Herausforderungen der Nanophilologie

Laboratorien des (narrativen) Wissens

Ottmar Ette

Motion and Emotion: Unruh und Unruhe

Wollten wir die Kürzestformen der Literatur mit einer Bewegung, sei sie innerer oder äußerer Art, in einen Zusammenhang bringen, folglich die Minifiktionen, um die es im folgenden aus nanophilologischer Perspektive1 gehen soll, mit dem Spannungsfeld von motions and emotions in Verbindung setzen, so würde sich hierfür wohl am überzeugendsten das Gefühl beziehungsweise die Bewegung der Unruhe anbieten. Doch wie ließe sich Unruhe definieren?

Die Unruh, so lesen wir im Brockhaus, ist ein „Teil in Uhren, der mit einem mechan. oder elektr. Unruhschwingsystem in Verbindung mit einer Spiralfeder den Gang regelt.“2 Der solchermaßen durch die Unruh geregelte Gang meint nicht den Gang beim Menschen, nicht den Gang beim Tiere und auch nicht den Gang in der Geologie, die uns beim Nachschauen unter diesem Stichwort entgegentreten, sondern den Gang einer Uhr: „a) die Größe, deren Zahlenwert angibt, wieviel eine Prüfuhr gegenüber einer Normaluhr in einer bestimmten Zeit vor- oder nachgeht, meist in s/d (Sekunden pro Tag) gemessen. b) ältere Bez. für die Hemmung einer Uhr.“3

Mit diesen Worten wird aus der Perspektive der Mechanik einer Uhr ein Begriffsfeld abgesteckt, welches die Unruh (und mit ihr die Unruhe) zum einen mit der Dynamik von Bewegungen und zum anderen mit der Messung von Zeit in Verbindung bringt. Denn jener kleine, aber zentrale Teil einer mechanischen Uhr, der mit einer Sprungfeder gekoppelt ist, erzeugt durch das Aufziehen dieser Sprungfeder eine schnelle, rhythmische, kurzschwingende Bewegung, deren Dynamik es erlaubt, innerhalb eines gegebenen Bewegungs-Raumes die Zeit so zu messen, dass sie an einer Norm ausgerichtet oder die Norm an ihr ausgerichtet werden kann. Damit aber können der normale Gang – gleichsam der Gang der Geschichte – und folglich die normgebende Zeitmessung festgelegt werden. Ein Abweichen von dieser Norm als Abweichung in der Zeit wird in Metaphern der Bewegung und des Ganges als ein Vorgehen oder ein Nachgehen bezeichnet, die ihrerseits mit der sich ebenso beständig wie rasch sich bewegenden Unruh rückgekoppelt sind.

Nicht allein in Regionen und Ländern wie dem Schwarzwald und der Schweiz, wo bekanntlich die Liebe zu hochgradig fortentwickelten mechanischen Uhren wohl ein Bewusstsein dafür erhalten haben mag, dass der Gang, der Fortgang und die Fortbewegung wie auch die Zeit, die Zeitmessung und deren Abweichungen ohne die Existenz der Unruh nicht zu denken sind, ist es selbst in Zeiten einer vorherrschend nicht-mechanischen Erzeugung von Zeit und Zeitmessung nachvollziehbar, dass das große Gefühl der Unruhe auf höchst intensive Art mit jenem Teil einer Mechanik in Beziehung und Verbindung steht, der dafür sorgt, dass alles in Gang und damit in Bewegung bleibt. Unruhe verbindet sich mit Raum und Zeit, lässt sich im Raum und an der Zeitnorm messen, ja mehr noch: Die Ökonomie in der Mechanik dieser Unruhe beinhaltet ein Aufgezogensein, eine von einer Sprungfeder gespeicherte Spannung, die bei einem guten Gang der Uhr die aufgezogene Energie über einen langen Zeit-Raum speichert und in eine Bewegung verwandelt, welche in ihrer Vektorizität noch näher zu untersuchen ist.

Man könnte die Unruh und die Verbindung zwischen Unruh und Spiralfeder4 als das eigentliche Herzstück jeder mechanischen Uhr bezeichnen, wird von hier aus doch der Kreislauf gesteuert, welcher über ein komplexes Räderwerk die oszillierenden Bewegungen der Unruh in die gerichteten, sich stets nur in eine Richtung fortbewegenden Kreisbewegungen der Zeiger auf dem Zifferblatt übertragt. Mit anderen Worten: Das Schwingen wird vom bereits erwähnten „Unruhschwingsystem“5 aus einer pendelnden in eine gerichtete Vektorizität übersetzt, so dass sich daraus eine Rotation stets und ausschließlich ‚im Uhrzeigersinn‘ ergibt. Ein entscheidender Faktor innerhalb dieser Mechanik ist demzufolge die möglichst reibungslose Übersetzung einer Spannung, einer vektoriell nicht gerichteten Unruhe in eine gerichtete Bewegung, liegt hierin doch der eigentliche Uhrzeigersinn. Durch das Aufziehen der Spiralfeder speichern wir Energie in der Antriebsfeder der Uhr, auf die wir direkt mechanisch einwirken. Auf die Unruh können wir jedoch von außen niemals direkt, sondern nur indirekt, über das Aufziehen der Uhr oder deren Drehen und Schütteln, Einfluss nehmen.

Uhren lassen sich deshalb definieren als „Messinstrumente, die den Ablauf der Zeit in gleichmäßigen Zeitspannen lückenlos zählen und anzeigen“6. Für diese Lückenlosigkeit und Kontinuität sorgt das Drehpendel des Unruhschwingsystems, zur Aufrechterhaltung der Schwingungen ist – je nach Konstruktionsart der Uhr – in der Regel während jeder Vollschwingung ein- oder zweimal Energie von der Spiralfeder her zuzuführen, gesteuert durch eine Art der Rückkoppelung durch das Schwingsystem selbst7. Inwiefern diese Prinzipien der einmal in Gang gesetzten Uhr mit ihrer selbststeuernden Mechanik und ihrem komplizierten Räderwerk die Totalmetapher für die Welt und die gesamte Schöpfung gerade auch in der Sattelzeit der Moderne lieferten, ist bekannt und muss an dieser Stelle nicht eingehender behandelt werden. In der Tat konnte Gott als der große Uhrmacher gedacht werden. So formulierte etwa ein Voltaire: „L’univers m’embarrasse, et je ne puis songer que cette horloge existe et n’ait point d’horloger.“8 Die Verbindung des von ihrer Unruh angetriebenen Uhrwerks zur Schöpfung, zur Kreation, ist zumindest in einer abendländischen Perspektive evident. Dies geht weit über jene bewundernswerte Kreativität hinaus, die noch heute, in den Zeiten hochtechnisierter Zeitmessung, in der Uhrenindustrie an der Präzision der Unruh und ihrer Ganggenauigkeit feilt.

Die nachfolgenden Überlegungen verbinden sich mit dem Versuch, das Spannungsverhältnis zwischen motion und emotion, zwischen innerer und äußerer Bewegung näher zu erkunden, um hierbei Ökonomie und Vektorizität der Unruhe für den Bereich der Kurz- und Kürzesterzählungen zu erhellen und nanophilologisch fruchtbar zu machen. Denn wenn es innerhalb nicht weniger komplexer und im übrigen durchaus umkehrbarer Vektorizitäten möglich ist, den Stolz – als Stolz auf etwas – als ein rückwärtsgerichtetes großes Gefühl zu verstehen, das man nicht ohne Mühe in einen Stolz nicht nur auf etwas Geleistetes, sondern auch in Stolz auf etwas künftig zu Unternehmendes umpolen kann9; und wenn es nicht weniger denkbar ist, die Angst – als Angst vor etwas – in ihrer Ausrichtung an einem Künftigen als einem zumeist unmittelbar Bevorstehenden zu deuten und auch zu beeinflussen10: Dann lässt sich das gegenüber Stolz und Angst nicht weniger große Gefühl der Unruhe auch in seiner Vektorizität auf eine Weise bestimmen, die ihre Ökonomie verdeutlicht und zugleich die Möglichkeiten aufzeigt, auf diese vektorielle Dimension der Unruhe als Movens in einem positiven, reflektierten und vor allem kreativen Sinne Einfluss zu nehmen. Dass diese Einflussnahme nicht unmittelbarer und direkter Natur sein kann, scheint mir anhand der soeben kurz skizzierten Mechanik der Uhr und ihres Herzstückes, der sogenannten Unruh, evident zu sein.

Doch damit nicht genug. Dass sich die Bezeichnung des zentralen Bauteils eines Uhrwerks als „Unruh“ keinem Zufall verdankt, mag die Tatsache belegen, dass der technische Vorläufer der Unruh im Deutschen als „Unrast“ bezeichnet wurde11. Dabei ist für unsere Zielstellung weniger interessant, dass in der Geschichte unserer historischen Moderne bereits 1675 Christiaan Huygens ein französisches Patent für die Umsetzung einer Idee von Jean de Hautefeuille erteilt wurde12. Seit diesem Zeitpunkt aber lässt sich die Unruh im modernen Sinne als „ein präzises, aus Metall gefertigtes kleines Schwungrad, das an den Wellenenden Zapfen zur Lagerung hat“13, bezeichnen. Gerade den verschiedenen Techniken der Lagerung des Schwingsystems beziehungsweise der Unruhe sowie der Sicherung vor Stößen und Schocks kommt mit Blick auf die Ganggenauigkeit eine große Wichtigkeit zu. Zur Kompensation werden auch hier oftmals selbstregulierende Mechanismen verwendet14, welche die Unruh vor Umwelteinflüssen möglichst umfassend schützen sollen.

Die Unruh beziehungsweise das Unruhschwingsystem lässt sich damit als ein vielfach gegenüber äußeren Einflüssen geschütztes, aber keineswegs autarkes oder unbeeinflussbares System begreifen, für dessen Funktionsweise eine regelmäßige Energiezufuhr, die freilich nicht kontinuierlich zu sein braucht, zusammen mit einer fortgesetzten Pflege die unabdingbare Voraussetzung bildet. Nicht nur die Ganggenauigkeit und Präzision der Zeitmessung, sondern auch die Lebensdauer hängen ebenso von einer möglichst perfekten Sicherung wie von einer regelmäßigen Pflege und Energiezufuhr ab. Nur dann kann eine Uhr ein ganzes Menschenleben überdauern.

Stellt man sich der Frage, was nicht die Uhren, sondern den Menschen antreibt und vielleicht mehr noch, was den Menschen wie antreibt, dann ist es keineswegs unumgänglich, sofort nach dem Warum und parallel hierzu nach einer gerichteten Bewegung, nach einer klar definierbaren Intentionalität zu fragen. Denn beschäftigen wir uns mit der Unruhe, dann wäre es sicherlich verkürzend, wollten wir für diese innere Bewegung, für diese Emotion und Motion, von der Annahme eines klar bestimmbaren Begehrens nach einem deutlich umrissenen Gegenstand oder nach einem transparent formulierten Ziel ausgehen, das auf einem mehr oder minder gerade gerichteten Weg erreicht werden könnte. Das in den Literaturen der Welt gespeicherte und immer wieder neu generierte Lebenswissen zeigt uns, wie multidirektional, komplex und paradox die Beweg-Gründe menschlichen Handelns sind. Was also treibt menschliches Handeln an?

