Ein Jubeljahr für Don Quijote? Zur Abschaffung der Literatur an Schule und Universität

Wolfram Aichinger

1365: Gründung der Universität Wien. Damals gab es schon fast alles in der Literatur: Die Epen von Homer, die Komödien von Aristophanes, die Ritterromane, die Erzählungen Boccaccios, die Divina Commedia von Dante, die Art, Komödie oder Tragödie zu spielen, wie sie bis heute üblich ist, die Art, Verse zu bauen und zu reimen, wie sie heute noch Teilnehmer an song contests verwenden. Platon, Aristoteles, Horaz oder Longinus hatten die wesentlichen Gedanken dazu gedacht, warum wir Literatur herstellen und wie sie auf uns wirkt, die Rhetorik die Art, in der sich Sprache neu gestalten lässt, um zu überzeugen, zu manipulieren oder zu Taten anzustacheln. 250 Jahre später, im Jahr 1615, erschien der zweite Teil des berühmtesten Romans der Weltliteratur.

Als ich in den 1980-er Jahren an der Universität Wien Spanisch und Geschichte studierte und diese Wahl Bekannten mitteilte, war die übliche Antwort, das sei wohl eine brotlose Kunst. An der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, an den Philologien wäre es hingegen niemandem im Traum eingefallen, die Bedeutung von Literaturtheorie und Literaturgeschichte zu bezweifeln. Das hat sich geändert. Die neuen Studienpläne für das Lehramt der Wiener Romanistik etwa sehen kaum noch Kurse für Literatur vor, von einer Ausbildung in diesem Fach kann keine Rede mehr sein. Das heißt, wir werden Lehrer für Fremdsprachen in die Schulen schicken, die Literatur nicht mehr kennen und nicht mehr unterrichten. Folglich wird für die romanische Literatur auch kein Nachwuchs mehr aus den Schulen heranwachsen. Zu befürchten ist, dass Roman, Epos, Theater und Poesie bald nur mehr an Germanistik, Klassischer Philologie und Vergleichender Literaturwissenschaft tiefer erforscht und gründlich vermittelt werden. Fremdsprachen-Philologien dagegen ähneln immer mehr Sprachschulen, die an Studierende die Inhalte von Wirtschaft, Massenmedien, Elektronikindustrie und Politik weitergeben, die sie zuvor im Namen von Aktualität und Gebrauchswert von eben diesen bezogen haben.

Doch warum gilt Literatur so vielen als entbehrlich, warum findet sie so wenige Verteidiger? Ich glaube, es sind bestimmte Vorurteile, die ihr offen oder versteckt entgegengebracht werden. In Reinform wird diese wohl niemand vertreten, es ist auch nicht meine Absicht, hier Personen oder Institute zu attackieren, sondern vielmehr eine Atmosphäre aus Voreiligem, wenig Durchdachtem, halb und mit Sachzwängen Begründetem, einen Geist der Zeit, der gebündelt zu folgenschweren falschen Entscheidungen führt. Sehen wir also diese Meinungen kurz an – und dabei bewusst davon ab, dass die Streichungen von Literatur im Unterricht mit knappen Budgets entschuldigt werden.

Da heißt es, mit Literatur seien Sprachlernende überfordert, diese sei zu „schwierig“. Das Argument ist recht kurios, denn gibt es Literatur nicht in allen Formaten, Längen, Schwierigkeitsgraden, vom Kinderreim bis zur vielbändigen Familiensaga? Erfasst sie nicht alle Bereiche und Themen des Lebens? Verbindet sie nicht seit jeher Unterhaltung mit Belehrung? Der argentinische Autor und Psychologe Jorge Bucay verwendet alte Geschichten aus Orient und Okzident sehr erfolgreich in seinen Therapiestunden. Sie sind kurz, einfach und bleiben im Gedächtnis. Für Sprachlehre sollten sie nicht taugen? Auch die Prosa der größten Autoren ist klar und genau: Büchner, Flaubert, Tolstoi, Tschechow, Natalia Ginzburg, Leonardo Sciascia … Sie sollten uns keine Schule mehr im Ausdruck sein? Cervantes nicht, mit seinen eleganten Satzgefügen, die noch die Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts inspirieren? Quevedo nicht, mit seinem Witz? Nicht die Bildkunst von Góngora oder Calderón? Nicht Francisco Ayala, der es versteht, Sprachregister und Thema perfekt aufeinander abzustimmen? Bedeutet Ausbildung in Sprache nicht auch Suche nach einer eigenen Sprache, einer solchen, die nicht nur Formeln und Modewörter wiedergibt? Sollen wir darauf verzichten, bei William Faulkner oder Lydia Davis zu lernen, dass sich die Welt auch ganz anders in Worten fassen lässt, als wir bislang dachten? Können wir Thomas Mann, Heimito von Doderer, Robert Musil oder Virginia Woolf entbehren, wenn es darum geht, sich an die „Grenzen des Sagbaren vorzutasten“ (Wolf Schneider in Deutsch für Profis)? Verena Winiwarter, erste Professorin für Umweltgeschichte in Österreich, sagte vor kurzem in einem Interview, sie lese in ihren Vorlesungen Gedichte vor, denn Poesie sei Schule für Prägnanz im Ausdruck. Für Historiker sei es nicht gleichgültig, ob sie in der Geschichte der Welt einen „Aufstand“, eine „Rebellion“ oder eine „Revolution“ beobachteten. Autoren sind Menschen, die am meisten und mit größter Leidenschaft über Sprache nachdenken, alle Schriftsteller aller Zeiten und Räume verbindet das Streben nach einer genauen und ausdrucksstarken Sprache. Eine Philo-Logie, die diesen Reichtum nicht mehr erforscht und bereitstellt, verdient ihren Namen nicht.

