Julie Wolkenstein heraus, dass eine Traumepisode immer eine Funktion innerhalb der Gesamtwirkung eines Werks erfüllt. Gerade weil sich eine Traumepisode so leicht einbetten, so selbstverständlich niederschreiben lasse und bei der Lektüre so augenfällig sei, so Wolkenstein, erfülle sie immer einen Zweck. Abschließend greift sie Freud auf und kommt mit der vortrefflichen Paraphrasierung zu dem Fazit: „le rêve fictif est la voie royale d’accès à la fiction“ (160). Möglicherweise ist dieser Weg aber auch – diese These sei erlaubt – ein Schleichweg, der den Zugang zur Literaturwissenschaft eröffnet.

Neben der französischen Literatur, die eine regelrechte Fundgrube für literarische Traumdarstellungen darstellt, erweist sich ein Blick nach Spanien als besonders produktiv: Gleich zwei der bekanntesten künstlerischen Traumdarstellungen stammen aus spanischer Feder, nämlich das philosophische Barockdrama La vida es sueño (1636) von Pedro Calderón de la Barca und Francisco de Goyas Radierung El sueño de la razón produce monstruos (ca. 1799). Jenseits dieser meisterhaft vieldeutigen und weit über die Landesgrenzen hinaus wirkenden Kunstwerke, finden sich in Spanien vom Mittelalter bis heute unzählige weitere ästhetische Gestaltungen von Träumen. Umso überraschender ist die diesbezüglich eher schlechte Forschungslage: Es lassen sich keine 20 Monographien über den Traum in der Kultur Spaniens bibliographieren, zwei Drittel davon widmen sich nur jeweils einem Autor/Künstler (F. de Rojas, Lucrecia de León, Quevedo, Calderón, Goya, Galdós, A. Machado, García Lorca, Dalí). Zudem ist die Hälfte der Monographien vor 20 und mehr Jahren publiziert worden, keine einzige nach 2006 erschienen. Von den sechs Studien mit breiterer Perspektive fokussieren drei das Mittelalter und die frühe Neuzeit, eine das 20. Jahrhundert; lediglich zwei Bücher bieten einen umfassenden historischen Überblick über Träume in der spanischen Literatur.

1999 im prestigevollen Madrider Wissenschaftsverlag Cátedra publiziert, präsentiert El sueño literario en España: consolidación y desarrollo del género von Teresa Gómez Trueba die bislang umfassendste Darstellung des Traumes in der spanischen Literatur. Im einleitenden Kapitel werden die Prätexte der klassischen Antike und des europäischen Mittelalters (u.a. Roman de la Rose, Macrobius, Divina Commedia, Boccaccio) benannt und die Relevanz der allegorischen, religiösen und Liebes-Motive in den Träumen seit der mittelalterlichen iberischen Lyrik und Prosa (z.B. Marqués de Santillana, Juan de Mena) betont. Dabei fasst Gómez Trueba die untersuchten literarischen Träume nicht als Motiv, sondern als Gattung mit den folgenden Charakteristika: markiertes Träumen von literarischen Figuren; das Motiv der Traumreise als zweifache Öffnung von Aussagemöglichkeiten (Betonung der textuellen Fiktionalität durch den Traum; Entdeckung neuer Regionen/Sinnsetzung durch die traumhafte Reise in ein Anderswo) sowie, verstärkt seit den Traumsatiren Quevedos, Sozialkritik, didaktische Ausrichtung, Wissensübermittlung und moralische Belehrung (Quevedo, Saavedra Fajardo, A. López de Vega, Polo de Medina etc.). Ab dem 18. Jahrhundert finden sich zunehmend ‚wissenschaftliche Traumreisen‘ in fremde Welten/Sphären (insbes. Torres Villarroel) auf die im 19. Jahrhundert der Übergang zur Science Fiction folgt (u.a. Castillo y Mayone, Enrique Gaspar).