Die Unruhe ist, ganz wie die Unrast, – und dies könnte uns für unsere Überlegungen als Ausgangshypothese dienen – keiner eindeutig gerichteten Vektorizität zuzuordnen. Anders als der sich auf eine (an die Gegenwart heranrückende) Vergangenheit beziehende Stolz, und anders als die sich auf eine (an die Gegenwart heranrückende) Zukunft beziehende Angst, kennt die Unruhe keine eindeutig attribuierbare Bewegungsrichtung, wohl aber eine hohe Intensität der Bewegung. Anders als andere große Gefühle beinhaltet sie keinen Stolz auf und keine Angst vor etwas, sondern impliziert eher eine Unruhe angesichts von Phänomenen, die uns in nächster Zeit gegenübertreten oder uns vor kurzem gegenübergetreten sind. Zugleich und vor allem aber ist die Unruhe ein Movens, eine Bewegungsmaschinerie, die uns in Gang setzt und mit Blick auf eine zeitlich durchaus breit gefächerte Gegenwart in Bewegung setzt oder hält. Die Unruhe ist ein Beweg-Grund in sich, an sich und für sich.

Narratives Lebenswissen: vom Erzählen der Unruhe

Zu den in den vergangenen Jahren erfolgreichsten Bänden in der deutschsprachigen Literatur zählt auch ein Buch des 1948 in Zürich geborenen Schweizer Schriftstellers, Drehbuchautors und Kolumnisten Martin Suter, das erstmals 2012 unter dem Titel Abschalten: die Business Class macht Ferien15 erschien und es bis auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte. Der kleine Band enthält insgesamt 59 Kurz- und Kürzesterzählungen, die sich auf humorvolle, satirische und nicht selten bissige Weise mit den mehr oder minder verzweifelten Versuchen männlicher Vertreter des mittleren und teilweise oberen Managements beschäftigen, die eigenen Ferien (wie auch die Ferien ihrer Familien oder Mitarbeiter) zu gestalten. Die fünf Zwischentitel „Burn-out“, „Ferien-Management“, „Quality Time“, „Fit- & Wellness“ und „Zurück im Büro“, welche die kurzen Prosatexte untergliedern, zeigen bereits paratextuell an, welches die thematischen Leitlinien jener Narrationen sind, die in ihrer Gattungszugehörigkeit bisweilen als Kurzerzählungen, bisweilen aber auch deutlich als Mikroerzählungen (im Sinne der microrrelatos) zu bezeichnen sind. Sie präsentieren in kondensierter narrativer Form ein Lebenswissen und ÜberLebenswissen16 rund um einen Berufsstand, der sich in der Selbstwahrnehmung, aber auch gerne in der Fremdwahrnehmung – wie es die Kurzerzählung „Eigenbild/Fremdbild“ in nächtlicher Umfrage im heimischen Ehebett bewusst auf die Spitze treibt17 – als gesellschaftliche Elite versteht und geriert.

Die Suche nach den Möglichkeiten des eigenen Abschaltens und die unterschiedlichsten Formen des Nicht-Abschalten-Könnens, denen die Protagonisten unterliegen oder ausgeliefert sind, lassen eine Erzählwelt entstehen, in der die literarischen Figuren einer Schweizer Firmenelite von einer in den Ferien grassierenden Unruhe heimgesucht wird, die sie zumeist vergeblich in den Tempeln der Fitness und Wellness18, oder in scheinbar erholsamen Einrichtungen wie dem Hotel „Bergruh“19, zu bekämpfen suchen. Doch Zeit ist nicht vorhanden, Ruhe ist nicht zu finden. Das immer wieder beschleunigt vorangetriebene Geschehen stürmt – nicht zuletzt auch dort, wo eigentlich gar nichts geschieht – rastlos einem schnellen erzählerischen Ende entgegen, um in der sich anschließenden Kürzesterzählung von neuem Anlauf zu nehmen und zu einem weiteren abrupten, aber stets lustvollen Finale zu finden. Es ist, als könnten nicht nur das Schweizer Management, sondern auch die hier dargebotene Erzählprosa nicht abschalten.

Für die Figuren wie für das von Martin Suter implementierte serielle Erzählmodell gilt, was vom Protagonisten der Kurzerzählung „Glaser lässt abschalten“, die dem Band „Anstelle eines Vorworts“ vorausgeschickt ist, ausgesagt wird:

Stress, sagt sich Glaser, ist ja nur die Unfähigkeit abzuschalten. Und Unfähigkeiten jeder Art sind für Glaser, wenn überhaupt, vorübergehende Erscheinungen. Er nimmt sich also vor, in Zukunft beim Verlassen des Büros abzuschalten. Aber er findet den Schalter nicht.20

Das gesamte Unruhschwingsystem bleibt damit in Bewegung und lässt sich nicht abschalten. Die hier in Szene gesetzte Art von Unruhe erscheint in ihrem ständigen Oszillieren, in ihrem ununterbrochenen Hin- und Herpendeln freilich nicht als kreativ, sondern nur als erschöpfend und weitgehend sinnlos – wie gemacht für ein ebenfalls aus der Schweiz kommendes „Handbuch der Ratlosigkeit“21.

Für diese unsägliche Unproduktivität geradezu paradigmatisch ist eine Mikroerzählung, die auf anderthalb Seiten Länge der Abteilung „Ferien-Management“ zugeordnet ist. Unter der Überschrift „Reassessment“ nimmt sie die Ferienbeschäftigungen einer wie stets männlichen Führungskraft aufs Korn, welche während der Urlaubstage genussvoll über eine vollständige Überprüfung ihrer „oberen Kader“ nachsinnt und entsprechende Pläne entwirft. Dabei wird bereits im incipit die Unruhe gleichsam in der Hierarchie verankert und institutionalisiert:

Ab einer gewissen Hierarchiestufe dienen Ferien nicht mehr dem Zweck, ein paar Tage den Job zu vergessen, sondern dem, ein paar Tage ungestört an diesen denken zu können. Untermann hat diese Hierarchiestufe schon vor Jahren erreicht und verbringt deshalb seine Sommerferien mit einem Schreibblock und etwas Managementlektüre an den jeweils schattigsten Plätzchen der jährlich wechselnden Feriendestinationen seiner Frau.22

In diesem Jahr also verbringt Untermann die Ferien fasziniert von der (einem Fachartikel entnommenen) Idee eines Reassessment seines „Topkaders“23, angetrieben von der Verlockung, „eine objektive Bestandsaufnahme des Leistungspotentials und der möglichen Risiken“24 vornehmen zu können. Die velociferische Atemlosigkeit und das Machtkalkül von Evaluationen werden hier im Kontext vermeintlich exzellenter Strukturen25 in all ihrer effizienten Ineffizienz sichtbar gemacht. So entwirft Untermann eine regelmäßig vorzunehmende Evaluation ebenso der „Managementkompetenzen“26 wie der „psycho-physischen Leistungsfähigkeit“27 seiner Führungskräfte und erfreut sich bereits an der Vorstellung, mit welchem Schrecken die von ihm abhängigen Topkader auf die Androhung ständiger Evaluationen ihrer Problemlösungskompetenzen, Führungskompetenzen oder ihrer jeweiligen Begeisterungsfähigkeit reagieren werden. Untermanns Motivationslage ist klar: „Die Aussicht auf ein Reassessment würde die Bande aufrütteln und daran hindern, sich auf ihren vermeintlichen Lorbeeren auszuruhen“28. Auf der Grundlage seiner eigenen Unruhe, seines eigenen Nicht-Abschalten-Könnens, will der Boss gerade in seinen Ferien seine Mitarbeiter folglich nicht zur Ruhe kommen lassen, sondern lustvoll in eine Überprüfungsspirale hetzen.

In der symbolischen Machtausübung besteht der eigentliche „Zweck der Übung“29 – und gerade nicht in einer wirklichen Evaluation, welche die Evaluierer selbst miteinbeziehen müßte. Die ins Auge gefasste pausenlose Überprüfung dient lediglich dazu, die von ihm abhängigen „Topkader“ in dauerhafte Unruhe, nicht aber aus ihren Führungspositionen zu versetzen. Denn etwas grundlegend zu verändern, kann keinesfalls im Interesse dieses Chief Executive Officer liegen. So heißt es im Stilmittel erlebter Rede: „Durchfallen würde selbstverständlich keiner. Wäre ja noch schöner. Er wäre ein unfähiger CEO, wenn er Leute in Toppositionen sitzen hätte, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind“30. So wendet sich die Unruhe des Chefs auch rasch von der so liebgewonnenen Vorstellung eines Reassessment wieder ab, könnten die Ergebnisse einer Evaluation doch die eigene Führungsposition gefährden. Und so bleibt alles nur ein Sturm im Cocktailglas der Ferien.

Mit beißendem Spott wird in dieser Mikroerzählung von Martin Suter in wenigen Abschnitten das Rasterbild einer Führungskraft entworfen, die auch unter anderen Namen in ihrer Unruhe und ihren unvermittelten Richtungswechseln aus immer wieder veränderten Perspektiven portraitiert wird: Die Mikroerzählungen des Schweizer Autors bilden thematisch gruppierte serielle Abfolgen einer Kurzprosa, die ihren Lesern kaum einmal Zeit zum Durchatmen lässt und so die Atemlosigkeit und Kurzatmigkeit der und des von ihm Dargestellten in einen raschen, scharf pointierten Rhythmus übersetzt. Der Schweizer Autor führt auf diese Weise den generischen Hang dieser literarischen Kürzestformen mit einer thematischen Ausrichtung eng, deren doppelte und doch aufeinander abgestimmte Rhythmik sich erfolgreich auf den Leserhythmus des Publikums zu übertragen scheint. Entscheidend ist hier freilich, dass es sich bei den Texten dieses Bandes nicht um isolierte Kürzestformen handelt, sondern um 59 Erzähltexte, die in einer relationalen Kotextualität aufs Engste miteinander verbunden und ebenso in mehr oder minder umfangreichen Serien oder archipelischen Strukturierungen angeordnet sind. Alle sind mit allen verbunden und beleuchten sich wechselseitig, bleiben zugleich aber isoliert und getrennt voneinander lesbar.

Das virulente Thema der Unruhe setzt sich bis in den letzten Mikrotext fort, der „Anstelle eines Nachworts“ den Band unter dem Titel „Zukunftsängste“ abschließt. Hier springt die Unruhe von der Führungsetage der stets von Entlassungen und einem Überflüssigwerden bedrohten Männer auf ihre Frauen über, die etwas klischeehaft nach einer gemeinsamen Sitzung des Face forming noch ein wenig plaudern und sich ihre Ängste anvertrauen. Die Zukunftsängste von Frauen, deren Männer in die „Alleroberste Liga“31 aufgestiegen sind, scheinen von deutlich geringerer existenzbedrohender Natur: Sie werden vielmehr schlaglichtartig und in einzelnen Gesprächsfetzen als die Furcht davor dargestellt, vom BMW zum Twingo und von den Ferien auf den Seychellen auf Ferien im Schweizer Jura absteigen zu müssen und somit sozial auf ein Mittelmaß zurückgeworfen zu werden. Doch die eigentliche Unruhe gilt der angsteinflößenden Möglichkeit, dass die beiden Freundinnen ihre Männer im Falle einer Arbeitslosigkeit ganztägig um sich hätten. Die eine öffnet der anderen die Augen:

„Dann ist er immer da. Wenn du aufwachst, ist er da, wenn du frühstückst, ist er da, wenn du aus dem Haus gehst, ist er da, wenn du zurückkomst, ist er da.“ „Daran habe ich noch gar nicht gedacht.“ „Man soll auch nicht immer als Erstes an das Allerschlimmste denken.“32

Mit diesem Ende der Mikroerzählung wie des gesamten Bandes werden nicht nur die traumatisierenden Aussichten auf künftige Szenen einer Ehe bitterböse projiziert, sondern zugleich die Möglichkeiten einer Gattung wahrgenommen, in verdichteter (und wie noch zu zeigen sein wird: in miniaturisierter) Form auf wenigen Zeilen die verwickelte Totalität eines individuellen Lebens oder einer gesamten sozialen Schicht zu kondensieren. Die spezifische Situation einer von Zukunftsängsten bedrohten, wohlhabenden Schweizer Gesellschaft erscheint dabei aus der Perspektive ihrer stetigen Unruhe, haben die Ferien doch weder in den Bergen noch am Strand bei den Protagonisten die Ruhe einkehren lassen, sondern nur zu weiterer beunruhigender Beschleunigung geführt. Das Führungspersonal ist in jeglicher Hinsicht nicht abzuschalten.