Wahr ist allerdings, dass wir in der Literaturdidaktik vieles tun, um den Zugang zu Texten zu erschweren: mit einer pompösen Fachsprache, mit einer Menge unnötiger Begriffe, mit Namen, Titeln und biographischen Daten ohne Zusammenhang. Es erstaunt auch, wie wenig in Seminaren zur Literatur von eben den Wörtern, die erst ein literarisches Werk schaffen, die Rede ist, wie wenig über sprachlichen Ausdruck und auch sprachliche Schönheit nachgedacht wird. Musiker schulen ihre Ohren für Töne und Köche ihren Sinn für Geschmäcker, auf der Philologie sind Wörter oft Nebensache. Diskutiert wird über Inhalte, geprüft werden Inhalte, im schlechtesten Fall Inhaltsangaben (von Studenten mittlerweile leicht zu beziehen über das Internet), die dem Reichtum des literarischen Werkes gar nicht gerecht werden. Freilich lässt sich dann auch, hier kommen wir zum Ausgangsargument zurück, der Nutzen von Literatur für das Erlernen einer Sprache kaum noch begründen.

Noch schlechter als der Literatur geht es einem Kind, das einst als ein stolzes galt, der Rhetorik. Zu Recht, werden viele meinen: Was bringt es uns denn, wenn wir Listen mit Figuren studieren, deren Namen überdies kompliziert sind: Synästhesie, Hysteron proteron, Hendiadyoin… Dazu die immer gleichen Beispiele: Achill – Löwe = Metapher, schwarze Milch = Oxymoron, Glas für Glas Wein = Metonymie. Die wesentliche Frage aber fehlt: Welchem Ausdrucksbedürfnis entsprangen diese Figuren, und was tragen sie zur Energie eines Textes bei? Hier hat eintönige Lehre ein ganzes Wissensgebiet ruiniert. Denn die klassische Rhetorik hätte ganz anderes und viel mehr zu bieten. Rhetorik ist die Kunst der effektvollen Gestaltung von Rede und Text, in allen Teilen und Phasen der Produktion. Sie umfasst die Anordnung der Argumente ebenso wie den Einsatz der Stimme oder die beste Art, das Publikum zu gewinnen. Letztlich erforscht sie aber die Verbindung von Sprache und Denken. Kein Aktualitätsbezug? Quintilian schenkt der Frage, ob Witze im Gerichtssaal angebracht seien, mehrere Absätze. Und er beginnt seine Ausbildung des Redners mit der Frage, ob die Amme griechisch oder lateinisch mit dem Kleinkind sprechen solle und rät, Montessori vorwegnehmend, den Kindern Buchstaben aus Elfenbein zum Spielen zu geben. Die Beispiele dieser Autoren sind so fesselnd wie das wirkliche Leben und könnten an viele Orte unserer heutigen Welt passen: „Wohin soll ich Unglücklicher mich wenden? Wohin soll ich gehen? Zum Kapitol? Es trieft vom Blute meines Bruders. Oder in mein Haus? Um meine Mutter in ihrem Jammer klagend und mutlos zu sehen?“ (Cicero, De Oratore, III, 16, 214.)