Die sehr kenntnisreiche, sorgfältig recherchierte und eloquent formulierte Studie vermag damit die Kontinuität der Gattung vom spanischen Mittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nachzuweisen. Hier schließt die Autorin ihr (detailliert vorgestelltes) Korpus mit der Begründung, ab der Romantik trete das Unvorhersehbare des Traumes als neues (auch ästhetisches) Charakteristikum auf und löse die bisherige Gattungstradition zunehmend ab. Führen der gewählte thematische Zugriff wie die breite diachrone Perspektive zu ebenso originellen wie überzeugenden Befunden, beeinträchtigt die unklare Gliederung der Arbeit ein wenig die Überzeugungskraft der Argumentation. So fallen innerhalb der Kapitel anachronistische Beispielfolgen auf, die die vorgenommenen Einteilungen zuweilen verunklaren, zugleich öffnet die Gesamtanlage der Arbeit Wiederholungen die Tür, indem dieselben Beispiele (von insgesamt 40 Autoren) unter unterschiedlichen Aspekten immer neu aufgegriffen werden. Weiterhin sind eine sehr starke Zentrierung auf Quevedo sowie die (schon im Titel nicht markierte) Gleichsetzung von literarischem Traum mit der literarischen Traumreise markant. Kapitel drei vertieft die zuvor skizzierten Merkmale der literarischen Traumreise und ihrer Funktion für das Erzählen. Hierzu wird zunächst das Spektrum des Traumwissens in Spanien entfaltet, wo klassische europäische Traumtheorien (Cicero, Platon, Artemidor, Macrobius) rezipiert und um eigene Bearbeitungen (Juan Luis Vives, Montaña de Montserrate u.a.) erweitert wurden. Weiterhin stehen hier die in literarischen Träumen bereisten Räume (Kosmos, Hölle, mythische Welten, fremde Länder etc.), die Protagonisten der Reiseträume (Autor, ein Cicerone, allegorische Figuren) sowie das erzählte Aufwachen im Zentrum der ästhetisch gestalteten Träume. Nach einer kurzen Zwischenbilanz in Kapitel vier (welches Quevedo überzeugend als ‚Scharnier‘ der spanischen Traumliteratur bewertet), folgt in Kapitel fünf eine Auseinandersetzung mit der in Spanien so dominanten Entmythisierung und Parodie des Traumes, die in eine sehr prägnante Analyse der Episode der ‚Höhle des Montesinos‘ im Quijote führt. Kapitel sechs ist dem Resümee der gesamten Arbeit gewidmet, betrachtet jedoch auch neue Aspekte hinsichtlich der Funktion des literarischen Traumes (Traum als – anderer – Zugang zu Realität und Wahrheit, als Wahrscheinlichkeitsillusion, als Vorwand zur Inhaltsakkumulation, als Ermöglichung der Ambiguität zwischen Realem und Geträumtem). Ein aussagekräftiger Fußnotenapparat und die gut einhundert Titel umfassende Bibliographie der Sekundärliteratur sichern die Arbeit wissenschaftlich ab und bieten einen exzellenten Fundus für weitere Studien.

Insgesamt ist die Publikation trotz der dargelegten Kritik als aktuellste und umfassendste Studie zum literarischen Traum in den iberischen Traumkulturen eine unverzichtbare Referenz und zur Lektüre unbedingt zu empfehlen. Zugleich zeigt sie auch, dass eine Überblicksdarstellung des Traumes in der neueren spanischen Literatur nach wie vor aussteht.

Burkard Freiherr von Dörnbergs Monographie Traum und Traumdeutung in der alten Kirche: die westliche Tradition bis Augustin aus dem Jahre 2008 stellt eine historisch-kritische Untersuchung von Aussagen zum Traum dar. Untersucht werden lateinischsprachige christliche Autoren (Tertullian, Cyprian, Minucius Felix, Arnobius, Laktanz, Ambrosius, Prudentius, Hieronymus; Augustin bleibt ausgespart), Märtyrerberichte (Passio Perpetuae, wahrscheinlich von Tertullian redigiert, sowie Passio Mariani und Passio Montani, beide in Nordafrika entstanden) und Heiligenviten (Hieronymus’ Viten der Einsiedler Paulus und Hilarion sowie die Vita Martini des Sulpicius Severus).