Die Rückkehr aus den Ferien führt besonders bei jenen Kürzesterzählungen, die unter der Überschrift „Zurück im Büro“ versammelt sind, zu stark verdichteten Kurzportraits der eigenen Endlichkeit, der eigenen Überflüssigkeit, des eigenen Endes dieser Elite. Auch wenn bei diesem Bestseller vielfach die Gefahr besteht, in das Erwartbare, ja in das Gemeinplatzartige abzugleiten, so sind die vielen Detailbeobachtungen aus dem Alltagsleben doch so präzise und erhellend gestaltet, dass in dieser Textserie von Mikrokosmen unversehens ein Makrokosmos33 westlicher Beschleunigungsgesellschaften entsteht. Damit zeigt sich aber auch in diesen Kürzesttexten jenes Bestreben (nicht allein in) der abendländischen Literatur, die literarische Darstellung auf die Repräsentation einer Totalität hin auszurichten. Wie unterm Brennglas, wie in einem Laboratorium werden Gestaltungsformen narrativen Lebenswissens in verdichteter Form vor Augen geführt. Erzählen zielt auf Totalität – auch und gerade dann, wenn die Erzählgattung durch Kürze brilliert. Auch kürzeste Erzählformen unternehmen Weltschöpfung, ein Worldmaking34 in verdichteter Form. Eben dies aber ermöglicht es uns, die Frage nach der Mikroerzählung und der Minifiktion auf grundlegende Entwicklungslinien innerhalb der jahrtausendealten Geschichte der Literaturen der Welt zu beziehen.

Literarische Kurzformen als verdichtete Bewegung

Die Literaturen der Welt kennen keinen Anfang: Sie kennen nur Anfänge, die in verschiedenen Areas unseres Planeten wiederum auf weitere Anfänge zurückverweisen. Diese Verzweigungen der Anfänge mögen uns daran erinnern, dass vor dem Beginn des Schreibens stets ein anderes Schreiben steht, vor dem Beginn der Schöpfung stets andere Schöpfungen auszumachen sind, die intertextueller, und nicht selten ebenso transarealer wie transkultureller Natur sind. Folglich sollten Herkunft wie Zukunft – und die Literaturen der Welt weisen uns seit ihren Anfängen immer wieder darauf hin – stets im Plural gedacht werden.

Und doch könnte man in dieser Pluralisierung der Herkünfte aus heutiger Sicht zwei Traditionslinien erkennen, welche bis heute die Literaturen der Welt durchziehen. Zum einen entfaltet das Gilgamesch-Epos, das aus dem letzten Drittel des zweiten vorchristlichen Jahrtausends stammt und auf vorgängige Fassungen zurückverweist, die bis ins dritte vorchristliche Jahrtausend zurückreichen35, vor unseren Augen eine Welt, die in all ihren Dimensionen von ihrem Protagonisten, von ihrem Helden durchmessen wird. Von den ersten Versen dieser Tontafeln aus dem weiten Raum Mesopotamiens geht eine Bewegung der Welterkundung aus, die in der gebundenen Form des Epos die miteinander verbundenen Räume durchmisst und der eigenen Erkenntnis, dem eigenen Weltbewusstsein in Form einer kontinuierlichen, kontinentalen Bewegung zuführt. So erhebt sich in den ersten Versen eine Stimme aus den Innersten, aus dem Tiefsten des Landes und der Erde:

Der, der die Tiefe sah, die Grundfeste des Landes,
der das Verborgene kannte, der, dem alles bewusst ─
Gilgamesch, der die Tiefe sah, die Grundfeste des Landes,
der das Verborgene kannte, der, dem alles bewusst ─

vertraut sind ihm die Göttersitze allesamt.
Allumfassende Weisheit erwarb er in jeglichen Dingen.
Er sah das Geheime und deckte auf das Verhüllte,
er brachte Kunde von der Zeit vor der Flut.36

Alles in diesem Epos ist auf das Allumfassende gerichtet, alles zielt auf ein weltumspannendes Wissen, um die Kunde gerade von jenen Dingen zu vermitteln, die die Welt im Verborgenen zusammenhalten, die die Welt als ein Kontinuum begreifen lassen, in dem sich Gilgamesch dank seiner Reisen, dank seiner Bewegungen ein immer vollständigeres, gleichsam totales Wissen und damit, in dem in diesen Versen angedeuteten Sinne, Weisheit zu erwerben vermag. Der gebundenen Form des Epos entspricht der kontinentale Entwurf einer Welt, die als ein Kontinuum erscheint in Raum und Zeit – auch und gerade dann, wenn die große Flut ihre Geschichte in eine Zeit davor und eine Zeit danach unterteilt.

So vermittelt uns das Gilgamesch-Epos zugleich auch ein ZusammenLebensWissen, in dessen Fokus immer wieder die Suche nach Liebe als Motion und Emotion steht: die Liebe zwischen dem Menschen und dem Tier, in gleichgeschlechtlichen wie heterosexuellen Beziehungen zwischen den Menschen, aber auch zwischen diesen Menschen und den Göttinnen und Göttern. In der gebundenen Sprache des Epos wird uns ein Wissen von den Lebensformen und den Lebensnormen präsentiert und repräsentiert, das zugleich stets ein Wissen von den Grenzen dieses Wissens und seiner Bedingungen birgt37.

Der zweite Traditionsstrang in den Literaturen der Welt – die sich gewiss nicht in ihren Entfaltungen auf diese beiden Traditionen reduzieren lassen – leitet sich von all jenen Schöpfungen her, die im chinesischen Shi Jing, im Buch der Lieder, gesammelt wurden. Auch hier kommt der Liebe die Funktion eines wesentlichen Beweg-Grundes zu. Es sind Lieder, Gesänge und Gedichte, die aus den unterschiedlichsten Städten und Regionen stammen und die in kurzen, höchst kunstvoll und rätselhaft verdichteten Formen eine Welt entwerfen, die wohl kaum aus der Perspektive eines einzigen Helden, einer einzigen Figur erfasst werden kann. Doch ganz wie im Gilgamesch-Epos die Konvivenz38, folglich die Frage des Zusammenlebens zwischen den Menschen und den Göttern, zwischen den Menschen und den Menschen, zwischen den Menschen und den Tieren, den Menschen und den Pflanzen wie auch den Menschen und den Gegenständen, im eigentlichen Zentrum dieses Weltentwurfes steht, so findet sich auch im Shi Jing immer wieder die Frage nach dem Zusammenleben in all seinen Formen, aber auch göttlichen wie menschlichen Normen. Greifen wir hier ein Beispiel aus dem 10. Buch dieser Sammlung heraus, aus dem „Tangfeng – Lieder aus Tang“:

Die Schlingbohne wächst.

Die Schlingbohne wächst deckt die Dornen
die Winde will übers Brachland
mein Schönster ging fort von hier
mit wem leben? ─ allein wohnen.

Die Schlingbohne wächst deckt die Brustbeere
die Winde will übers Grenzland
mein Schönster ging fort von hier
mit wem leben? ─ allein bleiben.

Hornkissen so prall
Brokatdecke so blank
mein Schönster ging fort von hier
mit wem leben? ─ einsamer Morgen.

Des Sommers Tage, des Winters Nächte
nach hundert Jahren
finde ich bei ihm Zuflucht.

Des Winters Nächte, des Sommers Tage
nach hundert Jahren
finde ich in seine Arme.39

Anders als im kontinuierlichen, gleichsam kontinentalen Weltbewusstsein des Gilgamesch-Epos entfaltet sich in den literarischen Kurzformen des Shi Jing eine Welt des Diskontinuierlichen, des Voneinander-getrennt-Seins, das sich zumeist nur prospektiv oder retrospektiv des direkten, unmittelbaren Verbunden-Seins erfreut. Alles in dieser Welt ist in Bewegung, quert vorhandene Grenzen, wächst und überwuchert, erscheint und entschwindet. In dieser Welt der diskontinuierlichen Bewegungen erscheinen die Menschen wie die Pflanzen oder die Gegenstände in hoher semantischer Verdichtung, verweisen stets wechselseitig aufeinander, leben aber doch in ihrer Eigen-Logik, die nicht nur ihre Isolierung, ihre Inselhaftigkeit, sondern auch ihre Relationalität, ihre Vielverbundenheit mit einer Gesamtheit des zwischen Himmel und Erde Existierenden, bedingt und begründet. Denn nichts verbindet sie alle auf dauerhafte Weise, nichts erzeugt eine Kontinuität, welche die angesprochene Relationalität in eine Kontinentalität überführen würde. Alles steht mit allem in Verbindung, ohne doch zu einer Einheit zu verschmelzen – und damit ohne die jeweilige und je eigene Insularität aufzugeben. Zusammenleben ist hier allein aus dem Bewusstsein eigener Diskontinuität bei gleichzeitigem Eingebundensein in einen übergreifenden Zusammenhang möglich. Konvivenz setzt hier auf fundamentale Weise Koinzidenz voraus.

So heißt es etwa im Zyklus Beifeng – Lieder aus Bei mit der explizit markierten Stimme der Ehefrau, die von ihrem in den Krieg gezogenen Ehemann getrennt ist, am Ende von „Die Trommel dröhnt“, das sich auf historische Ereignisse und Kriegszüge bezieht, die in den Zeitraum zwischen 720 und 719 v.u.Z. liegen40:

Tot und lebendig getrennt wir Einsamen
wir waren uns doch einig
ich faßte nach deiner Hand
mit dir wollte ich alt werden.

So weit weg von dir
ist schlecht leben
so weit fort von mir
hältst du nicht Wort.41

Stets erscheint die erhoffte, ja ersehnte Kontinuität und Einheit als ein Trugschluss – ebenso im Raum wie in der Zeit. Leben erscheint im Zeichen der Einsamkeit, der eigenen Inselhaftigkeit – und selbst der Tod verspricht nicht deren Überwindung. Immer wieder tauchen neue Kräfte auf, die ein Zusammenleben unterlaufen, weil die Bewegungen der Lebenden von fremden Gewalten auseinandergetrieben werden.

Das Lebenswissen in den Gedichten des Shi Jing weiß den Zuhörerinnen und Zuhörern ein Lied davon zu singen, wie sehr sich alles in unsteter, unvorhersehbarer Bewegung befindet. So benennt das Gedicht „Die Eintagsfliege“ aus dem „Caofeng – Lieder aus Cao“ den Entwurf einer Konvivenz aus der Kontingenz, aus der Bewegung eines so sehr begrenzten Tanzens:

Die Flügel der Eintagsfliege
tanzen in Farben
mein Herz fürchtet sich so sehr
sei meine Frau, sollst mit mir leben.42

Anders als in der Langform des Gilgamesch-Epos bieten uns die lyrisch beziehungsweise literarisch verdichteten Kurzformen des Shi Jing eine Welt des Abrupten, des Diskontinuierlichen: eine Welt des Inselhaften und mehr noch Archipelischen, das sich aus den wechselseitigen Beziehungen zwischen den so unterschiedlichen Liedern und Gedichten ergibt, zugleich aber auch auf jenen Figuren, Figurationen und Konfigurationen beruht, die sich in den jeweiligen Kurzformen in stetig unsteter Bewegung befinden.

