Zu Rolf Lohse, Renaissancedrama und humanistische Poetik in Italien
Bernhard Huß
Rolf Lohse, Renaissancedrama und humanistische Poetik in Italien, Humanistische Bibliothek, Ser. I 64 (München: Fink, 2015), 722 S.
Gemessen an seiner europaweiten und globalen Rezeptionswirkung hat man das italienische Renaissancedrama und insbesondere die als schwierig und sperrig geltende, vermeintlich ‚misslungene‘ Cinquecento-Tragödie in der Forschung nicht ausreichend gewürdigt. Viele althergebrachte Verdikte den rinascimentalen Dramentexten gegenüber bleiben ebenso oberflächlich und sind ebenso uninformiert wie zahlreiche allgemeine Aussagen über die frühneuzeitliche Dramentheorie Italiens. Insofern ist eine umfassende Studie wie die hier von Lohse vorgelegte nur zu begrüßen, die zum einen die Theaterpraxis der Renaissance in den Sparten Tragödie, Komödie, Tragikomödie und ‚ruralem‘ Drama detailliert darstellen möchte, sich zum anderen eine fundamentale Neubeschreibung der einschlägigen historischen Literaturtheorie vornimmt. Ein diesbezügliches Hauptanliegen der Studie ist es, der Frage nachzugehen, „auf welcher dramentheoretischen Grundlage sich das italienische Theater im 16. Jahrhundert hinsichtlich der Gattungsdifferenzierung entwickelt“, und dabei „die fast einhellige Meinung“ zurückzuweisen, „das Theater des 16. Jahrhunderts sei auf der Grundlage der aristotelischen Poetik entstanden“ und daher sei „die dramatische Dichtung der Renaissance […] als eine Anwendung der Poetik des Aristoteles zu verstehen“ (14). Lohse möchte demgegenüber beweisen, dass die aristotelische Poetik nicht nur „nicht der alleinige“, sondern „auch nicht der ausschlaggebende dichtungstheoretische Bezugstext“ (14) für das rinascimentale Theater gewesen sei – besonders virulent ist dies erwartungsgemäß hinsichtlich der Relation von rinascimentalem ‚Aristotelismus‘ (von dem Lohse lieber gar nicht sprechen möchte, vgl. bes. 79–80 und s. auch 92–3) und der Gattung Tragödie.
Lohse schickt seiner überaus umfangreichen Untersuchung eine ausführliche „Einleitung“ voraus, in der er u.a. zunächst die Gliederung der Arbeit vorstellt, sodann den Forschungsstand ausführlich referiert, ferner zum Corpus der für den zweiten Hauptteil der Arbeit zur Darstellung ausgewählten rund hundert Stücke Auswahlkriterien darlegt.
Im ersten Hauptteil stellt er sodann „Konkurrierende dramentheoretische Modelle“ vor. Einem umfänglichen Angriff auf die ‚Aristotelismusthese‘, in dem in einem für die Arbeit auch sonst charakteristischen repetitiven Gestus nochmals – wie schon im Forschungsbericht der Einleitung – präsumptive Hauptvertreter jener These wie Joel Elias Spingarn1 und Bernard Weinberg2 kritisch angegangen werden, folgt eine sehr ausführliche Darstellung der „Phasen der dramentheoretischen Reflexion im 16. Jahrhundert“, von der Dichtungstheorie des ausgehenden Quattrocento bis hin zur Theoriebildung des späteren 16. Jahrhunderts und einer Darstellung einiger ihrer bevorzugten Themen und zentralen Aspekte (affektische Wirkung der Dramatik, Katharsis, Gattungsprofile, Stoffwahl, Regelkonformität vs. Nonkonformismus).