Das Unplanbare und Ambivalente des Traumes, das sich die Literatur seit jeher zunutze macht, wird auch in christlichen Äußerungen deutlich. Seit Tertullian folgen sie einer pagan-antiken Dreiteilung der Träume: Sie stammen entweder von Gott, von den Dämonen oder von der Seele. Diese Einteilung geschieht jedoch nicht ohne Variationen: Von Gott können nur wahre Träume stammen; Träume mit problematischem Inhalt werden als Gefährdung der christlichen Selbstabgrenzung von der griechisch-römischen Umwelt sowie als Gefährdung des christlichen Lebenswandels wahrgenommen. Nach von Dörnberg lässt sich die gängige These einer generellen Skepsis gegenüber Träumen und Visionen in der werdenden Großkirche nicht halten, so sehr etwa bei Hieronymus auch biblische traumkritische Texte virulent werden. Im Gegenteil: Christliche Autoren verwenden pagan-antike Motive, um ihre Anliegen zu unterstreichen, wie von Dörnberg an Laktanz, Ambrosius und Prudentius nachweist. Laktanz greift das pagan-antik wie jüdisch belegte Motiv „Träume vor einer Schlacht“ auf, um die entsprechenden Träume von Konstantin und Licinius zu beschreiben; Ambrosius weiß antike Traumtheorien in der Trauer um seinen verstorbenen Bruder als Wahrheitsbeweis für die Lehre von der Totenauferstehung nutzbar zu machen; Prudentius greift Motive von Pythagoras und Platon auf, um zu einer entschieden christlichen Lebensführung zu mahnen. In Analogie dazu sind Mahnungen zur Wachsamkeit der spezifisch neutestamentliche Beitrag dazu, Christen zu positiver Lebensführung zu bewegen. Cyprian verallgemeinert dies: Seine umstrittene Autorität stärkt er nicht mit Träumen, sondern mit Visionen, bei denen keine Täuschung möglich sei.

Auch in Märtyrerberichten haben Träume bestimmte Funktionen für eine textexterne Aussage: Die Schilderung der Mühen des Martyriums und die Verherrlichung der Märtyrer intendieren eine Festigung christlicher Glaubensgewissheit, die sich gleichwohl der Gefährdungen des eigenen Christseins (in Richtung Abfall vom Glauben) bewusst ist. Träume haben häufig Zukunftsansagen zum Inhalt, wie etwa der Aufstieg des Märtyrers zum Himmel oder Paradiesschilderungen. Es treten Gott bzw. Christus als guter Hirte, Richter oder Herrscher auf, daneben andere Märtyrer, die den Sterbenden feierlich ins Paradies einholen und am himmlischen Gericht beteiligt sind. Biblische Glaubenshelden hingegen sind nicht zu finden. Sind in paganer Antike speziell sozial hochgestellte Personen Empfänger von Träumen, so wird dies im Christentum vornehmlich, aber nicht exklusiv auf Märtyrer übertragen. Die Nähe zu Gott ist entscheidend, ohne allerdings konkret an bestimmte Bedingungen gebunden zu sein.

Der materialreiche Band zeichnet ein plausibles Bild antiker christlicher Traumtexte, das auch durch andere Untersuchungen zur griechischsprachigen christlichen Literatur bestätigt wird. Methodisch richtig ist, dass die literarische Stilisierung von Traumberichten den unmittelbaren Zugriff auf das reale Erleben von Träumen nicht erlaubt und dass die äußeren Umstände (Infragestellung des Christentums vor 313 vs. Problem entschiedener christlicher Lebensführung nach 313) auch die Darstellung und Bewertung von Träumen beeinflussen. Pagane Analogien sind von Dörnberg ständig präsent; genealogische Ableitungen werden, dem Quellenbefund entsprechend, nur selten expliziert. Abgeschlossen wird das Buch durch eine Bibliographie sowie durch ein Register der Bibelstellen und ein Personenregister. An dem ganzen Band bedauert man lediglich, dass pagan-antike Quellen nicht registriert sind.