Dem dominant kontinentalen Weltentwurf des Gilgamesch ließe sich so ein archipelisches Weltbewusstsein gegenüberstellen, das in den transareal miteinander über Jahrhunderte und Jahrtausende vernetzten Literaturen der Welt innerhalb höchst unterschiedlicher kultureller Kontexte entstanden ist. Nomadische Bewegungen und Querungen entfalten sich im Gilgamesch-Epos wie im Shi Jing: Menschen, welche die Welt erkunden, Menschen, die mit ihren Herden fortziehen, Menschen, die der Krieg auseinander treibt, Menschen, die sich unablässig in Zeit und Raum bewegen und niemals an Ort und Stelle bleiben (können).

Doch ist es die literarische Kurzform, die durch ihre Verdichtungen Diskontinuitäten erzeugt, welche in der Form literarischer Kürze bereits die insulare Form eines Diskontinuierlichen buchstäblich verkörpern, in der das voneinander Getrennte nach einer Vielverbundenheit strebt, in welcher sich jedes einzelne Gedicht des Shi Jing mit den anderen Gedichten verbinden lässt, ohne doch je zu einer Einheit zu verschmelzen. Es ist die kleine, die gedrängte, die verdichtete Form, die sich der Fusion widersetzt und aus ihrem ästhetischen Widerstand die Widerstandskraft und vielleicht mehr noch die Widerständigkeit ihrer Ästhetik als Form verdichteter Bewegung gewinnt.

Nanotheorie: Modellierung und Miniaturisierung

Wie ließe sich die ästhetische Widerständigkeit der literarischen Kurzform einerseits beschreiben und andererseits mit Blick auf die Lyrik ebenso kulturtheoretisch wie nanophilologisch nutzbar machen? In seinen folgenreichen Überlegungen zu der von ihm wiederholt beschriebenen Kulturtechnik des bricolage hat der französische Anthropologe, Strukturalist und Kulturtheoretiker Claude Lévi-Strauss nach eigenem Bekunden in La pensée sauvage 1962 einmal „kurz zeigen“ wollen, wie sich „die Kunst auf halbem Wege zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und mythischem oder magischem Denken einfügt“43. Denn jedermann wisse, „dass der Künstler zugleich etwas vom Gelehrten und zugleich etwas vom Bastler hat: mit handwerklichen Mitteln fertigt er einen materiellen Gegenstand, der gleichzeitig Gegenstand der Erkenntnis ist“44. Man könne beide „in der Ordnung der Mittel und Zwecke dem Ereignis und der Struktur“ insofern voneinander unterscheiden, als der eine „Ereignisse (die Welt ändern) mittels Strukturen“, der andere aber „Strukturen mittels Ereignissen“ schaffe45.

Aus heutiger literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive ist es gewiß aufschlussreich zu beobachten, wie Claude Lévi-Strauss auf der Grundlage von ihm (in den verschiedenartigsten Kulturen) gesammelter Mythen seine Denkweise einer „aposteriorischen, strukturalen Logik der Umordnung“ – und damit gerade nicht einer apriorischen Logik der Unterordnung anlegt46. Vieles im Denken des Strukturalisten ist weitaus offener und beweglicher, als es die nachfolgende poststrukturalistische Theoriegeneration wahrhaben wollte. Entscheidend an diesen Überlegungen von Claude Lévi-Strauss zum – so könnten wir es nennen – „Bewegungsort“ des Künstlers ist aber weniger eine präzise Zuordnung im Spannungsfeld von Gelehrten und Bastlern, als die Tatsache, dass der Verfasser von La pensée sauvage sich im unmittelbaren Anschluss an die soeben angeführte Passage der Frage zuwendet, ob das Kunstwerk „nicht immer und überall“ dem Typus des verkleinerten Modells, des modèle réduit, entspreche47. Diese kleine Bemerkung ist – gerade auch mit Blick auf literarische Kurzformen, die im Zentrum der hier vorzustellenden Überlegungen stehen – von großer ästhetischer wie epistemologischer Relevanz und Tragweite.

Denn jedes verkleinerte Modell besitzt, folgen wir Lévi-Strauss, eine „ästhetische Berufung“ und eine „dauernde Kraft“, die aus seinen ihm eigenen Dimensionen stamme48. Selbst eine Darstellung in Lebensgröße setze in Malerei oder Bildhauerei stets das verkleinerte Modell voraus, werde doch auf bestimmte Dimensionen des Objekts verzichtet: bei einem Gemälde etwa auf das Volumen, bei einer Skulptur etwa auf Gerüche oder Farben, wobei in beiden Bereichen überdies auf die zeitliche Dimension verzichtet werde, da „das Ganze des dargestellten Werkes in einem einzigen Augenblick festgehalten wird“49. Die Kraft der künstlerischen Konzeption erwächst also, so ließen sich diese Überlegungen zu Künstlern, Kunstwerken und Kunst präzisieren, aus dem Verzicht, aus der Verkleinerung, kurz: aus einer Modellierung, die auf Miniaturisierung beruht und auf Miniaturisierung setzt. Dies ist aus nanophilologischem Blickwinkel ein wichtiger, ein folgenreicher Befund.

Aus seiner Perspektivik des bricolage spricht Claude Lévi-Strauss hier von „einer Art Umkehrung des Erkenntnisprozesses“; denn „wenn wir das wirkliche Objekt in seiner Totalität erkennen wollen“, so der französische Anthropologe, dann müssten wir die „Totalität teilen“50, mithin eine Verkleinerung wählen, die uns erst den Zugang zum Ganzen gewährleistet. Das Subjekt gewinnt Macht über das verkleinerte Objekt, wobei im modèle réduit die „Erkenntnis des Ganzen der Teile“ vorausgeht, wodurch sowohl dem Verstand als auch den Sinnen „ein Vergnügen (plaisir)“ geboten werde, das „schon auf dieser Basis allein ästhetisch genannt werden“ könne51. Es ist ein Vergnügen, das man sicherlich auch als eine Lust bezeichnen kann: als lustvolles plaisir, das sich aus einer Erkenntnis speist, welche Totalität durch Miniaturisierung zu begreifen und damit zugleich zu ergreifen und in den Griff zu bekommen sucht. Small is beautiful? Ja, aber die ästhetische Kraft dieser Schönheit der Kurzform beruht nicht zuletzt auf ihrer theoretischen Pertinenz und Performanz.

Die Selbstermächtigung des modellierenden wie des erkennenden Subjekts, sich des Objekts in seiner Totalität zu versichern und damit mehr noch zu bemächtigen, geht folglich mit einer (künstlerischen) Modellierung einher, die im Sinne von Jurij M. Lotman zweifellos als „sekundäres modellbildendes System“52 bezeichnet werden kann. Dabei hielt der russische Semiotiker zurecht fest, dass ein derartiges System vom Typus Kunst „sein eigenes System von Denotaten, das nicht etwa eine Kopie, sondern ein Modell der Welt der Denotate in allgemeinsprachlicher Bedeutung darstellt“53, konstruiere. Der Miniaturisierung als Modellierung liegt damit eine Bemächtigung und zugleich (Selbst-) Ermächtigung zugrunde, die im übrigen ohne ihre Lust am (kurzen) Text nicht zu begreifen ist. Denn nicht allein in der schlichten Kürze liegt die Würze: Es geht vielmehr um eine Kürze, die Modellbildung voraussetzt und zum Ob-jekt, zum Gegen-Stand macht.

Zugleich aber gilt es zu verstehen, dass wir es hierbei nicht nur mit einer höchst komplexen Modellierung, sondern auch mit einer Miniaturisierung zu tun haben, die mit der Modellierung fraglos einhergeht, nicht aber auf diese reduziert und damit negiert oder zumindest bagatellisiert werden kann. Das modèle réduit darf im Sinne von Lévi-Strauss gerade nicht das Modell auf seine künstlerisch unabschließbare Modellierung reduzieren, sondern muss die Reduktion selbst theoretisch so konfigurieren, dass aus ihr in aller Radikalität ein Modell dessen erkennbar werden kann, was der Prozess der Miniaturisierung mit sich bringt und bedingt. Der Miniatur eignet nichts Niedliches: Sie packt zu, ergreift, bemächtigt und ermächtigt sich dort, wo sie sich als Modellierung einer Totalität begreift.

Wie im Modell – sei es primär künstlerischer oder theoretischer Natur – auch immer die Maßstäblichkeit gegenüber der „Lebensgröße“ definiert sein mag: Die Modellierung ist als Verkleinerungsprozess nicht nur mit einem Erkenntnisprozess verbunden, sondern weiß sich auf intimste Weise mit einer Ermächtigung, einer Bemächtigung, einer intellektuellen und lustvollen Durchdringung verknüpft, insofern sich im Modell stets miniaturisiert das absichtsvolle Abzielen auf eine Totalität verbirgt. Die ganze Welt in einem Buch: Diese von Alexander von Humboldt mit Blick auf seine literarisch-wissenschaftliche Summa, seinen Kosmos, geprägte Formel54 mag zeigen, dass sich gerade auch an dieser ebenso virulenten wie violenten Stelle, an diesem ebenso gewaltigen wie gewalttätigen Durchgangspunkt jedweder menschlichen Kreation die Figuren von artiste und savant, von Künstler und Gelehrtem, nicht scharf voneinander abtrennen, voneinander abspalten lassen. In der Modellierung, in der Miniaturisierung gehen beide lustvoll und erkenntnisträchtig ineinander über.

Wenn aber die Frage nach der Modellierung und der mit ihr verbundenen Miniaturisierung für den Bereich der Kunst – wie die Überlegungen von Claude Lévi-Strauss belegen mögen – schon seit längerem aus verschiedenen Perspektiven erkundet und erforscht worden ist, so kann dies – wie mir scheinen will – weit weniger für den Bereich der Sciences humaines behauptet werden. Mehr noch: Selbst wenn die Frage nach einer Miniaturisierung, die jede Theorie notwendig mit sich bringt, in den unterschiedlichsten Disziplinen auf verschiedenartigste Weise bereits aufgeworfen sein sollte, so ist die damit im Grunde einhergehende Frage nach einer Theorie, die sich selbst in eine äußerste Verknappung und vielleicht besser noch Verdichtung gleichsam zusammenzöge, zumindest im Bereich der Philologien, aber wohl auch insgesamt in den Kultur- und Geisteswissenschaften bislang in einem zusammenhängenden und die genannten Aspekte zusammenführenden Sinne noch nicht nachhaltig gestellt worden. Wie aber ließe sich dann die Beziehung zwischen dem Kunstwerk und der verknappten theoretischen Form, zwischen der lyrischen Kurzform und der in diesem Fall in ihr selbst zum Ausdruck gebrachten Theorie als Nanotheorie überhaupt vorstellen?