Der zweite Hauptteil bietet in bislang ungekannter Ausführlichkeit eine Darstellung zum „Gattungsspektrum des weltlichen italienischen Theaters“, gegliedert nach den Gattungen Tragödie, Komödie, Tragikomödie und den ‚rural-dramatischen Gattungen‘, bei denen Lohse vor allem die extreme Vielfalt der gattungshaften Ausprägungen von ruraler (also im ländlichen Handlungsraum situierter) Dramatik hervorhebt: Er unterscheidet Egloga, Comedia, Tragedia, Pastorale, Satira, Favola, Tragicomedia und nimmt an den zahlreichen diskutierten Stücken zwischen Polizianos Favola di Orfeo (1480) und Guarinis Pastor fido (1590) sowie Porzio Mariis Mal premiati amori (1595) Feinunterscheidungen vor, die sich für eine zukünftige literarhistorische Gesamtdarstellung wohl nur zum Teil als produktiv erweisen dürften (Tassos Aminta etwa wird v.a. aufgrund seiner eigenen Gattungsbezeichnung ‚favola boschereccia‘ und der Tatsache, dass Tasso nicht einen Liebesreigen, sondern eine einzige Liebeshandlung in den Mittelpunkt stellt, aus dem Spektrum der favola pastorale herausgenommen; vgl. bes. 612–6). Allerdings ist die Darstellung in der Eindringlichkeit ihrer Insistenz auf der Vielgestaltigkeit der historischen Gattungsphysiognomie ebenso überzeugend wie sie nützlich ist durch die weitgehend paraphrastische und beschreibende Aufbereitung der historischen Primärtexte, die heutzutage viel zu wenig noch zur Kenntnis genommen werden. In der Erschließung von viel bislang ungenutzt gelassenem Material liegt die besondere Stärke und Leistung des zweiten Hauptteils. Die 107 von Lohse detailliert beschriebenen Texte beinhalten auch die bekanntesten Stücke. Allerdings lässt die Darstellung auch Dramen weg, die historisch starke Aufmerksamkeit erregt haben und auch in der Dramentheorie besprochen werden (wie die Semiramis von Muzio Manfredi) oder die darüber hinaus dramenpoetologisch gerade im Kontext der Aristotelismusfrage aussagekräftig sind (wie die Tragödien von Luigi Groto3). Letztlich unklar bleibt, warum Lohse neben der ausführlichen Liste jener 107 Stücke noch einen detailliert begründeten ‚Kanon‘ der Dramen des 16. Jh.s aufstellt (60–6; dazu gehören Texte, die mehrfach in Anthologien aufgenommen worden bzw. in einer Reihe von Literaturgeschichten behandelt worden sind), obwohl er selbst ausdrücklich sagt: „Bei den Recherchen konnte […] kein verbindlicher Kanon ermittelt werden“, weswegen man nur von einem ‚impliziten Kanon‘ sprechen könne (60). Tatsächlich ist es ja eine Besonderheit der Renaissancedramatik, dass abgesehen von pro Gattung jeweils etwa einer Handvoll Stücken (dazu gehören sicherlich: Sophonisba, Orbecche, Canace; Calandria, Mandragola, Cortigiana; Aminta, Pastor fido) keinerlei kanonische Konstanz entstanden ist, noch nicht einmal hinsichtlich theatergeschichtlicher Meilensteine wie des aus dem Griechischen übertragenen Edippo tiranno von Orsatto Giustiniano, mit dem 1585 das Teatro Olimpico in Vicenza eingeweiht wurde, oder hinsichtlich von epistemologisch extrem bedeutsamen und komplexen Stücken wie Tassos Re Torrismondo (1587). Wo Kanonizität so instabil oder inexistent ist, kann es kaum sonderlich sinnvoll sein, sich gegen sie durch „Berücksichtigung nicht kanonischer Dramen“ (66, vgl. 60) vorzusehen.