Pagan-antike und christlich-spätantike Traumtheorien spielen, wie eine weitere Monographie zu historischen Traumdarstellungen zeigt, besonders in der mittelalterlichen Literatur eine bedeutende Rolle. Gabriela Cerghedean liefert mit ihrer 2006 publizierten Studie Dreams in the Western Literary Tradition with Special Reference to Medieval Spain: A Method for Interpreting Oneiric Texts ein methodisches Verfahren zur Interpretation von Traumdarstellungen in literarischen Texten des spanischen Mittelalters. Das Werk ist in drei große Kapitel unterteilt. Der erste Teil stellt zunächst pagan-antike und christlich-spätantike Traumtheorien vor, angefangen bei Homer und Hesiod, über die griechisch-römische Tradition, Platon, Aristoteles, den Neuplatonismus bis hin zu den Kirchenvätern, wobei die Autorin hier fälschlicherweise Tertullian hinzunimmt. Anschließend befasst sich ein weiterer Abschnitt mit der Traumbuchtradition und den Traumtheorien des lateinischen Mittelalters vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, exemplarisch vorgestellt anhand ausgewählter Textpassagen aus Schriften von Thomas von Aquin, Johannes Gerson, Jacob Sprenger und Heinrich Kramer. Der mittlere Teil behandelt in zwei Unterkapiteln Traumtheorien in spanischen Traktaten des 7. bis 16. Jahrhunderts. Die Autorin stellt ausgewählte Werke von Isidor von Sevilla, Raimundus Lullus, Arnald von Villanova, Fray Lope de Barrientos und Pedro Ciruelo vor, sowie einige Rechtsquellen und Texte der Katechese, zum Beispiel das Libro de miseria de omne. Im dritten und letzten Kapitel stehen schließlich literarische Werke des spanischen Mittelalters im Vordergrund. Das Korpus zu untersuchender Texte setzt sich zusammen aus 22 Werken vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, wobei die Analyse insgesamt 33 Traumbeschreibungen umfasst.

Die Auswahl der Autorin beinhaltet Werke verschiedener Gattungen, sowohl lateinische, als auch volkssprachliche Texte: Sie umfasst Versepik und Erzählungen (z.B. die Erzähltradition zum Leben des spanischen Helden El Cid), Lyrik (z.B. Liebeslyrik von Jaufre Rudel, Bernart de Ventadorn, Johan Soairez Somesso), Hagiographie (z.B. Berceos’ Vida de Santo Domingo de Silos und Vida de Santa Oria) und Visionsliteratur (Visión de Alfonso X) und Balladen (Romance de Dona Alda und Romance del conde Grimaltos y su hijo). Für ihre Untersuchungen greift Gabriela Cerghedean immer wieder explizit auf Steven F. Krugers Dreaming in the Middle Ages (1992) zurück. Krugers Strukturmodell zur Analyse traumtheoretischer Texte ordnet Traumtheorien aus Antike und Mittelalter in eine hierarchische, vom unbedeutenden Tagesrest bis zum prophetischen Traum reichende Skala ein, die zusätzlich zwischen äußeren und inneren Traumursachen unterscheidet. Dieses Modell bildet für die Autorin die methodische Basis ihrer Ausführungen. Generell ist jedoch zu beachten, dass Kruger Texte untersucht, die bereits selbst Traumtypologien enthalten.

Die Erörterung der traumtheoretischen Texte im zweiten Kapitel bleibt leider hinter der Analyse der literarischen Werke zurück. Nicht immer gelingt es der Autorin, die vorhandenen und die möglicherweise nicht-vorhandenen Bezüge zwischen traumtheoretischen und literarischen Texten in zufriedenstellender Weise herauszuarbeiten. Das Verhältnis zwischen Traumtheorien und ihrer literarischen Ausprägung erfährt keine klare Problematisierung, weil die Autorin keine Bezüge zwischen den spanischen Traumtheorien und den literarischen Werken herstellt, sondern das Kruger’sche traumtheoretische Modell und das Kategorisierungssystem aus Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis auf ihre Literaturauswahl anwendet. Zudem kommt die Besprechung vieler Werke nicht immer über eine inhaltliche Rekapitulation hinaus. Aber da sich das Vorhaben der Autorin auf einen langen Epochenzeitraum und unterschiedliche Textgattungen erstreckt, ist es durchaus nachvollziehbar, dass nicht alle behandelten literarischen und traumtheoretischen Texte mit der gleichen Ausführlichkeit bedacht werden können. Die Stärke der Studie kommt immer dann zum Tragen, wenn es der Autorin gelingt, bei der Analyse der Werke literarische Traditionszusammenhänge aufzuzeigen und die Texte in ihren jeweiligen historischen Kontext einzuordnen. Als Resümee lässt sich daher trotz einiger Vorbehalte festhalten, dass gerade der Überblickscharakter der Studie einen guten Einstieg in das Thema von Traumtheorien im Mittelalter bietet.

