„Konstruktive Vorbilder“: Strukturprinzipien bei Balzac
Reto Zöllner
Dominique Massonnaud, Faire vrai: Balzac et l’invention de l’Œuvre-monde (Genève, Droz: 2014).
Die Comédie humaine als „œuvre-monde“. Dieser keinesfalls neuartige, aber für die vorliegende Monographie1 wegweisende Begriff betont schon eingangs die „ambition totalisante“ Balzacs und weniger die serielle Zyklushaftigkeit seines Werks. Es geht der Autorin einerseits um die Betrachtung der kompositorischen Einheit, ohne allerdings das generisch und erzählerisch Disparate aus dem Blick zu verlieren; andererseits um die diskursiven oder epistemologischen Vorbilder, insbesondere was die zugrundeliegenden Struktur- und Konstruktionsprinzipien betrifft, welche die Comédie humaine zu ebendiesem „œuvre-monde“ geformt haben. Die Monographie schreibt sich in gleich zwei fundamentale Spannungsfelder ein: dasjenige zwischen Teil und Ganzem, also dem Status des Einzelromans in Bezug auf die epochale Gesamtkonstruktion, aber auch dasjenige der unbestreitbaren Singularität Balzacs und der in seiner Zeit für ihn durchaus prägenden Einflüsse. Diese sind, folgt man den ersten beiden Teilen, in der Geschichtsschreibung und den Naturwissenschaften zu suchen.
Auf zwei wesentliche Eigenschaften aufbauend, die Länge („œuvre longue“) und den Folgecharakter, verortet der erste Teil der vorliegenden Monographie die Comédie humaine im Kontext der seriellen Geschichtsdarstellungen – auch über das 19. Jahrhundert hinaus – und seinen generischen Formen (z.B. Roman, Memoiren, Epik), die Balzac beeinflusst haben. Es ist dies in erster Linie der historische Roman Scott’scher Prägung (Ivanhoe wird 1820 ins Französische übersetzt), von dem Balzac, anders als Vigny oder Dumas, die Idee übernimmt, „kleinere“ Personen à l’ombre prominent in die Handlung mitaufzunehmen, das historische Geschehen – in einem klar definierten Raum, Schottland im Falle Scotts – nicht nur an einflussreichen Größen der Epoche zu spiegeln. Diese im großen Zeitgeschehen erstmal unbedeutenden Personen sind dabei nicht nur Statisten, sondern bilden vielmehr ein Versatzstück zwischen der Geschichte und dem menschlichen Leben. Dies ließe sich auch ganz direkt mit dem Anliegen Balzacs verbinden, eine möglichst große Nähe zu schaffen zwischen historischer Zeit und erzählender Zeit – eine Nähe, welche entscheidend sein wird für die Konzeption der Comédie humaine. Wie Scott geht es Balzac um „Restitution“ und „Rekonstruktion“ (69); in der Tradition des Autors von Guy Mannering2 rekurriert Balzac dabei gerne auf die direkte Rede, um die Distanz möglichst klein zu halten.
Ferner nennt die Autorin die Welle der Collections de Mémoires in den 20-er Jahren des 19. Jahrhunderts und zu einem geringeren Teil auch das „renouveau“ des Epischen, deren Handlung, analog zu späteren Werken Balzacs, zumeist in Krisen- und Konfliktzeiten historischer Umwälzungen lokalisiert ist. Im Sinne der Wichtigkeit des Historischen, der Serialität und der direkten Teilhabe wie bei den Memoiren üblich, lässt sich die Histoire de France pittoresque, „première entreprise romanesque balzacienne pensée comme œuvre longue à parution sérielle“ (55), als wesentlicher Grundstein für die weitere Entwicklung seines Opus werten, vor allem was den „statut du personnage“ und die „stratégie narrative“ betrifft (88). Trotz des unvollendeten Charakters, so die Autorin weiter, werden Organisationsprinzipien deutlich, welche über die chronologische Abfolge oder das „principe unitaire de l’aristotélisme classique“ (119) hinausweisen. Sich typologisch bestens in seine Zeit und die herrschende Marktlogik einschreibend – noch der Erzähler der Illusions perdues lässt d’Arthez seinem Mitstreiter Lucien den historischen Folgeroman als Erfolgsrezept empfehlen –, ist das mehrbändige Werk der Histoire de France pittoresque auch zentral für das, was die Autorin programmatisch als „faire vrai“ bezeichnet, ein Appell an wahrheitsgetreue Darstellung, der sich generell sowohl aus der Geschichtsschreibung als auch aus Überlegungen zum Roman bereits im 18. Jahrhundert herleiten lässt. Mehr noch kommt der Leitsatz „faire vrai“ in Balzacs „Avertissement du Gars“ (1828) zum Tragen, in dem er folgenreich von der „immense vérité des détails“3 spricht. Bei Augustin Thierry findet Balzac zudem den Anspruch formuliert, die Historiographie von den kleinen Formen wie der Gazette hin zu einem großen Ganzen zu verschieben; bei Alfred de Vigny die Notwendigkeit, faktuale Geschichte mit einer „intrigue“ zu verbinden, welche die Imagination nicht zu kurz kommen lässt. „L’Histoire est un roman dont le peuple est l’auteur“ (83), schreibt Vigny richtungsweisend in seinen „Réflexions sur la vérité de l’art“ (1826). Der Roman Cinq-Mars, dem Vigny bei der Wiederauflage 1827 einen epochemachenden „discours préfaciel“ beifügt, entspringt ebendieser „écriture historique d’imagination“ (80), die zentral für den frühen Balzac sein wird, wie sein „Avertissement du Gars“ und später die „Préface de la première édition“ (1831) der Peau de Chagrin eindrücklich belegen. Ausgehend vom Projekt der Histoire de France pittoresque folgert Dominique Massonnaud: „Balzac conserve, adapte et développe les principes liés à l’écriture romanesque de l’histoire“ (123). Nicht vergessen darf man dabei die kompositorischen und strukturellen Ansätze, welche die Histoire de France pittoresque im Werdegang Balzacs bedeutend machen: So wird früh schon die chronologische Serialität durch eine Binarität – konkret zwischen Le Gars, „micro-roman balzacien important dans la constitution d’une poétique balzacienne“ (90), und Le Capitaine des Boutefeux, der im Bürgerkrieg des 15. Jahrhunderts in Paris spielt, – konterkariert, nicht zuletzt auch mittels der für die Comédie humaine klassischen Gegenüberstellung von (hier bretonischer) Provinz und Paris4.
Eine der Hauptthesen des ersten Teils ist mithin, dass die traditionelle Serialität des historischen Romans mit Balzac eine Neugestaltung erfährt. Dominique Massonnaud sieht also für Balzac einen klaren Bezug zwischen Roman und Neuausrichtung der Geschichtsschreibung, den sie wie folgt zusammenfasst: „Le roman est alors donné comme un moyen privilégié pour une écriture renouvelée de l’Histoire, plus ambitieuse dans son souci de vérité que la ‚Clio classique‘“ (92). Das Paradigma des „faire vrai“ ließe sich mit anderen Worten in Bezug auf die Geschichte besser in der Fiktionalität des Romans verwirklichen. Einen gemeinsamen Nenner von Romancier und Historiker bestimmt die Autorin wenig später, wenn sie, schon an das Spurenparadigma (Carlo Ginzburg5) bei Balzac denkend, beiden eine „saisie des dessous et des envers“ (97) zuschreibt und das zu lüftende Geheimnis als verbindendes Motiv versteht. Genauso wie für Balzac das „vrai“ gegenüber dem aristotelischen „vraisemblable“ beim Roman in den Vordergrund rückt, versteht er seine auktoriale Rolle als „historien-inventeur“ (94), wie die Autorin anhand verschiedener seiner „Préfaces“ aufzeigen kann. Der realen Welt zuordenbare Texte werden wiederverwendet, in die fiktionale Handlung eingearbeitet, und erlauben es auf diese Weise, nämlich als „écriture de témoignage et de l’archive“ (107), zum Resonanzkörper für die Diskurse der Welt zu werden. An dieser Stelle hätte der Leser wohl gerne Textbeispiele für diese theoretische Haltung vorgefunden, welche über die programmatischen Schriften hinausreichen und die konkrete Umsetzung dieser Prinzipien in der Comédie humaine analysieren. Man könnte hier an die dokumentatorisch genaue Darstellung des Gefängnisses, der Architektur der Conciergerie und des Palais de Justice, der Entschlüsselung seiner geheimen Abläufe inklusive Prozessrecht in Splendeurs et misères des courtisanes denken, welche der fast episch-mythologischen Gestalt des Vautrin gegenüberstehen.