Der erste Hauptteil der Arbeit ist insofern nicht mit einer ‚neutralen‘ Darstellung und Analyse der rinascimentalen Dramentheorie befasst, als er sich bemüßigt fühlt, unablässig gegen die Dominanz der ‚Aristotelismusthese‘ in der Forschung anzugehen. Diese These wird dabei zunächst nicht nur durch eine Auseinandersetzung mit grundsätzlich wichtigen Werken wie den Studien und Materialeditionen von Spingarn und Weinberg ermittelt und herausgearbeitet, sondern insbesondere dadurch, dass die literarhistorischen Einschätzungen der Cinquecento-Poetik eingehend referiert werden, die sich durch die letzten rund 400 Jahre verfolgen lassen; Lohse (27) beginnt seine einschlägige Darstellung mit den akademischen Lezzioni von Benedetto Varchi (Gesamtausgabe 1590). Beunruhigend kann man das Ergebnis nennen, dass bis heute gravierende Fehlinformationen über die Aussageintention und die konkrete Argumentation der aristotelischen Poetik selbst kursieren – etwa die von Lohse natürlich mit Recht vielfach kritisch aufs Korn genommene Behauptung, Aristoteles sei der Begründer der Lehre von den drei Einheiten (des Ortes, der Zeit und der Handlung).4 Etwas weniger beunruhigend als Lohse selbst es darstellt ist dagegen der Zustand der aktuellen Forschungslage bezüglich der Frage, wie der poetologische Aristotelismus der Renaissance sich genau ausnahm und welche Bedeutung er für die Theaterpraxis des Jahrhunderts hatte. Lohses These ist zusammengefasst folgende: Die Forschung habe bis heute fast allenthalben ganz irrtümlich von einem Aristotelismus gesprochen, der die Dramentheorie des 16. Jahrhunderts als kohärenter Komplex in monolithischer Weise dominiert habe. Zudem habe die Forschung bezüglich der Dramenpraxis unablässig das falsche Klischee weiterverfochten, die Dramen des Cinquecento seien als Umsetzung jener als offenbar ziemlich kompakt zu denkenden aristotelischen Lehre des 16. Jahrhunderts entstanden. Richtig sei gegenüber diesen Irrtümern, dass die aristotelische Poetik nur in ausgewählten Bruchteilen für die Dichtungslehre des 16. Jahrhunderts überhaupt von Bedeutung sei, und auch nur insoweit, als sie in die von Lohse als ‚humanistisch‘ apostrophierte, eigentlich philologisch-rhetorisch perspektivierte und mit Lehren aus der Ars poetica des Horaz und ihrer Kommentartradition gekoppelte Dramentheorie eingebaut worden sei, die auf der Linie der Terenz-Kommentierung des Donat und des Euanthius-Textes De fabula liege (dazu treten Abschnitte aus Isidor von Sevillas Etymologiae B. 8, aus der Ars grammatica des Diomedes, aus mittelalterlichen Theoretikern bis hin zu Dantes Cangrande-Brief). Diese ‚humanistische‘ Dramenpoetologie, die seit dem ausgehenden Mittelalter in der Tat ein dichtungstheoretisches Allgemeinwissen darstellte, dessen übersichtliche Schlichtheit Lohse auf sehr wenigen Seiten präzise zusammenfassen kann (121–30), sei das eigentliche Fundament der rinascimentalen Dramenpoetologie und letztlich auch der Theaterpraxis der Zeit.
Hier sind einige kritische Bemerkungen angezeigt: Zunächst scheint die Etikettierung der spätantik-mittelalterlichen Gattungsauffassung von Tragödie und Komödie als ‚humanistisch‘ (die dem Buch auch zu seinem Titel verhilft) etwas fehl am Platz; vielleicht ist ‚lateinhumanistisch‘ gemeint, aber in jedem Fall wirft dieser Terminus die Frage auf, inwiefern die aristotelisierende Dichtungstheorie des Cinquecento nicht-humanistisch genannt werden müsste. Ferner hat Lohse zwar vollkommen Recht mit der Aussage, dass es keinen monolithischen Aristotelismus in der Dramentheorie des Cinquecento gibt, sondern die vielen hundert einschlägigen Texte der Theoretiker ein Set von Theoremen, die man aus der Poetik des Aristoteles entnehmen zu können glaubte, in jeweils ganz unterschiedlicher Weise mit grundsätzlichen Elementen vorgängiger und konkurrierender Dramentheorien verrechnen: So wird die tragische Katharsis zuallermeist (abgesehen allerdings von avancierten Ansätzen wie dem von Lorenzo Giacomini, De la purgazione de la tragedia von 1586, der die ‚Reinigung‘ psycho-physiologisch auffasst) moralisierend gelesen, und sicherlich ist dies vor dem Hintergrund einer zeithistorischen Rezeptionshaltung zu sehen, die durch die apo- und protreptischen rhetorischen Annahmen der Euanthius- und Donat- sowie der damit verquickten Horaz-Tradition geprägt ist: Demnach sollten die Tragödien (mit ihrem traurigen und unheilvollen Schluss) zeigen, wie man sich im Leben nicht zu verhalten habe, Komödien dagegen (mit ihren happy endings) aufweisen, wodurch man zu Glück und Erfolg komme. Allerdings ist die Erkenntnis, dass der rinascimentale Aristotelismus kein bruchloses und kohärentes Gefüge darstellt, sondern sich in vielfältiger Komplexion mit anderen, heterogenen (teils deutlich früher entstandenen) Ansätzen verschränkt, nicht so revolutionär neu, wie es hier den Anschein haben soll. Schon Bernard Weinberg vertritt nicht einfach die These des aristotelischen Monolithismus, sondern stellt die Sachlage durchaus mit einer gewissen Differenzierung dar;5 die bei Lohse fast übergangene6 einschlägige Studie von Marvin Th. Herrick trägt bereits den bezeichnenden Titel The fusion of Horatian and Aristotelian literary criticism 1531–1555 (Urbana: University of Illinois Press 1946), und auch die von Lohse des Öfteren kritisierte Handbuchliteratur ist ganz so ahnungslos nicht.7 So wurde schon vor rund 15 Jahren festgestellt: „Nach ihrer ‚Wiederentdeckung‘ (1498 lat. Übers. durch G. Valla, 1508 Erstdruck des griech. Originals in den Rhetores Graeci von Aldus Manutius, 1536 griech.-lat. Ed. von A. de’ Pazzi) wird die aristotelische Poetik in der zweiten H. des 16. Jh. zum die Gattungsdiskussion dominierenden Text; dabei herrscht eine normativ-präskriptive Lesart sowie die Tendenz vor, Aristoteles unter dem Vorzeichen der ma.-rhet.-horazischen Trad. zu verstehen“.8 Wesentlich geht es Lohse um exakt dieses.