Nun ist die Fähigkeit, gut zu schreiben und effektvoll zu sprechen, auch in der aktuellen Welt gefragt, jeder Politiker sorgt sich um den Einsatz der Stimme, jeder Redner denkt über die beste Anordnung der Gedanken nach – und ein Werbetexter ganz gewiss. Das „richtige Wort finden“, damit mühen sich Juristen ab, Psychologen, Diplomaten, Priester ... Eine Kollegin berichtete mir jüngst von einem Projekt, das die passende Sprache für Ärzte, die Schwerstkranke therapieren, untersucht. Doch wird diese Sprachkompetenz nicht mehr oder nur wenig an Schulen und Universitäten gelehrt; dafür in (teuren) Rhetorik-Seminaren, zuständig dafür sind nicht mehr Philologen, sondern Stimm- und Kommunikationstrainer.

Eine Literaturwissenschaft mit Aktualitätsbezug müsste sich wieder für das Gewicht und die Farbe der Wörter interessieren. Dann hätte sie in einer Welt, in der Wirklichkeiten vor allem über Texte geschaffen und kommuniziert werden, sehr viel beizutragen. Anstatt das engagiert zu vertreten und zu verteidigen, ließen sich Philologen allzu sehr vor den interdisziplinären Karren spannen, meinten, sie müssten so viel von Soziologie, Wirtschaft, Politik, Filmtheorie einbringen, wie es die Experten dieser Fächer täten. Dagegen ist nichts einzuwenden und gerade der Dialog mit Nachbardisziplinen befördert Erkenntnisse in der eigenen. Doch darf dabei der Kern des eigenen Faches nicht verloren gehen. Keinem Mediziner würde man zumuten, er müsse im Zeichen fächerübergreifenden Forschens darauf verzichten, den menschlichen Körper, seine Funktionen und Leiden zu studieren. Warum gibt die Literaturwissenschaft so leichtfertig ihre ureigenen Bereiche auf?

Doch nicht so viel Galle! Es gab und gibt Tausende Versuche, Literatur engagiert zu lehren. Wolfram Groddecks Reden über Rhetorik gibt eine ausgezeichnete Einführung in die Stilistik. An der Wiener Romanistik wird Wissenschaftlich Schreiben mit kreativen Methoden angeboten, allerdings als Freifach. Auch das Studententheater – die Jesuiten erkannten schon im 16. Jahrhundert seinen pädagogischen Wert und zogen nicht wenig Gewinn daraus – lebt fort: Im Dezember 2014 sah ich am Instituto Cervantes in München eine großartige Dramatisierung von Cortázars Rayuela, erarbeitet von Studenten der Münchner Romanistik, am Día del libro 2015 (dem 23. April, Todestag von Cervantes und Shakespeare) brachten Wiener Studenten in Eigenregie ein Kapitel des Quijote auf die Bühne, ebenfalls am Instituto Cervantes. Allerdings müssen die Gärtchen lebendiger Lehre gegen Finanzplaner erkämpft werden und auch gegen den Willen zum flächendeckenden europäischen Standard, der wenig fruchtet und viel schadet. An der Wiener Romanistik wurde es üblich, Literatur im ersten Semester über multiple choice abzuprüfen, denn das erleichtere die rasche elektronische Auswertung. Multiple choice verlangt das Erkennen des Richtigen, nicht mehr. Damit ist jedoch auch vernetzte Diskussion im Hörsaal vom ersten Tag an beschädigt; die meisten Hörer wollen nur mehr das hören, was ihnen für das richtige Ankreuzen nützt. Kaum einer erinnert sich daran, dass Universitäten Orte sein sollten, an denen neu und anders gedacht werden darf.

Zurück zur Lage der Literatur: Ein zweites Vorurteil suggeriert, dass Literatur nur in alten, merkwürdig riechenden Büchern aufbewahrt sei. Diese werden, es lässt sich nicht leugnen, mitsamt den Regalen aus immer mehr Wohnzimmern entfernt. Kenntnis der Klassiker wird nicht mehr als bürgerliches Bildungsgut eingefordert. Warum aber die Klassiker nicht dennoch weiter studieren? Warum sollte das Beste der Kultur nicht bewahrt werden, so wie seltene Pflanzen geschützt werden, unabhängig davon, ob es auch rezipiert wird? Niemand würde fordern, dass Beethoven oder Velázquez als herausragende Manifestationen des menschlichen Geistes nur solange erforscht werden sollten, als Menschen in Konzerthäuser oder Museen strömen.