Inwiefern theologische und philosophische Konzepte des Träumens mit literarischen Traumdarstellungen verbunden sind, zeigen zahlreiche weitere Arbeiten. So widmet sich beispielsweise die Literaturwissenschaftlerin Sylviane Bokdam in ihrer nahezu 1.100 Seiten umfassenden Studie Métamorphoses de Morphée: théories du rêve et songes poétiques à la Renaissance, en France aus dem Jahre 2012 dem Traum in der französischen Dichtkunst der Renaissance-Zeit. Ihr zentrales Anliegen ist die Konturierung einer literarischen Gattung namens songes poétiques, deren interessante Merkmale sie weniger in konkreten Trauminhalten bzw. Traumgesichten als in der poetischen Form und ihrer Funktionalität erkennt. Bokdam untersucht die Entwicklung und Funktion des poetischen Traumes im 16. Jahrhundert, um zu verstehen, warum und wie die menschliche Erfahrung des Träumens in dieser Zeit zu einer lyrischen Form wird und in welcher Verbindung diese Form zu den ihr eingeschriebenen bzw. von ihr reflektierten Themen und Problematiken steht. Überzeugend wird aufgezeigt, dass die Poetik des Traumes in der französischen Renaissance eine Meta-Poetik darstellt, die neben im engeren Sinne literarischen Fragen auch solche – und zwar wesentliche – philosophischer und theologischer Natur verhandelt.

Die 24 Kapitel umfassende Studie gliedert sich in einen ersten relativ kleineren Teil, in dem Bokdam das breite Spektrum der in der Renaissancezeit virulenten Traumtheorien darlegt, um vor dem Hintergrund den mit diesen vielfältigen Diskursen in Verbindung stehenden, aber eben auch distinkten poetischen Traum zu erforschen. Ihm bzw. der Poetik des Traumes ist der zweite Teil der Untersuchung gewidmet. Bokdam betrachtet hier ausschließlich lyrische Werke und berücksichtigt dramatische oder Prosa-Texte gar nicht. Nach einer Diskussion des literarischen Traum-Erbes aus dem europäischen Spätmittelalter, wozu insbesondere der französische Roman de la Rose und die Trionfi Francesco Petrarcas, aber auch neulateinische Dichtungen in der Tradition Ovids zählen, situiert Bokdam die französische Lyrik „am Scheideweg“ zwischen italienischen Vorbildern (neben Petrarca vor allem die Hypnerotomachia Poliphili) und vernakularen Ambitionen. Die Wahl und der Umgang mit der Sprache und die Bedeutung der Wörter – gegenüber den Bildern – treten als wichtige Problemfelder des poetischen Traumes hervor und können auch Argumente innerhalb eines historiographischen Motivs darstellen. Detaillierte Textanalysen widmet Bokdam der den Traum paradigmatisch integrierenden Liebeslyrik von Maurice Scève, Pontus de Tyard, Jacques Péletier und Louise Labé sowie den Dichtern der Pléiade, hier vor allem Ronsard. Der songe de plaisir tritt als eine eigene Gattung der französischen Liebesdichtung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hervor. Visionäre und allegorische Träume haben schwankende Konjunkturen, letztere geraten zu mitunter wichtigen Versatzstücken in der konfessionellen Auseinandersetzung.

Bokdams Untersuchung bestätigt, dass der Traum in der Renaissancezeit auch in Frankreich ein Gegenstand intensiver Reflexion war und für unterschiedliche Disziplinen eine starke intellektuelle Herausforderung darstellte. Zwar formulierte die französische Renaissance keine wirklich neue Theorie des Traumes, und der Einfluss von Marcilio Ficinos Ideen scheint überschätzt. Diese eher eklektizistische Diskurslage erlaubte es der Dichtkunst jedoch einen eigenen Beitrag zu liefern – ohne dass sich hier lineare Entwicklungslinien oder starre Gattungsgrenzen aufzeigen ließen. Vielmehr gibt es – so Bokdam – eine „cartographie mouvante de petits genres ou sous-genres“ des songe poétique, von denen einige auch verschwanden, wie der in der Regierungszeit Franz’ I. aufkommende Traum als Dialog zwischen Lebenden und Toten.