Über das im soeben vorgetragenen Zitat hinaus Gesagte möchte Lohse die Bedeutung der Poetik für die Dramenproduktion des Cinquecento insgesamt relativieren. Dies gelingt nicht wirklich überzeugend. Denn zum einen ist es durchaus so, dass schon die Widmungsvorrede von Trissinos Sophonisba als erster ‚regelkonformer‘ (Lohse würde zu Recht wohl sagen: ein schwieriger Begriff!) Tragödie einen Bezug auf die Poetik enthält9 und dass darüber hinaus die am gesamten Text sichtbare Bemühung, dem Stück eine einheitliche Handlungsfügung zu verleihen, den Gedanken fast unabweisbar macht, Trissino habe hier über Aussagen des Aristoteles reflektiert. Zum anderen ist die Tatsache unmöglich wegzuargumentieren, dass die fast explosionsartige Proliferation der tragischen Dramenproduktion in exakt den Jahren einsetzt, da 1536 die am meisten beachtete Ausgabe der Poetik gerade erschienen ist und da die Poetik-Kommentatoren mit ihrer sehr detaillierten Auseinandersetzung beginnen; übrigens ist es kein Argument, wenn Lohse für die Zeit vor den Poetik-Kommentaren behauptet: „Es ist so gut wie ausgeschlossen, daß sich Dramendichter vor den Kommentaren Robortellos, Segnis und Lombardis und Maggis an Aristoteles orientiert haben, da der Text der Poetik in vielen Teilen im 16. Jahrhundert nur begrenzt verständlich ist“ (42). Und schließlich zeigen die Stücke selbst mit ihrer teils forcierten Handlungsanlage und bisweilen auch ganz explizit in ihren Paratexten (Widmungsreden, separaten Prologen usw.), wie sehr es ihnen um die Erweckung von ‚compassione‘ und ‚orrore‘, um eine moralisierende Einflussnahme auf die Rezipienten (Katharsis), um die ‚Wahrscheinlichkeit‘ im Sinne des Glaubwürdigen oder des faktisch Belegten geht usw. Auch greifen die dramentheoretischen Debatten der Zeit (etwa die Dokumente um Giraldis Kreation der Orbecche oder die Texte des Streits um Speronis Canace) in vielfältiger Weise auf aristotelisierende Poetologeme zurück. All das ist, und da hat Lohse völlig Recht, nicht ‚aristotelisch‘ im heutigen Verständnis einer kritisch-hermeneutischen, historisch informierten Aristoteleslektüre. Es ist aber allemal aristotelisierend, und es hat sich sichtbar auf die cinquecentesken Experimente mit den dramatischen Gattungen niedergeschlagen – und diese Experimente ihrerseits haben ganz offensichtlich die dramentheoretische Reflexion herausgefordert und weiter befördert, wie v.a. die resümierenden Texte zu Ende des Cinquecento belegen, etwa Nicolò Rossis Discorsi intorno alla tragedia von 1590.