Zu diesem sollte aber ein zweites Argument kommen, das heute eher überzeugen könnte: Wenn auch Homer, Garcilaso de la Vega oder Ana María Matute seltener anzutreffen sind als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren, so ist deshalb das Literarische nicht weniger präsent in unserer Welt. Im Grunde untersuchen Philologen ja nicht Bücher, sondern die Art und Weise, in der Erfahrung gedanklich organisiert, dabei durch Zuschuss von Phantasie verwandelt und schließlich sprachlich geordnet wird. So sind Philologen Experten für alle Erzählungen, seien es die Geschichten, die am Wirtshaustisch erzählt werden oder die Novellen von María de Zayas. Die Macht erfundener Geschichten können sie nicht nur an Märchen studieren, sondern im Kino, an Computerspielen und den Nachrichtensendungen des Fernsehens. Rhythmisch gesteigerte Sprache findet sich nicht nur im Theater, sondern in Moscheen oder Parlamenten, und sie tönt aus jedem Radiosender. Die Fragen, die Platon und Aristoteles stellten, sind immer noch bedeutsam für unsere ganze Gesellschaft: Was für Geschichten erfinden Menschen und warum? Welche sind besonders wirkmächtig? Wie sind diese gebaut? Wie wirkt das historisch Belegte mit dem Erfundenen zusammen? Wie ist es möglich, dass uns erfundene und vorgetäuschte Gefühle auf einer Kinoleinwand oder in einem Theater so tief bewegen? Und warum waren manche Erzählungen so erfolgreich, dass sie Jahrhundert für Jahrhundert aufs Neue erzählt wurden? Literaturwissenschaft kann von Soziologie, Medientheorie, Kognitionsforschung und anderen Disziplinen Wesentliches lernen. Es sollte aber ebenso betont werden: Die Fragen und Antworten der Literaturwissenschaft sind für alle anderen Fächer, die Sprache, Fiktion, Imagination, Erzählung, Drama und Rhythmus behandeln, von größtem Interesse.

Eine dritte Meinung, die immer lauter ertönt, verdient einen kurzen Kommentar. Diese besagt, es könne uns nur die Literatur interessieren, die aktuelle Probleme spiegle und bespreche. Die These hält keiner Prüfung stand. Jeder seriöse Wissenschaftler, egal welchen Faches, weiß es, in der öffentlichen Diskussion wird es immer wieder vergessen: Erkenntnis ist nicht unmittelbar an das gebunden, was beobachtet wird, sie entspringt der Analogie- und Modellbildung. Darwin entwickelte seine Theorie von der Evolution durch genaues Studium irgendwelcher Muscheltiere. Was er dabei über die Muscheltiere erfuhr, ist nebensächlich. Entscheidend waren die Erkenntnisse über die Art, in der Genetik und Lebensraum zusammenspielen. Die Namen der Patienten von Sigmund Freud geben heute nur noch Stoff für Anekdoten ab, die allgemeinen Einsichten in die Psyche, die er aus den Fällen und Einzelschicksalen bezog, leben fort.

Große Literatur hat sich nie darauf beschränkt, Alltag abzuschreiben. Sie gibt Auskunft über menschliche Grundsituationen, bei Aischylos oder Homer ebenso wie im Gegenwartsroman. Fragen von Macht, Verrat, Loyalität, Freundschaft, familiärer Bindung sind bei Cervantes und Tirso de Molina ebenso tief gestellt wie in der neuesten Literatur. Das volle Menschenleben ist für die Literatur immer faszinierend, egal an welchen Ort oder in welche Zeit sie hinein greift. Die Psychologie beruft sich nach wie vor auf den Mythos, um menschliche Konflikte und Verstrickungen zu verstehen: Ödipuskomplex, Narzissmus … Achillesfersen, Trojanische Pferde und Des Kaisers neue Kleider gibt es heute noch, ebenso Kämpfe gegen Windmühlen und die Obsessionen des Don Juan. Sollen Schule und Universität darauf verzichten, diese elementaren Erzählungen weiterzureichen?

Die neuere und neueste Literatur wären ohne die alte Literatur auch gar nicht denkbar: Borges inspirierte sich an den Träumen der Antike und der altgermanischen Mythologie. Ohne den Quijote gäbe es den halluzinierenden Zwölfzeiler von Kafka nicht, der den Titel Die Wahrheit über Sancho Pansa trägt. Und selbst ein mexikanischer Starautor unserer Tage, Yuri Herrera, schreibt nicht, ohne dabei die Celestina und die Bibel zur Hand zu haben. Gabriel García Márquez, Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1982, eröffnet Autobiographie, welche er für die modernste aller Erzählungen hält, was die Technik der Enthüllung anlangt: Diejenige von Sophokles, aus dem fünften Jahrhundert vor Christus, in der einer sich daranmacht, einen Mord aufzuklären, um am Ende zu erkennen, dass er selbst der Mörder ist.