Über einen neuerlichen Bezug zu Walter Scott (diesmal einem Geschlechterdefizit) charakterisiert Dominique Massonnaud die Weiterentwicklung Balzacs, die von Le Dernier Chouan ausgeht – wir befinden uns um das Jahr 1828. Die Überzeugung, dass in der Scott’schen Romanwelt die Frauenfiguren nicht adäquat und ausführlich genug Darstellung finden, führe nun dazu, dass Balzac in Le Dernier Chouan mit Madame du Gua, Marie de Verneuil und Francine genau das anstrebt. Mithin wird im Roman die Liebesthematik als bestimmender Handlungsstrang konzipiert. Das Thema der Frauen wird von der Autorin im zweiten Teil folgerichtig als Konvergenzmotiv ausgewiesen, welches die „Heterogenität“ der Texte verringert (239). Dazu kommt, dass Balzac bewusst ein zeitlich nahes, ja fast aktuelles Thema wählt, die bretonischen Partisanenkriege der Chouannerie für Krone und Kirche, und sich damit ebenso bewusst von Scott absetzt. Das historische Geschehen wird als „échantillon représentatif“ als „spécimen d’une classe d’événements“ (135) präsentiert. Diese exemplarische und zugleich konzentrierende Funktion verweist in der Tat bereits auf die Comédie humaine. So versteht die Autorin den Roman Le Dernier Chouan als ersten Wendepunkt dahingehend, dass das serielle Geschichtsmodell ein „déplacement significatif“ (135) erfährt. So steht um 1830 faktisch die Gewissheit – damit schließt der erste Teil der Studie –, dass die lineare Serialität als Konstruktionsprinzip für Balzac nicht operabel ist.
Massonnauds erstes Kapitel des zweiten Teils, analog zum ersten Teil („le modèle sériel historique“) mit „le modèle de l’histoire naturelle“ überschrieben, führt ein weiteres generisches Modell ein, dasjenige der (frühen) Naturwissenschaft, welches als epistemologisches Strukturprinzip für Balzacs „œuvre-monde“ von Bedeutung ist. Die Beobachtung („observation“) bleibt dabei stets ein Königsweg. Auch hier greift die Autorin auf kanonische Texte zurück, die Balzac selbst in seinen Schriften erwähnt. Weniger als in den beiden Modellen eine Entwicklung zu sehen, das hieße weg vom Historischen hin zum Wissenschaftlichen, versucht Dominique Massonnaud beide Strömungen in der zentralen Periode von 1829 bis 1830 als parallel zu verstehen dergestalt, dass sich Balzac ein ethos aus „historien de mœurs“ und „observateur“ (181) zu konstruieren sucht. Zu nennen ist als erstes die Histoire naturelle von Buffon, dem Balzac faktisch seine Romane als eigene „Histoire naturelle de la société du temps“ (153) gegenüberstellt. Analog zu Buffon definiert Dominique Massonnaud den ersten analytischen Gestus Balzacs wie folgt: „repérer des identités spécifiques dans la masse humaine de la société contemporaine“ (177). Damit nimmt sie die Identifikation von bestimmten „types“ vorweg, wie man sie auch den zahlreichen Spielarten der Physiologies (de la grisette, du médecin, du tailleur...), die zu der Zeit in Mode waren, finden kann, ein Genre, dem sich Balzac ebenfalls früh schon bedient. Als Strukturprinzipien stechen hier die taxonomischen und insbesondere klassifikatorischen Bestrebungen im Erzählprojekt heraus, die auf einer genauen Beobachtung von Details fußen, eine Methode, die Balzac in seinen zahlreichen Vorworten immer wieder hervorheben wird. Dieses wissenschaftliche Modell mit seinen Bestrebungen, das natürliche Leben nicht nur zu begreifen, sondern vor allem auch zu ordnen, scheint schon deutlich 1829 in der Physiologie du mariage hervor. Nennen wir mit Dominique Massonnaud das Auftreten der Statistik („statistique conjugale“) als illustratives Beispiel. Als Gegenpol zur „ambition collectionneuse“ (187), diesem Prinzip der Ausdehnung, auf dem die Sammlungsmode und Kuriositätenkabinette beruhe, erweisen sich die von den Naturwissenschaften kommenden Gliederungsmechanismen. Das „œuvre-monde“ wird dynamisch als organisch wachsendes Ganzes gefasst, das mithilfe von Ordnungsprinzipien gegliedert und immer wieder neu strukturiert wird: „on observe qu’à partir de 1834, s’ajoute à la logique d’accroissement organique – sur le mode des recueils en expansion – une perspective hiérarchique d’agencement“ (187). Das Klassieren nach „espèces sociales“ erfüllt eine „rôle pragmatique“ (171) und wird von der Autorin als Versuch gelesen, einen zunehmend in Auflösung befindlichen sozialen Körper zusammenzuhalten.