Bezüglich der Dramentheorie der Renaissance wären Lohses Beobachtungen noch weiter zu entwickeln, denn der eigentlich interessante Punkt ist doch: Warum haben sich die rinascimentalen Theoretiker so sehr mit der Interpretation der Literatur nach aristotelisierenden Kategorien verausgabt und einen Diskurs erzeugt, der als solcher nun durchaus die zeitgenössische Diskussion ‚dominiert‘ hat?10 Der Grund liegt mit Sicherheit in dem ordnenden, systematisierenden Interesse, das den zeitgenössischen Wissensdiskurs insgesamt prägt und das er auf poetologischem Gebiet insbesondere der Gattungsfrage entgegenbringt. Nicht nur für die Dramatik, sondern auch für das Epos und gar auch für die Lyrik schien die Poetik des Aristoteles insofern eine Neuheit gegenüber dem von Lohse als ‚humanistisch‘ bezeichneten Theorieangebot zu sein, als hier fernab einer rhetorisch-moralisierenden Dichtungsauffassung strukturelle und funktionale Parameter zur systematischen Definition literarischer Gattungen zur Verfügung gestellt zu werden schienen.11 Das ist das Kerninteresse der zeitgenössischen Theoriebildung unter Rückgriff auf einen deutlich facettierten ‚Aristotelismus‘.
Einem solchen epistemologischen Kontext der Gattungsdiskussion widmet die Studie kaum Aufmerksamkeit. Desgleichen beschränkt sie sich bezüglich der sonstigen Zusammenhänge der Renaissancedramatik (akademische Institution und Theater, Aufführungspraxis, höfische Steuerung der dramatischen Produktion usw.) auf vergleichsweise knappe Hinweise. Auch der religionshistorische Hintergrund der Gegenreformation wird nur sehr sparsam angesprochen; dabei wäre es gerade interessant zu sehen, welche Verquickungen die moralisierende ‚humanistische‘ Dramentheorie mit einer ethisch-moralischen Katharsis- und Plotauffassung des aristotelisierenden Verständnisses sowie mit der gegenreformatorisch geforderten moralisch-theologischen ‚Korrektheit‘ literarischer Praxis eingehen konnte.
Lohses Studie ist in ihrem theoriehistorischen Teil unter großen Anstrengungen damit befasst, mit der These vom allpervasiven monolithischen Aristotelismus ein Feindbild zu destruieren, das unter Experten kaum mehr aktuell genannt werden kann. Ein nützliches und gar unverzichtbares Arbeitsinstrument wird sie besonders durch die akribische Aufarbeitung des Materials, die eingehende Darstellung vieler oft ungelesener Dramentexte, die reiche Präsentation der Primärliteratur in der umfangreichen, sorgfältig erstellten Bibliographie werden.
Joel Elias Spingarn, A history of literary criticism in the Renaissance (New York : Macmillan, 1899; 2. Ed. New York: Columbia Univ. Press, 1924).↩
Bernard Weinberg, A history of literary criticism in the Italian Renaissance (Chicago: Univ. of Chicago Press, 1961).↩
Vgl. Bernhard Huß, „Luigi Grotos tragisches Diptychon aus Mitleid und Schrecken: ‚La Adriana‘ und ‚La Dalida‘“, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 252.1 (2015): 83–104.↩
Exemplarisch kann man hier die geradezu peinlich falschen Äußerungen von Peter Burke (in der Europäischen Renaissance, von Lohse (55) wohl zitiert aus der dt. Fassung (München: Beck, 1998), 137–8.) anführen: „Auf dem Gebiet der Literatur wurden die Regeln für die verschiedenen Gattungen auf der Grundlage der Poetik des Aristoteles formuliert. Man interpretierte Aristoteles etwa nach seiner Äußerung, die Tragödie handle von Protagonisten in hohen sozialen Stellungen, die Komödie aber von gewöhnlichen Leuten, und außerdem sollten Theaterstücke grundsätzlich die Einheit von Zeit, Ort und Handlung beachten.“ Lohse hat recht: „An dieser Aussage ist sachlich alles falsch“ (55), und das ist auf diesem Niveau der Renaissance-Debatte in der Tat irritierend.↩