Die Poetik des Traumes reflektiert grundsätzliche Fragen, die den Status der Bilder, ihre Macht zu bezaubern und zu täuschen ebenso betreffen wie die Rolle des Dichters in philosophischen Debatten über Realismus und Nominalismus und die Konstitution des träumenden respektive auktorialen Subjekts. Es ist das große Verdienst von Bokdams Studie, dieses Potenzial nicht nur aufgezeigt und im historischen Diskurskontext verankert, sondern auch dessen tatsächliche Manifestation in konkreten songes poétiques differenziert herausgearbeitet zu haben. Seitens der Kunstgeschichte wünschte man sich, mehr über die medialen Qualitäten der in der Dichtung evozierten Traumbilder und ihren Bezug zu bildkünstlerischen Arbeiten der Zeit zu erfahren. Ausgehend von dem kapitalen Werk Sylvaine Bokdams sollten entsprechende Untersuchungen fundiert anzustellen sein.

Ebenfalls der vormodernen Traum-Poesie, nämlich dem erotischen Traum in der spanischen Barocklyrik, widmet sich der mexikanische Philologe Antonio Alatorre in seiner 2003 erschienenen Arbeit El sueño erótico en la poesía española de los siglos de oro. Bereits der Titel deutet an, was der Band mit beeindruckendem Material belegt: Nicht alles körperliche Begehren wurde von der gestrengen gegenreformatorischen Zensur der Inquisition aus der Literatur getilgt; ganz im Gegenteil boten die Gattung der Lyrik und das Motiv des Traumes einen idealen Deckmantel für die Artikulation von Sinnlichkeit. Die von Alatorre während seiner langjährigen Lehr- und Forschungstätigkeit zusammengetragene Sammlung umfasst 170 Gedichte in überwiegend kastilischer Sprache. Der Band richtet sich an Fachkolleg/innen und interessierte Laien zugleich und will als kommentierte, chronologisch präsentierte Anthologie verstanden sein, die zum Nachvollzug der Entwicklung des erotischen Traum-Motivs der spanischen Barockdichtung einlädt. Es stehen damit weder eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Ideenwelt, noch eine dezidierte Traum-Theorie im Vordergrund; Alatorre verweist lediglich auf die Problematik, die aus der Polysemie des spanischen Wortes sueño entsteht, welches zugleich „Traum“ und „Schlaf“ bedeutet, und bietet die folgende, sehr allgemeine Definition: „los sueños son ficción, irrealidad, mentira; [] hay sueños bonitos y sueños espantosos, etc.“ (13).

Die im Hauptteil dargebotenen, persönlich gehaltenen und gut lesbaren explications de texte setzen mit dem ersten erotischen Traum in der spanischsprachigen Dichtung ein, einem spätmittelalterlichen Text des (jüdischen) Autors Sem Tob. Auf die „alte kastilische Literatur“ folgen „die Schule von Boscán und Garcilaso“, Gracián und die „Manieristen“, die erotischen Liebesträume in den Zeiten von Góngora, Lope de Vega, Quevedo und schließlich der Spätbarock mit seiner portugiesischen Rezeption spanischer Traum-Lyrik Ende des 17. Jahrhunderts. Alatorres Interpretationen bieten Erläuterungen zu Inhalt, Form und Gattungen der einzelnen Texte und zeigen detailreich die Verflechtung der spanischen Lyrik mit dem Kanon der abendländischen Literatur auf (klassische Antike, humanistische Tradition, italienische Lyrik mit Dante, Petrarca, Fiorentino, Tasso u.a.). Als wiederkehrende Traummotive werden, neben der Liebeshoffnung und -enttäuschung, die Sehnsucht nach der körperlichen Nähe der Geliebten, die sinnliche Zusammenkunft und der Trennungsschmerz genannt. Weitere Themen sind die mystische a lo divino-Lyrik und der Schlaf/Traum als Ruhen des Lebens bzw. Tod. Zuletzt widmet sich der Autor den Grenzerscheinungen des Traumes (Tagträumen, Phantasien, Visionen) sowie anderen ‚Sonderfällen‘, unter die das weibliche lyrische Ich, die cervantinische Ironie, die mexikanische Barocklyrik und nicht zuletzt obszöne Darstellungen (erst ab dem späten 18. Jh.) fallen. Das Fazit gibt Hinweise auf weitere 20, nicht mehr zugängliche Gedichte. Es folgt ein Anhang mit einer Bibliographie der Primärliteratur und einem Namensregister; eine Zusammenstellung der verwendeten Sekundärliteratur fehlt bedauerlicherweise.