Warum sollte uns nur eine Literatur interessieren, in der wir dieselben Wohnblocks, Tankstellen und Autobahnen finden, die uns ohnehin im Alltag umgeben? Ein Beispiel aus der Schule möge zeigen, dass Nutzen für die Gegenwart mehr ist als Wiedererkennen des Bekannten: An einem Wiener Gymnasium werden Schüler mustergültig auf das wirkliche Leben vorbereitet: Umweltbewusstsein, fair trade, Drogen, Migration. Ein Effekt war jedoch, dass sich manche Schüler von der Masse ungeordneter Wirklichkeit überfordert fühlen und nicht fähig sind, diese auch sprachlich zu verarbeiten. Also machte ein Lehrer den Vorschlag, einen debate club einzuführen; große Zustimmung bei den Kollegen und die Anregung, Grundlagen dazu, wie sich eine Rede gestalten ließe, könnten mit der Rede des Mark Anton aus Julius Cesar von Shakespeare gelegt werden…

Manche meinen heute, das Fach sei nur zu retten, indem wir die Lehre auf das Allerneueste beschränken, Philologie wird zur Filiale des Literaturmarkts oder schlechteren Falls der Kulturindustrie. Und freilich ist es bequem, wenn sich der Medienkonsum der Freizeit ohne Übergang in den Hörsaal fortsetzt und wir angehenden Philologen höchstens noch Literaturverfilmungen der neuesten Literatur zumuten (das ist etwa so, als würde die Kunstgeschichte beschließen, Malerei beginne mit Picasso und Miró, Tizian und Velázquez seien aber veraltet). Solche Versuche, durch falsch verstandene Anpassung zu überleben, werden uns nicht retten. Literaturwissenschaft wird nur bestehen, wenn sie weiter die Vielfalt aller Zeiten und Räume erforscht und vermittelt, also ganz bewusst Inhalte bietet, die Fernsehen und Internet vordergründig nicht bieten. Das können nur Lehrer leisten, welche die Literatur gründlich studiert haben, die aus dem Vollen schöpfen und der Muse mehr als Höflichkeitsbesuche abgestattet haben. Nur sie werden das Beste für jede Lernstufe auswählen und ihre Texte für immer neue Persönlichkeiten und Bedürfnisse didaktisch aufbereiten. Die Strategie, Lehrern in der Ausbildung nur das und soviel mitzugeben, wie als Stoff gleich ins Klassenzimmer getragen werden kann, ist mit einer solchen Vorstellung von Lehre als Dialog mit Individuen aber völlig unvereinbar.

Betrachten wir zuletzt das Gebiet, um das es am schlechtesten bestellt ist, die Metrik, dieses eigentümliche Kapitel aus der Schule der alten Zeit. Wer hat sie nicht gehasst oder bestenfalls als vorübergehendes Übel ertragen? Verse zählen? Reimschemata bestimmen? Strophenformen lernen? Trochäus, Daktylus, Anapäst bzw. Elfsilber oder Alexandriner! Dafür sollte kein Geld ausgegeben werden! Und nun ist es auch soweit: Wer an einem philologischen Institut ein Seminar zu Metrik anbietet, wird selbst bei Kollegen Stirnrunzeln und Skepsis hervorrufen.

Ich glaube dagegen, Metrik könnte ein brandaktuelles Fach sein. All die sprachlichen Erzeugnisse, die uns für immer im Gedächtnis bleiben, tun es, weil ihre Schöpfer wussten, wie Klänge, Betonungen und Pausen zu setzen waren, um der Sprache größtmögliche Wirkung zu geben, und: weil sie darin geschult waren. Das gilt für Werbetexte, für Joaquín Sabina oder für das Theater der Klassiker: „que toda la vida es sueño, | y los sueños sueños son.“ In der Metrik, wie sie die Antike verstand, ging es nicht um trockene Begriffe und fades Silbenzählen, es ging um Rhythmus als Urprinzip des Lebens, um das Zusammenspiel von Körper, Emotion und Bedeutung, um die geheimnisvolle Ebene der Wahrnehmung, auf der Sprache wirkt, bevor wir verstehen, was sie bedeutet. Studenten sprechen gerne Poesie im Chor, schreiben gerne assonante oder konsonante Reime, üben sich gar in der Kunst, in den vierzehn Versen eines Sonetts einen paradoxen Sachverhalt prägnant und mit überraschender Schlusszeile zu entwickeln. Es kommt auf die Weise an, in der sie dazu ermuntert werden. Nebenbei könnte dabei auch das Gefühl für Proportion, für Harmonie, für Wohlklang geschult werden, ja das für Schönheit – möglicherweise sollte sogar das Teil eines Bildungsprogramms sein, das im Menschen mehr als Rohstoff für den Arbeitsmarkt sieht.





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