Vgl. aus der History of literary criticism in the Italian Renaissance (Chicago: Univ. of Chicago Press, 1961, Ndr. Midway Reprints 1974), nur bspw. folgende Passagen: „Naturally, the first impulse [sc. im früheren Cinquecento] was to find the known in the unknown, to read Horace into Aristotle. […] the old habits of mind and the old accepted ideas are there, and what is produced in the way of theory is much closer to the standard Horatian rhetorical tradition than to any distinctively Aristotelian analysis“ (Bd. 1, 423), „[…] the Middle Ages continue to exert an influence upon the interpretation of the Poetics. Almost equally prominent […] is the medieval conception of the literary genres. For many of the commentators, the abstract and partial statements found in Aristotle are ‚completed‘ by the addition of the whole collection of medieval precepts for the genres: subject matter, kinds of characters, type of action and of ending, style, tone“ (Bd. 1, 476). Vgl. hierzu bspw. auch ebd. Bd. 1, 562–3. sowie den von Lohse nicht zitierten Stephen Halliwell: Aristotle’s Poetics (Chicago: University of Chicago Press, 1986), 297.↩
Lohse (57) sagt, Herrick habe „zwischen 1946 und 1965 wegbereitende Abhandlungen zum italienischen Drama und zur Dramentheorie vorgelegt“, spricht dann aber ausschließlich von der Italian tragedy in the Renaissance von 1965; die Ausblendung des Buchs von 1946, das einer monolithischen Aristotelismus-These schon vor vielen Jahrzehnten entgegengearbeitet hat, ist tendentiös.↩
Um den von Lohse verschiedentlich (u.a. 104, Anm. 83; 163, Anm. 237 mit Bezug auf den Artikel zu „Tragödie/Tragödientheorie“ von Dirk Niefanger) attackierten Neuen Pauly im Kontext unserer Thematik etwas zu rehabilitieren, sei auf zwei Artikel hingewiesen, die Lohse bei seiner kritischen Revue der Handbuchliteratur übergeht: Bernhard Huß, „Gattung/Gattungstheorie“, Der Neue Pauly: Enzyklopädie der Antike, Bd. 14: Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von Manfred Landfester (Stuttgart und Weimar: Metzler, 2000), 87–95; ders., „Literaturtheorie“, Der Neue Pauly: Supplemente, Bd. 9: Renaissance-Humanismus. Lexikon zur Antikerezeption, hrsg. von M. Landfester (Stuttgart und Weimar: Metzler 2014), 558–66. In beiden Artikeln wird ganz im Sinne von Lohses Sichtweise hervorgehoben, dass verschiedene literaturtheoretische Ansätze, darunter der ‚Aristotelismus‘, in der Renaissance sehr komplexe Verschränkungen eingehen.↩
Zitat aus Sp. 90 des oben erwähnten Artikels „Gattung/Gattungstheorie“ aus dem Neuen Pauly.↩
Lohse (138–9) zitiert aus der Widmungsvorrede der Sophonisba (1524) nur einen Teil von Trissinos auf die Poetik des Aristoteles verweisender Aussage über die Tragödie, nämlich den Satz, der sich auf ‚compassione‘ und ‚tema‘ bezieht, welche durch die Tragödie hervorgerufen würden (also auf die aristotelischen Wirkaffekte éleos und phóbos). Tatsächlich aber referiert, paraphrasiert und interpretiert Trissino an dieser Stelle die gesamte aristotelische Tragödiendefinition; vgl. das vollständige Zitat bei Weinberg, A history of literary criticism, Bd. 1, 369, Anm. 29. Gerade im Kontext der Produktion jener ersten ‚regelmäßigen‘ Tragödie ist also ein Kernstück der aristotelisierenden Gattungstheorie bereits explizit präsent; dies invalidiert beträchtliche Teile von Lohses These (auch die Behauptung zur Trissino-Vorrede, 94, Anm. 51). Schon der frühe Trissino kennt auch bezüglich anderer Gattungen nicht nur herkömmliche rhetorisch-stilistische, sondern auch aristotelisierende Dimensionen der Gattungsdiskussion, vgl. Bernhard Huß, Florian Mehltretter und Gerhard Regn, Lyriktheorie(n) der italienischen Renaissance, Pluralisierung & Autorität 30 (Berlin und Boston: De Gruyter, 2012), 27–8.↩
Diese Dominanz kann man behaupten, ohne den vielfältigen und widersprüchlichen Anschluss der Aristoteliker an frühere Theoreme zu bestreiten.↩
Vgl. hierzu das Kapitel „Lyrik als Makrograttung: integrativ orientierte Lyriktheorien im Kontext aristotelischer Poetik“ in Huß, Mehltretter und Regn, Lyriktheorie(n), 14–129 und dort besonders den einführenden Abschnitt „Lyriktheorie nach Aristoteles: ein prekäres Projekt der Systematisierung“, 14–25.↩
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