Wenn auch Traum-Ästhetik und -Theorie nicht Gegenstand dieser Publikation von Antonio Alatorre sind, so bietet der Band doch mit seiner auf Vollständigkeit abzielenden Textsammlung einen sehr informativen, materialreichen Einstieg in die Geschichte der imposanten erotischen Traum-Lyrik in Spanien und kann somit ein idealer Ausgangspunkt für neuere Studien unter einer aktuelleren Forschungsperspektive sein.

Ganz anders ist der Ansatz, den Herbert Fritz in seinem Überblick über die Verwendung des Traummotivs im spanischen Drama des 20. Jahrhunderts verfolgt. In seinem Buch Der Traum im spanischen Gegenwartsdrama: Formen und Funktionen von 1996 versteht er Traum zunächst in einem engen Sinne als ein Ereignis im Schlaf. Am Beispiel einer Vielzahl derartiger dramatischer Träume unternimmt er den Versuch einer Typologisierung von Formen und Funktionen der Traumdarstellung im 20. Jahrhundert.

Als theoretische und historische Basis seiner Untersuchung skizziert Fritz zunächst knapp psychoanalytische Traummodelle (Freud, Adler, Jung, Garma, Fromm) und gibt zudem einen etwa 25 Seiten umfassenden stoff- und motivgeschichtlichen Überblick über Traumdarstellungen in der (spanischen) Literatur von Antike und Bibel bis Ende des 19. Jahrhunderts. Im Hauptteil seiner Arbeit unterzieht Fritz sein umfangreiches Korpus in drei größeren Unterkapiteln textimmanenten Analysen, um Formen, Funktionen und Typen dramatischer Traumdarstellungen im 20. Jahrhundert abzuleiten. Die Form betreffend unterscheidet er zwischen narrativ vermittelten Träumen, die nachträglich erzählt werden, und szenisch vermittelten Träumen, die sich unmittelbar als Geschehen ereignen. Anschließend untersucht Fritz die strukturellen Aspekte der Traumverwendung und beschäftigt sich mit der Funktion des Traumes innerhalb des dramatischen Kommunikationssystems, den Möglichkeiten, die der Traum für die Perspektivierung eröffnet, sowie dem Traum als Mittel zur Selbstcharakterisierung. Ausführlicher wird die Rolle des Traumes im Handlungsablauf besprochen: Als Auftakt schafft der Traum eine Atmosphäre für das nachfolgende Geschehen; als Exposition vermittelt er für die Handlung relevante Informationen zur Vorgeschichte; genauso kann er aber auch eine vorausdeutende Funktion haben. Als inszenierter Traum verändert er zudem die Relation der Zeitebenen, indem er Spielzeit und gespielter Zeit die Traumzeit als eine weitere Zeitebene hinzufügt. Im dritten Unterkapitel erarbeitet Fritz auf Grundlage der anfangs skizzierten psychoanalytischen Traummodelle eine Typologie zehn verschiedener Traumtypen. Die Typen können dabei auf Traumarten verweisen, wie Tag- oder Alp- bzw. Angstraum, oder aber einen spezifischen Aspekt aufgreifen, wie Todes- oder Gewissenstraum. Andere wiederum bezeichnen nicht so sehr einen Typ, als vielmehr die (Aus-)Wirkung des Traumes auf den Fortgang der dramatischen Handlung, z.B. wenn der Traum eine kompensierende Funktion übernimmt oder ein Bild der existenziellen Befindlichkeit des Träumenden zeigt, aber auch wenn er als Bearbeitung eines traumatischen Erlebnisses, als Manifestation des Lebensstils oder als Entscheidungshilfe eingesetzt wird. Darüber hinaus benennt Fritz den Typ des intertextuellen Traumes.