Denn was bedeutet es genau, welche epistemologischen wie poetologischen Konsequenzen entstehen, wenn sich die Theorie nicht allein auf der Ebene des Erkenntnisprozesses eines Verkleinerungsverfahrens bedient, sondern die in ihr stets implizierte Miniaturisierung auf ihren eigenen Schreibprozess wendet und anwendet? Und welche Chancen, welche Möglichkeiten, aber auch welche Abgründe eröffnen sich oder tun sich auf, wenn sich die Theorie nicht nur in den Natur- und Technikwissenschaften, sondern auch in den Kultur- und Geisteswissenschaften auf die Größe und den Maßstab einer Formelhaftigkeit verdichtet, die in ihrem Bereich höchst unzulänglich ausformuliert und mehr noch aus-gedacht worden ist? Und schließlich: Was sind die Folgen, die sich aus der hier skizzierten und im weiteren näher entfalteten Problematik für das Verhältnis zwischen Theorie und Totalität mit Blick auf die literarische Kurzform ergeben? Es wird folglich die Frage zu erörtern sein, inwiefern die literarische Kurz- und Kürzestform und dabei insbesondere auch die Minifiktion und Lyrik unserer Zeit als Experimentierraum von Denk- und Schreibformen verstanden werden kann, in denen sich die Theorie der Mittel der Kunst in verdichteter Form bedienen kann.

Archipelisierung: Insularität und Relationalität von Kunst und Theorie

Gleich im ersten Kapitel seines zwischen Mai 1942 und April 1945 in seinem Istanbuler Exil verfassten Hauptwerk Mimesis: dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur hat der Romanist Erich Auerbach im Abendland zwei Traditionsstränge ausgemacht, um eine ganze Welt in ihrer Totalität aufscheinen zu lassen. Dabei ziele als erstes fundamentales Modell der „biblische Erzählungstext“, so Auerbachs kluge, aber oft überlesene Bemerkung, auf die umfassende Darstellung von „Weltgeschichte; sie beginnt mit dem Beginn der Zeit, mit der Weltschöpfung, und will enden mit der Endzeit, der Erfüllung der Verheißung, mit der die Welt ihr Ende finden soll.“55 Nichts ist außerhalb dieses Weltentwurfes vorstellbar: Alles muss auf ihn – und ihn allein – bezogen werden.

Das zweite grundlegende Modell einer umfänglichen Welterfassung bilden im Abendland laut Auerbach die „homerischen Gedichte“: Sie geben „einen bestimmten, örtlich und zeitlich begrenzten Ereigniszusammenhang vor“56. Neben ihnen sind auch andere Ereigniszusammenhänge sehr wohl denkbar und künstlerisch wie theoretisch gestaltbar, ohne dass sie mit dem homerischen Weltentwurf in Konflikt geraten müßten. Anders das Alte Testament, der biblische Erzählungstext, der sich als totale Weltgeschichte all seiner Leser mit der ihm eigenen Gewalt zu bemächtigen versucht. Hier wird der Anspruch auf Totalität einer „dargestellten Wirklichkeit“ mit dem totalen Anspruch gekoppelt, Macht über das Leben der Leserschaft zu gewinnen.

So ist das alttestamentarisch-biblische Weltmodell zwar „viel auffälliger zusammengestückt“; doch gehören „die einzelnen Stücke“, anders als die homerischen Gedichte, „alle in einen weltgeschichtlichen und weltgeschichtsdeutenden Zusammenhang“57. So entspricht der raum-zeitlich eng begrenzten Fragmenthaftigkeit von Ilias und Odyssee eine große erzählerische Geschlossenheit, während umgekehrt die einheitliche „religiös-weltgeschichtliche Perspektive“58 des Alten Testaments sich auf der Textebene in einer gleichsam zusammengestückelten Fragmentarität niederschlage. Man könnte hier von einer zweipoligen Dynamik sprechen, welche die abendländische Literatur auf durchaus paradoxe Weise in ihrer Gesamtheit antreibt und vorantreibt.

Der von Erich Auerbach herausgearbeitete doppelte Traditionsstrang der literarischen Darstellung von Wirklichkeit in der abendländischen Literatur lässt sich in seiner Wirkmächtigkeit bis heute – und im Zuge der langanhaltenden Globalisierungsgeschichte sicherlich auch weit über den Bereich des Okzidents hinaus – nur schwerlich unterschätzen. Denn dieser Doppelstrang hat mit seiner historischen Tiefenschärfe nicht nur die „Wirklichkeit“ literarisch „dargestellt“, hat nicht allein eine implizite Theorie, gleichsam eine Leseanweisung für unsere Welt auf subtile Weise mitgeliefert, sondern vielleicht mehr noch diese Welt des Abendlands hervorgebracht und generiert, oder anders: durch (zweifellos miniaturisierende) Modellierung erst eigentlich geformt und wirklich gemacht. Die weltenerzeugende Kraft dieses verdoppelten Erzähl- und Weltdeutungsmodells von Weltgeschichte und Geschichten der Welt prägt unser Verständnis der Art und Weise, wie unsere Lebenswelt, aber auch – um einen Gedanken von Roberto Esposito aufzugreifen – das „Weltleben“59 selbst verstanden werden kann: und dies bis in die Gegenwart hinein.

Es gibt deutliche Indizien dafür, dass sich die von Auerbach herausgearbeitete Doppelsträngigkeit abendländischer Welterzeugung auch in anderen kulturgeschichtlich wie kulturtheoretisch relevanten Ausdrucksformen nachweisen lässt. Versucht man etwa, auf dem Gebiet abendländischer Kartographie dieser Fragestellung nachzugehen und zu erforschen, ob sich im kartographischen Weltentwurf ebenfalls zwei unterschiedliche Traditionslinien nachzeichnen lassen, so kann man in der Tat herausarbeiten, dass man zwischen einer kontinuierlichen, wenn auch aus unterschiedlichen Materialien zusammengestückten Darstellungsweise und einer im eigentlichen Sinne fraktalen60 Lösung unterscheiden kann. Denn dass wir es beim Insel- und Archipelmodell letztlich mit fraktalen Strukturierungen zu tun haben, wie sie auch in Claude Lévi-Strauss’ Vorstellung vom modèle réduit zum Ausdruck kommen, dürfte evident geworden sein.

Die Weltkarten, welche zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstanden und die ungeheuer rasche, geradezu velociferische Expansion insbesondere der iberischen Mächte verzeichneten, weisen einerseits eine kontinentale, auf die Darstellung kontinuierlicher Landmassen vorrangig fokussierende Traditionslinie auf, zu der man gewiß jene Weltkarte des Jahres 1507 zählen darf, auf welcher der ehemalige Freiburger Student Martin Waldseemüller zu Ehren Amerigo Vespuccis zum ersten Mal den Namen „America“ einschrieb. Andererseits lässt sich zugleich jedoch „unterhalb“ dieser dominanten Filiation eine andere Traditionslinie aufzeigen, für welche die aus dem Jahre 1528 stammende und in Venedig veröffentlichte Weltkarte aus dem Isolario des Benedetto Bordone stellvertretend stehen kann, ein Weltentwurf, der laut Originaltitel „alle Inseln der Welt“ wiederzugeben behauptet und die ganze Welt als eine Relationalität unterschiedlichster Inseln mit ihren jeweiligen Charakteristika zu deuten sucht61. Dabei erscheint es nicht als Zufall, dass sich Benedetto Bordone zunächst als Miniaturist einen Namen gemacht hatte, bevor er mit seinem weltumspannenden Isolario Kartographiegeschichte schrieb.

Diese letztgenannte Karte schreibt sich ein in die insbesondere im Zeichen Venedigs entstandene Tradition des Insel-Buches, wie sie der berühmte, erstmals 1485 vorgelegte (und ebenfalls venezianische) Isolario des Bartolomeo dalli Sonetti wohl am eindrucksvollsten vor Augen führt62. Dieser Isolario konzentrierte sich noch vor der „Entdeckung“ Amerikas nahezu ausschließlich auf den zwischen Asien und Europa liegenden Archipel des Ägäischen Meeres, wobei jeder einzelnen Insel-Karte Sonette beigegeben wurden, welche die naturräumlichen, geschichtlichen, politisch-militärischen oder mythologischen Besonderheiten der jeweiligen Insel besangen. Die ikonotextuelle Relation zwischen Karte und Gedicht erscheint insofern nicht als zufällig oder bedeutungslos, als die damit verbundene relationale Logik noch in jüngster Zeit von einem der großen Insel-Dichter des ausgehenden 20. Jahrhunderts herausgearbeitet wurde. So setzte der karibische Literaturnobelpreisträger Derek Walcott in seiner Stockholmer Dankesrede vom 7. Dezember 1992 mit klug gewählten Worten die Dichtkunst mit der Insularität gleich und betonte pointiert: „Poesie ist eine Insel, die vom Hauptland weggebrochen ist“63.

Ohne an dieser Stelle die doppelte Logik einer in sich geschlossenen und mithin isolierten Insel-Welt und einer in weltweiten Relationen befindlichen archipelischen Inselwelt näher ausführen zu können64, sollte deutlich geworden sein, dass sich die beiden von Auerbach analysierten Traditionsstränge sehr wohl auch im komplexen Medium der frühneuzeitlichen Kartographie auffinden lassen. Sie führen ebenso im literarischen wie auch im kartographischen Bereich jene Kippfigur vor Augen, die sich im Abendland bis heute in einem Spannungsverhältnis zwischen kontinuierlichen und diskontinuierlichen, zwischen alles akkumulierenden und fraktalen Logiken bewegt und damit Modellbildungen der Welt betreibt, die in ihrer Totalität als Summe oder als mise en abyme (André Gide), als umfangreiche Zusammensetzung oder als modèle réduit (Claude Lévi-Strauss), als Panorama oder als Fraktal (Benoît B. Mandelbrot) aufgefasst werden können. Ein adäquates Verständnis der komplexen Entwicklungen im Bereich der aktuellen Lyrik wie auch von Kürzestformen literarischer Prosa scheint mir ohne eine Berücksichtigung dieses Hintergrundes, der sehr wohl mit den sich retrospektiv verzweigenden Traditionslinien der Literaturen der Welt in Verbindung zu bringen ist, schlechterdings nicht möglich.

Dass sich zwischen den hier unterschiedenen Traditionslinien auf der Ebene der Literaturen der Welt – wie jener im Bereich des Abendlandes – stets die unterschiedlichsten Mischungsverhältnisse ergeben konnten und ergaben, versteht sich im Kontext des hier Dargestellten sicherlich von selbst. Tendenziell lässt sich dabei feststellen, dass die erstgenannte, kontinuierliche beziehungsweise kontinentale Traditionslinie eher zu einer quantitativ geringeren Miniaturisierung des angestrebten Modells neigt als die fraktale, gleichsam insulare und an kürzeren Ausdrucksformen ausgerichtete Tradition, die wie in einer Gideschen mise en abyme ihr miniaturisiertes Modell stets noch mindestens einmal miniaturisiert in sich enthält: oftmals in der verkleinerten Form einer Seite, eines Abschnitts oder eines einzigen Satzes. Auch dies ist ein Aspekt, den es in den nachfolgenden Überlegungen weiter zu entfalten gilt. Denn die verdichtete Bewegung innerhalb der literarischen Kürzestformen der Gegenwart verweist in ihrer Vektorisierung häufig darauf, dass sie in ihrer Miniaturisierung nicht nur künstlerische Modellierung betreibt, sondern eine Modellbildung vorantreibt, die den Bewegungs-Raum der Lyrik zum literarisch-ästhetischen Experimentierraum macht.