Als Fritz’ Buch 1996 erschien, war das Traummotiv in der spanischen Literatur, insbesondere im spanischen Drama, wenig Gegenstand hispanistischer Forschung. Bis heute ist dies kaum anders. Um einen ersten Überblick zu gewinnen, ist das Buch daher geeignet, insbesondere ob des umfangreichen Anhangs, der ein sowohl chronologisch als auch alphabetisch sortiertes Werkverzeichnis enthält (auch über die besprochenen Dramen hinaus und samt Zuordnung zu einer bestimmten Darbietungsform). Darüber hinausgehende, eigene Anwendungsmöglichkeiten bietet Fritz’ Typologie jedoch nur bedingt. Zwar wird der Autor seinem Erkenntnisinteresse, inhaltliche und formale Aspekte der Traumdarstellung im Drama herauszuarbeiten, durchaus gerecht; die Abgrenzung seiner Typen untereinander ist aber nicht scharf und eindeutig genug, um als Analyseinstrument dienen zu können. Dies liegt vor allem daran, dass die Abgrenzungen nicht nach einheitlichen Kriterien erfolgen und die Typen entweder Traumarten oder aber deren Funktion innerhalb der Handlung bezeichnen. Eine Analyse dramatischer Traumdarstellungen, die über die rein inhaltlich-formale Beschreibung hinausginge, kann mit dem von Fritz bereitgestellten Instrumentarium nicht geleistet werden. So zeigen seine abschließenden Beispielanalysen von Buero Vallejos La doble historia del Doctor Valmy und José Luis Alonsos El álbum familiar dann auch, dass die eigentliche Interpretationsarbeit noch zu tun ist.

Aus den diversen Beiträgen zu dieser Sammelrezension wird ersichtlich, dass aufgrund der sowohl historischen als auch kulturraumspezifischen Breite sowie der wissensgeschichtlichen Komplexität ästhetischer Traumdarstellungen eine langfristige und breit angelegte Verbundstruktur ein besonders geeigneter Arbeitskontext für innovative Forschungen auf dem Gebiet europäischer Traumkulturen ist. Innerhalb eines solchen interdisziplinären Rahmens kann die kulturwissenschaftliche Traumforschung systematisch vorangetrieben und synthetisiert werden. Um diesem Anliegen gerecht zu werden, kooperieren die Autor/innen dieses Beitrags als Doktorandinnen, Antragstellerinnen und assoziierte Wissenschaftler im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“ (GRK 2021) seit April 2015 an der Universität des Saarlandes. Auf diese Weise sollen die eingangs skizzierten Fragestellungen gemeinsam in einem auf zunächst drei- bzw. viereinhalb Jahre angelegten Projekt bearbeitet und die daraus entstehenden Synergieeffekte wiederum für die individuelle Forschungsarbeit genutzt werden. Innerhalb des Graduiertenkollegs bereiten derzeit 17 Promovierende ihre Dissertationsschriften vor und erforschen zusammen mit 18 etablierten Traumforscher/innen, zahlreichen internationalen Gastwissenschaftler/innen und Fellows Ästhetik, Medialität und Kulturgeschichte des Traumes vom Mittelalter bis zur Gegenwart mit einem Fokus auf Träume in Literatur, Malerei, Theater, Musik und Film.

Ein erster, in enger Zusammenarbeit entstandener Band über Traumwelten: Interferenzen zwischen Text, Bild, Musik, Film und Wissenschaft, der von Patricia Oster und Janett Reinstädler herausgegeben wurde, erscheint in Kürze in der kollegeigenen Schriftenreihe „Traumkulturen“ des Paderborner Fink Verlags erschienen. Hier gehen Mitglieder des Saarbrücker Graduiertenkollegs in 15 Beiträgen theoretisch-methodischen Fragen der Traumforschung nach, indem sie sich aus interdisziplinärer Perspektive mit der Geschichte der europäischen Traumkulturen befassen. Nähere Informationen zu Forschungsprogramm, wissenschaftlichen Aktivitäten, Kulturveranstaltungen und Beteiligten finden sich unter http://traumkulturen.de. Darüber hinausgehende Fragen beantworten die Koordinatorin Ramona Weber und die Sprecherin des Graduiertenkollegs Christiane Solte-Gresser.

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Bibliographie

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