Die literarische Kurzform: Welt-Modell und Experimentierraum der Bewegung

Die verdichtete Bewegung der literarischen Kurz- und Kürzestformen in Lyrik wie Prosa steht folglich – und dies nicht nur im Okzident – in einer langen Tradition einer Modellbildung, mit deren Hilfe experimentell eine demiurgische ästhetische Kraft65 entfaltet wird, die ihre welt(en)erzeugende Wirkung insbesondere mit Hilfe von Archipelisierung und Fraktalisierung erzielt. Im Archipel der Mikroerzählungen oder Gedichte etwa eines Bandes kann aus der Kotextualität, der Kopräsenz der vielen Kurzformen, das Modell und die Theorie einer Relationalität, einer Vielbezogenheit und Vernetzung entstehen, das weit über die ebenfalls entfaltete historische und politische, oder kulturelle und literarische Kontextualität hinausgeht. Lyrik steht ein für einen sinnlich erlebbaren und nacherlebbaren Raum des Experimentierens nicht allein mit dem Vergangenen, mit der Memoria, sondern auch und gerade mit dem Künftigen: mit den Sprachen, Formen und Normen einer Zukunft, die in der Pluralität möglicher Zukünfte schillernd aufscheint.

Wenn in der Folge das Werk eines Lyrikers und experimentellen Prosaschriftstellers exemplarisch herausgegriffen, befragt und analysiert werden soll, dann erfolgt dies in dem Bewusstsein, dass die hier vorgestellten Formen von Kurz- und Kürzesttexten repräsentativ sind für jenen nicht kontinuierlich-kontinentalen, sondern archipelisch-fraktalen Traditionsstrang, der in den bisherigen Überlegungen aus unterschiedlichen Blickpunkten herauspräpariert werden sollte. Denn gerade in den Kurz- und Kürzestformen überschneiden sich Miniatur und Modell, das Lustvoll-Sinnliche und die Theorie in einer experimentellen Anordnung, die sich aus einer Poetik der Bewegung entfaltet und daher auch für ihre Analyse nach Konzepten einer solchen vektoriellen, zutiefst dynamischen Poetik verlangt.

Formen und Normen unterschiedlichster Bewegungen stehen im Zentrum des schriftstellerischen Werkes des 1961 im Schwarzwald als Sohn andalusischer Migranten geborenen Lyrikers José F.A. Oliver. Die Sprachenquerung, die translinguale Praxis seiner Gedichte, stellt dabei von Beginn an ein Charakteristikum dar, welches die Arbeit dieses Schriftstellers an der Sprache zu einer Arbeit an den Sprachen macht. Wie könnte sich in einer Zeit, in der eine überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung mehrsprachig ist, die Dichtkunst, die Literatur dieser Aufgabe, sich mit verschiedenen Sprachen gleichzeitig zu beschäftigen, ja in verschiedenen Sprachen gleichzeitig zu schreiben, entheben? Nicht nur vor dem Hintergrund der Migration seiner Eltern konfiguriert daher die künstlerische Auseinandersetzung dieses in Deutschland aufgewachsenen Autors mit spanischem Pass eine ebenso ästhetische wie theoretische Praxis, welche eine Welt niemals aus einer einzigen Sprache aufzubauen und zu perspektivieren vermag. Das Welt-Modell des im Schwarzwald aufgewachsenen und vorwiegend im Schwarzwald lebenden Schriftstellers kann daher kein einsprachiges sein.

Wenden wir uns zunächst der spezifisch lyrischen Produktion zu. Die Sprachen von José Francisco Agüera Olivers Lyrik sind ebenso das (sicherlich den bisherigen dichterischen Schwerpunkt bildende) Deutsche wie das Spanische, das Alemannische wie das Andalusische, wobei etwa die dreisprachige Ausgabe seines Gedichtbandes Duende66, in dem sich zahlreiche spannungsvolle Kombinatoriken zwischen der hochdeutschen „Ballade vom Duende“, der kastilischen „Balada del Duende“ und dem badischen „Duendelied“ ergeben, einer translingualen Poetik der Bewegung zuordenbar ist. Die dreisprachige Anrufung des Duende eröffnet den erstmals 1997 im badischen Gutach bei Hausach erschienenen Band, dem 1998 im übrigen eine mexikanische Ausgabe folgte:

Ich rufe dich November
In diesen Breitengraden Einsamkeit
Und gleichzeitig Zauber gegen die Kälte

Te nombro Noviembre
En esta latitud de soledad
Y al mismo tiempo Magia contra el frío

Ich heiß de November zum Geschlächt
On dem gottverlossene Loche Norde
Un glichzittig Zeiche gege s Friere67

Der duende, der Kobold, ist bereits in sich eine Bewegungs-Figur, die entsprechend ihrer Tradition niemals zur Ruhe kommen kann. Doch wird bereits zu Beginn dieses dreisprachigen Gedichtbandes die hier entfaltete Poetik der Bewegung auf einer translingualen Ebene deutlich, beruht sie hier doch auf einem ständigen wechselnden Verweis der drei dichterisch verwandten Sprachen aufeinander, so dass eine Multirelationalität entsteht, die in ihrem Verweisungscharakter archipelisch strukturiert ist. Der écart, die Abweichung zwischen dem Deutschen, dem Kastilischen und dem Alemannischen zeigt, dass keine der Sprachen „alles“ sagt, dass jede der dichterischen Sprachen eine andere Perspektive eröffnet, dass sie in ihrer translingualen Strukturierung nicht auf die Logik einer einzigen Sprache reduzierbar sind. Olivers sprachenverfertigtes Welt-Modell besagt, dass unsere Welt nicht monolingual und damit aus dem Blickwinkel einer einzigen Sprache zu begreifen ist.

Doch diese translinguale, unterschiedliche Sprachen querende Dimension ist gerade auch in jenen Bänden allgegenwärtig, die auf den ersten Blick „allein“ auf Hochdeutsch verfasst wurden. Denn unter der einen Sprache sind bei José Oliver die anderen dichterischen Sprachen stets präsent. Wie sehr sich diese translinguale Dimension mit der Poetik eines Schreibens ohne festen Wohnsitz68 verbindet, äuterte der Lyriker in einem 2002 für die führende spanische Tageszeitung El País durchgeführten Interview auf höchst aufschlussreiche Weise:

Das Spanische ist längst zum Wesen der deutschen Sprache geworden, die ich entwerfe. Meine Vergangenheit und ihr Rhythmus finden sich ebenso darin wie die Herausforderung meiner Gegenwart, die mit Blick auf ihren Ursprung nicht deutsch ist, aber sehr wohl das Deutsche zu leben und die Entwicklung dieser Sprache anzutreiben sucht. Deutschland ist heutzutage auch ein türkischer, griechischer, italienischer oder spanischer Dichter oder, genauer noch, die von ihnen in deutscher Sprache verfasste Literatur. Ich bin kein deutscher Dichter, aber sehr wohl Dichter auf deutsch.69

Gerade weil die poetische und poetologische Produktion von José F.A. Oliver ebenso in ihrer translingualen wie in ihrer autobiographischen Dimension eine intensive Zugehörigkeit zu den Literaturen ohne festen Wohnsitz aufweist und deren Poetiken der Bewegung vorangetrieben hat (und weiter vorantreibt), hält diese Dichtkunst auch ein sehr spezifisches LebensWissen und ÜberLebensWissen gerade auch im Bereich all jener Migrationen bereit, die nicht nur das 20. Jahrhundert als das sogenannte „Jahrhundert der Migrationen“ geprägt haben, sondern auch in einem noch wesentlich globalisierteren Sinne die Migrationsflüsse in der vierten Phase beschleunigter Globalisierung bis in die Gegenwart charakterisieren. Als Lyrik ohne festen Wohnsitz entfaltet die Klang- und Schreibwelt Olivers ihre Dichtkunst aus Bewegungen ebenso translingualer wie transarealer Art.

Allgegenwärtig ist diese vieldimensionale Vektorizität bereits in seinem frühen, 1993 erschienenen Band Gastling, wo es gleich zu Beginn des Klappentextes von José Oliver heißt: „Geboren 1961 in Hausach im Kinzigtal (Schwarzwald) als Sohn spanischer Gastarbeiter, die 1960 aus Málaga (Andalusien) in die Bundesrepublik Deutschland eingewandert sind, ohne damals bewusst einzuwandern“70. Die Verwendung des problematischen, zugleich aber auch problematisierten Begriffs „Gastarbeiter“ im Paratext eröffnet das Spiel mit allen Varianten vorgefundener wie erfundener, vor allem aber auch erlebter und gelebter Hospitalität, die in ihrem widersprüchlichen Verhältnis zur Arbeitsmigration bereits den Eröffnungstext prägen:

angezählt

ins land geboren
zufällig eins
entzweit
angekommen
aufgebrochen

gastling71

Hier wird in hochgradig miniaturisierter Form nicht nur eine individuelle, zugleich aber auch verallgemeinerbare Biographie einer Migration in ein geteiltes Land, nach Deutschland, erzählt, sondern im Angezähltsein das in allem Erzählen anwesende Zählen im Aufzählen sinnlich wahrnehmbar gemacht. Der als Titel gewählte Begriff aus der Boxersprache macht von Beginn an deutlich, dass die Rolle des „Gastlings“ – in dem der „Fremdling“ unter dem „Gastarbeiter“ durchklingt – überaus konfliktbeladen ist. Unter dem Gast bleibt so der Fremde präsent, obwohl dieser Fremde doch im Land geboren ist und aus dieser Perspektive „eigentlich“ nicht als Fremdling zu betrachten wäre. Das Modell einer migratorischen Entzweiung entsteht, wobei sich die autobiographisch aufgeladene gesellschaftspolitische Theorie mit der poetischen und poetologischen Praxis in diesem Gedicht des studierten Literaturwissenschaftlers aufs Engste verbindet. Denn im Fremd-Bleiben des Gastlings ist die fortgesetzte nomadische und nomadisierende Bewegung bereits angelegt: Das Nomadische bricht in dieser Bewegungs-Figur auf. Es ist ein verdichteter Text voller Unruhe, des ständigen Aufbrechens und Aufgebrochenseins einer hochgradig vektorisierten Figur.

In diesem miniaturisierten Lebenslauf scheint das Prinzip der Nativität insofern außer Kraft gesetzt, als sich hier das Hineingeborenwerden in ein geteiltes, in ein entzweites Land nicht auf die Zweistaatlichkeit von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik allein beziehen lässt. Denn „entzweit“ ist dieses Land unverkennbar auch in einer Hinsicht, die den „Gastling“ letztlich zum Wanderer zwischen den Welten und – auch unabhängig von der eher formalen Frage des Reisepasses – zum Dichter ohne festen Wohnsitz macht: vorwärtsgetrieben von einer Unruhe, die keine eindeutige Bewegungsrichtung kennt.

Fragen wir jedoch hartnäckiger nach der Problematik der hier zentral gestellten Nativität, so ließe sich auf Giorgio Agamben verweisen, der unter Rückgriff auf Überlegungen Hannah Arendts aus biopolitischer Perspektive zurecht betonte, dass es das im 20. Jahrhundert verstärkt zu beobachtende und auch quantitativ nicht länger zu vernachlässigende Aufbrechen der „Kontinuität zwischen Mensch und Bürger, zwischen Nativität und Nationalität, Geburt und Volk“ sei, das alle „Ursprungsfiktion“ im Kontext moderner Nationbildung in eine Krise gestürzt habe72. Die Lyrik des schwarzwaldandalusischen Autors mag für diese These einen erfrischenden, höchst kreativen Beleg darstellen: Sie ist in ihrer verkürzten, miniaturisierten Form ein fraktales modèle réduit, das als das Ergebnis literarischer Intensivierung die verdichtete Bewegung sinnlich erlebbar und nacherlebbar werden lässt. Ruhe, Stillstand und Sesshaftigkeit sind hier nicht möglich.

Das Spiel mit den Zahlen, mit Einheit und Entzweiung, öffnet sich auf eine Vervielfachung, die im Titel „angezählt“ bereits Gestalt angenommen hat: Das Aufgezählte wird zum Angezählten, das als das im Gedicht Erzählte aber in eine offene, von Unruhe geprägte Bewegung überführt wird: Im Lexem „aufgebrochen“ wird das Bewegungsmuster des Aufbruchs eingeblendet, ohne dass ein Ziel dieses Aufbrechens erkennbar würde. Im chassé-croisé zwischen „aufgebrochen“ und „angezählt“ wird zugleich aber auch das Angebrochene wie die Aufzählung hörbar, die im Mikronarrativ dieses lyrisch verdichteten Erzähltextes sehr eindrücklich verstehbar wird. Man könnte – mit der Bitte um Nachsicht für den Neologismus – von einem Anerzählen sprechen73. Lyrik und Mikroerzählung berühren sich in diesem Kürzesttext auf faszinierende Weise und demonstrieren ihr wechselseitiges Verwobensein.

Die kleine, lyrisch verdichtete Erzählung vom Angezähltsein steht in vielfältiger Beziehung zur großen Erzählung des 20. Jahrhunderts: Die kleine Geschichte ist ohne die große Geschichte nicht denkbar. Aber erst die kleine, miniaturisierte Geschichte entfaltet deren Theorie und verwandelt sie zugleich – und darin besteht ihre ästhetische Kraft – in eine erlebte und (nach-),erlebbare Geschichte. Denn Literatur zielt nicht auf dargestellte Wirklichkeit, sondern auf die Darstellung gelebter und erlebter, aber auch lebbarer und erlebbarer Wirklichkeit – und die Lyrik bildet hierin ebenso wenig wie die Minifiktion überhaupt keine Ausnahme.

Halten wir also fest: Die Zufälligkeit des Ins-Land-Geboren-Seins, die ein Ergebnis der zugrunde liegenden Bewegung der Migration ist, wird unter Zuhilfenahme des Paratextes zugleich durch die Tatsache erweitert, dass es sich bei diesem Land zufällig um eines handelt, das „entzweit“, also über längere Zeit in Form zweier getrennter Länder, existierte. Das Mikronarrativ der Verbformen „angezählt“ – „geboren“ – „entzweit“ – „angekommen“ – „aufgebrochen“ macht dabei klar, dass das Geboren-Sein nicht bei einem nachfolgenden Angekommen-Sein stehengeblieben ist, sondern dass im Gedicht alle jene Elemente aufbrechen oder aufgebrochen werden, die den Gastling als Fremdling zum wieder Aufbrechenden, nicht zur Ruhe kommenden Nomaden machen: ein Bewegungs-Bild der Unruhe.

Die Vektorisierung umfaßt keineswegs nur die historisch akkumulierten, „angesammelten“ Bewegungen, sondern schließt auch die künftigen Bewegungen und Bewegungsfiguren wesentlich mit ein. Das Hineingeboren-Sein in ein Land, in dieses entzweite Land, das zufällig noch ein historisch in gewisser Weise zweigeteiltes baden-württembergisches „Ländle“ ist, hat den Sohn der „damals“ nicht bewusst Eingewanderten nicht vor einem Status als Fremdling und Gastling – und das pejorative „Anhängsel“ ist nicht abzuschütteln – bewahrt. Die Entzweiung geht tiefer als in die jeweils politische Struktur: sie erfasst das Leben des Gastlings in all seinen sichtbaren und unsichtbaren Bewegungen, seinen motions und emotions. Wie wäre ein derartiges Leben aus der Perspektive einer einzigen Sprache darstellbar? Wie wäre die Vielzahl an widersprüchlichen Bewegungen auf monolinguale, auf monokulturelle Weise zählbar und erzählbar? Die von Oliver geschaffene experimentelle Ausdrucksform findet ästhetisch überzeugende Antworten auf diese Fragen kraft einer translingualen Poetik der Bewegung, die sich stets prospektiv zu öffnen vermag. Ihre ästhetische Kraft (und Widerstands-Kraft) ist verdichtete Bewegung, vorwärtsgetrieben von einer fundamentalen Unruhe.

In seinem 1997 erschienenen Band austernfischer marinero vogelfrau hat José F.A. Oliver derartige Bewegungsmuster immer wieder literarisch verdichtet und damit immer von neuem Lyrik als verdichtete Bewegung in Mikrotexten komprimierter Vektorizität sinnlich erlebbar gemacht. Wo hört hier die Lyrik auf? Und wo beginnt die Erzählung in Form miniaturisierter Mikrotextualität? Ein besonders schönes Beispiel für die Unentscheidbarkeit dieser Frage ist sein Gedicht „flüchtlings aufschub betteln“, wo es heißt:

flüchtlings aufschub betteln

wir könnten doch nur fliehen
von ort zu ort/ und bleiben74

Auch hier ist im nunmehr kollektiven Wir eine Bewegungsfigur gegenwärtig, die „von ort zu ort“ führt und keiner eindeutig festgelegten Bewegungsrichtung gehorcht. Es geht nicht um ein festes Ziel, um eine klar bestimmbare Teleologie, sondern um Bewegungs-Figuren, wie sie der Gastling, der Fremdling, der Flüchtling darstellen und vor Augen führen. Auch hier ist Miniaturisierung Teil einer Theorie, die sich nicht auf den Begriff bringen lassen will, sondern ihr Begreifen an die unabschließbare (Denk-),Bewegung knüpft, die ihre dichterische und erzählerische Praxis entwirft. Dem asymmetrischen Begegnungsmodus des Bettelns ist stets die Bewegung als zufällige Begegnung, als Kontingenz und Koinzidenz, eingeschrieben. Aufschub kann hier jeder-zeit entstehen, bleibt aber prekär.

Denn auch die Bewegung selbst kann immer und an jedem Ort suspendiert und in ein (temporäres, transitorisches) Bleiben überführt werden. Die Bewegungsstruktur des Flüchtlings ist dabei noch radikaler als jene des Gastlings einer „angezählten“ Dynamik verpflichtet, die Aufschub benötigt und um Aufschub betteln muss. Dieser Aufschub als Aufschieben weiterer Fluchtbewegungen ist jedoch nicht mehr und nicht weniger als ein Atemholen in einer diskontinuierlichen Bewegung, deren Vektorizität sich komplex aus einzelnen, nicht einer gemeinsamen Richtung, einer gemeinsamen Sinngebung verpflichteten Bewegungen zurechnen lässt. Die Diskontinuität der lyrischen Kürzestform ist in der Diskontinuität der in ihr erzählten Bewegungen von Ort zu Ort im vielfachen Sinne aufgehoben.

Der Flüchtling ist in diesem Sinne die Zuspitzung von Fremdling und Gastling – dies machen gerade auch seine unsteten nomadischen Bewegungsmuster deutlich. Wo bleiben, wenn ein Ort dem anderen folgt? Wo ist die Bleibe in diesem Bleiben? Wo bleibt der Leib in dieser Bleibe, die doch nur ein Ort ist, in dem schon immer das Fort anklingt? Bis in die Wahl der zentralen Lexeme hinein ist es faszinierend zu beobachten, wieviele Beziehungen sich hier zu einem Gesang und Gedicht wie „Die Schlingbohne wächst“ aus dem „Tangfeng“ des chinesischen Shi Jing herstellen lassen. Lyrik verdichtet sich als potenzierte Vektorizität zu archipelischen Formen mikrotextueller Narrativität, die sich jeder Kontinuität und Kontinentalität entgegenstemmen und nachhaltig die gebrochenen Zwischen-Räume markieren.

Aufschub als zeitliche Dimension wird in diesem Sinne ins Räumliche übersetzt zum Unterschlupf. Und in dem gleichnamigen, im Jahre 2006 erschienenen Band Unterschlupf wird der Initialtext „050804“ wiederum zum Seismographen jener fortgeführten Bewegungen, die migratorischen und nomadischen Charakter besitzen:

den schleichweg gegangen
die grenze mißachtet. Die augen
hinter den pässen verborgen

im zöllner I datum
I stempelverschwimmen
& regung von angst. Domestiziert75

Die Reisebewegungen des gesamten Bandes zwischen Alexandria und Bern, zwischen Casablanca und Innsbruck, zwischen Rabat und Zürich sind Bewegungsmustern von Flüchtlingen wie Gastlingen nachgebildet. Sie fangen ihre Choreographien als verdichtete Bewegungen ein. Und sie modellieren umgekehrt ein Leseerleben, das überall die verschiedenartigsten „herkunftsstimmen“ – so das gleichnamige Gedicht76 – auszumachen glaubt, zu denen sich immer wieder andere, neue gesellen.

Die Bewegungsmuster werden zu Verstehensmustern, die Passkontrollen und Abstempelungen zu Belegen von Itinerarien, die auf der Suche nach Unterschlupf und Aufschub Verbindungen zwischen Flucht-Räumen schaffen: ziel- und heimatlose Bewegungen, die auf andere, auf frühere, auf nachfolgende ziel- und heimatlose Bewegungen verweisen. Das Gedicht markiert die Diskontinuität, verleiht ihr einen Ort, entzieht sich aber jedwedem Versuch, das Diskontinuierliche in Kontinuität, das Inselhafte in Kontinentalität umzuwandeln. Die Zahlen im Titel des Gedichts verweisen auf die Anonymität der hier Gezählten, lenken den Blick auf Passnummern und Auflösungen des Menschlichen ins Statistische, zählen und erzählen aber auch Modelle von Geschichten, die sich aus diesen Gedicht herauserzählen lassen. Das lyrische Narrativ wird zur Mikroerzählung.

Sind dies nicht Bewegungsmuster, die uns aus der Genesis schon von Kain her bekannt sind? Und siedeln sie sich nicht in jenem Zeit-Raum an, der 2010 im Gedichtband Fahrtenschreiber unter dem Titel „dichter ort VIII“ als dichterische Figuration wie auch als Figuration des Dichters zum Ausdruck kommt?

zwischen himmel & erde
die fraktur der Zeitfiguren
zwischen erde & himmel77

Der Dichter als Fahrten-Schreiber ist wie Gilgamesch nicht an die Erdoberfläche gebunden, sondern oszilliert wie die mesopotamische Bewegungs-Figur im Kosmos alles Geschaffenen: zwischen Himmel und Erde. Das Gedicht wird als Ort des Dichters zu einem dichten Ort, der wie im Shi Jing eine Vielverbundenheit anstrebt, in der modellhaft sich ein ganzer Kosmos konfigurieren lässt. Im Mikrokosmos des lyrisch verdichteten Narrativs wird dabei die „fraktur der Zeitfiguren“ zu jener gebrochenen, unterbrochenen, diskontinuierlichen Bewegung, deren Muster die Zeiten des Gedichts nicht nur translingual, sondern auch transhistorisch durchzieht. „himmel & erde“, „erde & himmel“ verdeutlichen und unterstreichen dabei den Anspruch dieses verdichteten Ortes darauf, einen ganzen Kosmos, eine ganze Totalität in ihrer kürzesten Form noch immer zu erfassen, zu begreifen und zu ergreifen: diesseits wie jenseits der fließenden Grenzen zwischen Gedicht und Mikroerzählung. Eine Ergreifung und Erfassung, die in diesem Sinne freilich nur als Fraktur, vor allem aber als Fraktal geleistet werden kann.

In der radikal miniaturisierten Form der epischen Erzählung wird eine lyrisch verdichtete Bewegung erkennbar, in der sich die Traditionslinien des Gilgamesch-Epos mit jenen des Shi Jing in verdichteten Bewegungsmustern verbinden. Als verdichtende Vektorisierung lassen uns die lyrischen Mikroerzählungen mit ihren Motionen und Emotionen nicht zur Ruhe kommen und entfalten ihr LebensWissen, ihr ÜberLebensWissen, ihr ZusammenLebensWissen aus jener Miniaturisierung, die doch stets auf den Entwurf einer ganzen, einer widersprüchlichen, einer komplexen Welt abzielt. Aus dem Bewusstsein ihrer viellogischen Bewegung entfaltet sich so ein Weltbewusstsein, das niemals zu koagulieren droht, weil es in seinen Choreographien der Unruhe niemals an ein Ende kommt.


  1. Vgl. hierzu Nanophilologie: literarische Kurz- und Kürzestformen in der Romania, hrsg. von Ottmar Ette (Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2008).

  2. Der Große Brockhaus in zwölf Bänden, Achtzehnte, völlig neubearbeitete Auflage (Wiesbaden: F.A. Brockhaus 1980), Bd. 11, 613.

  3. Der Große Brockhaus, Bd. 4, 337.

  4. Vgl. hierzu die technischen Erläuterungen in Der Große Brockhaus, Bd. 11, 560–1.

  5. Der Große Brockhaus, Bd. 11, 613.

  6. Der Große Brockhaus, Bd. 11, 570.

  7. Der Große Brockhaus, Bd. 11, 571.

  8. Voltaire, Les systèmes et les cabales, avec des notes instructives, nouvelle édition, corrigée et augmeutée [sic!] (London, 1772), 18.

  9. Vgl. hierzu Ottmar Ette, „‚Stolz und Konvivenz – Stolz auf Konvivenz‘: zum epistemologischen Potential der Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“, in Literaturwissenschaft heute: Gegenstand, Positionen, Relevanz. Mit 6 Abbildungen, hrsg. von Susanne Knaller und Doris Pichler (Göttingen: V&R unipress 2013), 83–123.

  10. Vgl. Ottmar Ette, „Angst und Katastrophe/Angst vor Katastrophen: zur Ökonomie der Angst im Angesicht des Todes“, in Unfälle der Sprache: literarische und philologische Erkundungen der Katastrophe, hrsg. von Ottmar Ette und Judith Kasper (Wien, Berlin: Verlag Turia & Kant, 2014), 233–70.

  11. Vgl. hierzu den Eintrag „Unruh (Uhr)“, https://de.wikipedia.org/wiki/Unruh_(Uhr), Zugr. am 18.8.2014.

  12. „Unruh (Uhr)“.

  13. „Unruh (Uhr)“.

  14. Vgl. „Unruh (Uhr)“.

  15. Martin Suter, Abschalten: die Business Class macht Ferien (Zürich: Diogenes, 2012); ich zitiere nach der 2014 erschienenen Taschenbuchausgabe.

  16. Vgl. hierzu Ottmar Ette, ÜberLebenswissen: die Aufgabe der Philologie (Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2004).

  17. Suter, Abschalten, 96–8.

  18. Suter, Abschalten, 127.

  19. Suter, Abschalten, 61.

  20. Suter, Abschalten, 10.

  21. Vgl. Handbuch der Ratlosigkeit, 17 Einträge, hrsg. von Elfriede Czurda, Friederike Kretzen und Suzann-Viola Renninger (Zürich: Limmat, 2014).

  22. Suter, Abschalten, 59.

  23. Suter, Abschalten, 59.

  24. Suter, Abschalten, 59.

  25. Vgl. hierzu Ottmar Ette, „Exzellenz(en), velociferische: zum Bestiarium blendender Bologna-Eliten“, in Unbedingte Universitäten: Bologna-Bestiarium, hrsg. von Johanna-Charlotte Horst u.a. (Zürich, Berlin: diaphanes, 2013), 105–10.

  26. Suter, Abschalten, 59.

  27. Suter, Abschalten, 59.

  28. Suter, Abschalten, 60.

  29. Suter, Abschalten, 60.

  30. Suter, Abschalten, 60.

  31. Suter, Abschalten, 187.

  32. Suter, Abschalten, 187.

  33. Vgl. zur Beziehung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos in der Gattung des microrrelato siehe Ottmar Ette, Del macrocosmos al microrrelato: literatura y creación – nuevas perspectivas transareales. Traducción del alemán de Rosa María S. de Maihold (Ciudad de Guatemala: F&G Editores, 2009).

  34. Vgl. hierzu den schönen Band Cultural Ways of Worldmaking: Media and Narratives, hrsg. von Vera Nünning, Ansgar Nünning und Birgit Neumann (Berlin und New York: de Gruyter, 2010).

  35. Vgl. Stefan M. Maul, „Einleitung“, in Das Gilgamesch-Epos, neu übersetzt und kommentiert von Stefan M. Maul (München: Verlag C.H. Beck, 2005), 13–4.

  36. Das Gilgamesch-Epos, 46.

  37. Vgl. zu diesem Aspekt des Gilgamesch-Epos Ottmar Ette, ZusammenLebensWissen: List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab (ÜberLebenswissen III) (Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2010), 34–6.

  38. Vgl. hierzu Ette, ZusammenLebensWissen sowie Ottmar Ette, Konvivenz: Literatur und Leben nach dem Paradies (Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2012).

  39. Das Liederbuch der Chinesen: Guofeng, in neuer deutscher Übertragung von Heide Köser, philologische Bearbeitung von Armin Hetzer (Frankfurt am Main: Insel, 1990), 103.

  40. Vgl. hierzu den Kommentar in Das Liederbuch der Chinesen, 31.

  41. Das Liederbuch der Chinesen, 31.

  42. Das Liederbuch der Chinesen, 123.

  43. Ursprünglich erschienen in Claude Lévi-Strauss, La pensée sauvage (Paris: Plon, 1962); hier zitiert nach Claude Lévi-Strauss, „Die Bricolage“, in Kulturwissenschaft: eine Auswahl grundlegender Texte, hrsg. von Uwe Wirth (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008), 215 (die von Uwe Wirth aufgenommene Passage beginnt im frz. Original auf S. 26). Wo nicht – wie hier – anders angegeben, stammen die in der Folge abgedruckten Übersetzungen ins Deutsche vom Verfasser.

  44. Lévi-Strauss, „Die Bricolage“, 215.

  45. Lévi-Strauss, „Die Bricolage“, 216.

  46. Vgl. hierzu Uwe Wirth,„Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturforschung“, in Kulturwissenschaft, hrsg. von Uwe Wirth, 54.

  47. Lévi-Strauss, „Die Bricolage“, 216.

  48. Lévi-Strauss, „Die Bricolage“, 216.

  49. Lévi-Strauss, „Die Bricolage“, 216.

  50. Lévi-Strauss, „Die Bricolage“, 217.

  51. Lévi-Strauss, „Die Bricolage“, 217.

  52. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übersetzt von Rolf-Dietrich Keil (München: Fink, 1981), 77.

  53. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, 77.

  54. Vgl. hierzu auch Ottmar Ette, „Die ganze Welt in einem Satz: Mikroerzählung und Makrokosmos“, in Globalizing Areas, kulturelle Flexionen und die Herausforderung der Geisteswissenschaften, hrsg. von Günther Heeg und Markus A. Denzel (Stuttgart: Steiner, 2011), 29–46.

  55. Erich Auerbach, Mimesis: dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Bern und München: Francke, 1982), 18.

  56. Auerbach, Mimesis, 18.

  57. Auerbach, Mimesis, 19.

  58. Auerbach, Mimesis, 19.

  59. Roberto Esposito, Person und menschliches Leben, aus dem Ital. von Federica Romanini (Zürich und Berlin: Diaphanes, 2010), 23.

  60. Ich verwende diesen Begriff im Sinne von Benoît B. Mandelbrot, Die fraktale Geometrie der Natur, hrsg. von Ulrich Zähle, aus dem Englischen übersetzt von Reinhilt Zähle und Ulrich Zähle (Basel und Boston: Birkhäuser, 1987).

  61. Vgl. zu dieser doppelten Ausrichtung frühneuzeitlicher Kartographie im Kontext der ersten Phase beschleunigter Globalisierung das erste Kapitel in Ottmar Ette, TransArea: eine literarische Globalisierungsgeschichte (Berlin und Boston: de Gruyter, 2012).

  62. Vgl. die gut zugängliche Ausgabe von Bartolomeo Dalli Sonetti, Isolario, Venice, 1485, with an Introduction by Frederick R. Goff (Amsterdam: Theatrum Orbis Terrarum Ltd., 1972).

  63. „Poetry is an island that breaks away from the main.“ Derek Walcott, „The Antilles, Fragments of Epic Memory: the 1992 Nobel Lecture“, in World Literature Today (Oklahoma) LXVII, 2 (Spring 1993), 261–7; hier zitiert nach Derek Walcott, „The Antilles: Fragments of Epic Memory“, in Derek Walcott, What the Twilight Says: Essays (New York: Farrar, Straus, and Giroux, 1998), 70. Vgl. hierzu im Kontext insularer Epistemologie Ottmar Ette, „Von Inseln, Grenzen und Vektoren: Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik“, in Grenzen der Macht – Macht der Grenzen: Lateinamerika im globalen Kontext, hrsg. von Marianne Braig, Ottmar Ette, Dieter Ingenschay und Günther Maihold (Frankfurt am Main: Vervuert, 2005), 135–80.

  64. Vgl. hierzu das vierte Kapitel in Ottmar Ette, ZwischenWeltenSchreiben: Literaturen ohne festen Wohnsitz (ÜberLebenswissen II) (Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2005).

  65. Zum Begriff der ästhetischen Kraft vgl. Christoph Menke, Kraft: ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008).

  66. José F.A. Oliver, Duende: meine Ballade in drei Versionen: Die Ballade vom Duende – La balada del Duende – S Duendelied (Gutach: Drey-Verlag, 1997).

  67. Oliver, Meine Ballade in drei Versionen, 6–7. Auf die Unterschiede zur mexikanischen Ausgabe kann hier nicht eingegangen werden: Oliver, José F.A., La Balada del Duende = die Ballade vom Duende. Prólogo Elisabeth Siefer. Traducción José F.A. Oliver. Revisión Ricardo Bada (México, D.F.: Ediciones el tucán de virginia, 1998).

  68. Vgl. hierzu Ette, ZwischenWeltenSchreiben, insbes. 261–3.

  69. Ciro Krauthausen, „‚Alemania es un poeta turco, griego o español‘: entrevista con José F.A. Oliver“, El País, 9. November 2002, Babelia 572, 8. Vgl. hierzu auch ausführlicher Ette, ÜberLebenswissen: die Aufgabe der Philologie, 246–52. Zur Begrifflichkeit der Literaturen ohne festen Wohnsitz vgl. dort auch 246–51.

  70. José F.A. Oliver, Gastling: Gedichte (Berlin: Das Arabische Buch, 1993), Klappentext Vorderseite.

  71. Oliver, Gastling, 9.

  72. Agamben, Homo sacer: die souveräne Macht und das nackte Leben (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002), 140.

  73. Ich greife hier zurück auf Überlegungen in Ette, Konvivenz: Literatur und Leben nach dem Paradies, 39–42.

  74. José F.A. Olive, austernfischer marinero vogelfau: Liebesgedichte und andere Miniaturen (Berlin: Verlag Das Arabische Buch, 1997), 17.

  75. José F.A. Oliver, „050804“, in José F.A. Oliver, unterschlupf: Gedichte (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006), 9.

  76. Oliver, 050804, 46.

  77. José F.A. Oliver, fahrtenschreiber: Gedichte (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2010), 46.





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