Im Kern ist das taxinomische Ordnen schon in der „Introduction“ zu den Scènes de la vie privée (1830) angelegt. In der richtungweisenden „Préface“ zu Une fille d’Ève benennt Balzac selbst drei Konstruktionsprinzipien: „superposition“, „addition“ und „voisinage“ (191). In ihnen finden sich in nuce als kennzeichnend für die Comédie humaine auf der einen Seite die expansive Bewegung, die hierarchisierend-ordnende auf der anderen. Bald sind lockerere Verbindungen geknüpft („voisinage“), bald sind die Bezüge näher und eindeutig („superposition“). Die einzelnen Bestandteile des großen Ganzen logisch aufeinander ausrichtend und zueinander ins Verhältnis setzend, könnten diese von Balzac benannten Konstruktionsprinzipien auch mit den „syntagmatisch“ und „paradigmatisch“ angeordneten Serien in Bezug gebracht werden, die Dominique Massonnaud etwas weiter vorne im Kapitel skizziert (188). Letztere würden dann auch direkt auf die beiden Spielarten der Balzac-Lektüre verweisen: syntagmatisch gemäß der Entstehungszeit oder paradigmatisch der Handlungschronologie der einzelnen Personen folgend (z.B. dem Rastignac-Zyklus in 28 Texten Balzacs).
Neben dem seriellen und dem taxinomischen führt die Autorin ein drittes grundsätzliches Strukturmodell ins Feld: dasjenige der „kaleidoskopischen“ Gesamtschau, deren einzelne Bestandteile sich wie in einem Mosaik zusammenfügen. Diesen Dreischritt hätte man im Sinne der Leserführung etwas deutlicher herausheben können. Die Autorin spricht zu Beginn des zweiten Teils auch vom „modèle panoptique“ (139). Innerhalb der „littérature panoramique“, wie sie von Benjamin bezeichnet wurde, bilden die Tableaux de Paris von Louis-Sébastien Mercier einen zentralen Referenzpunkt (vgl. dazu das sechste Kapitel), aber auch der in mehreren Bänden zusammengefasste L’Hermite von Victor-Joseph-Étienne de Jouy, „passeur entre la tradition héritée de Mercier et les productions collectives du XIXe siècle“ (217), der dem vornehmlich aus Paris stammenden Publikum anthropologische, soziale und geographische Details aus Provinz, Pariser Stadtteilen oder sogar aus dem Ausland (London, Russland) zum Besten gibt. Das bereits erwähnte Spurenparadigma (in einem geographischen oder sozialen Raum) sowie die detailgetreue „observation“ stechen als verbindende Prinzipen hervor. Weitergehend könnte man anmerken, dass diese „saisie totalisante“ der sozialen Realität auch die Gattungsbeschränkung sprengt, betont Balzac doch mehrmals selbst, dass sich sein Projekt nicht nur auf den Roman beschränkt.
Auf terminologischer Ebene soll das Textbegriffspaar Kohäsion und Kohärenz aufzeigen, wie Balzac einen Zusammenhalt sowohl auf übergeordneter Ebene anstrebt (von der Autorin dem Begriff der Kohärenz zugeordnet) – beispielsweise mittels des Projekts der Études sociales oder über „motifs répétitifs qui assurent la cohérence“ (308) –, sich aber auch auf kleinere linguistische Einheiten beruft: „Une phrase, un mot, un détail dans chaque œuvre les lie ainsi les unes aux autres et prépare l’histoire de cette société fictive qui sera un monde complet“ (239). Ergänzend zu den Ausführungen von Dominique Massonnaud könnte man sagen, dass das Zitat deshalb so interessant ist, weil es die grundlegendste sprachliche Ebene (das Wort) am Anfang mit der großen Werkklammer („société fictive d’un monde complet“) am Schluss direkt in Beziehung setzt. Das Adjektiv „complet“ verweist also auf ein komplettes Abbild der Welt, im Mikro- wie im Makrokosmos, in der dargestellten Wirklichkeit wie auch in der darstellenden sprachlich-stilistischen Transposition. Das Detail ist sowohl beobachtbare soziale Realität, auf dessen Spurensuche sich der Leser mit Balzac begibt, als auch stilistischer Anspruch für die kompositorische Einheit der Comédie humaine. Die Entstehung des „œuvre-monde“, keinesfalls nur eine Aneinanderreihung von im Vorfeld sauber geplanten gesellschaftlichen Fallstudien, wird hier als performativer Prozess, als work in progress gefasst, der zwar einen Anfang, schwerlich aber ein Ende kennt. In einer schier unendlichen Schlaufe bedingt ein Roman den anderen, löst ein Detail das nächste förmlich aus, bereitet („prépare“) eine Beobachtung den Grundstein zur nächsten.
Die Schwierigkeit, der Komposition des Balzac’schen Opus deskriptiv oder konzeptuell beizukommen, zeigt sich in der Monographie auch immer wieder durch adversative Teilsätze, mithilfe derer die Autorin einerseits ein Strukturmodell bejaht, andererseits die Autonomie des Einzelwerkes nicht grundsätzlich antastet: „les éléments disjoints sont peu à peu intégrés dans la constitution d’un ensemble, sans pour autant perdre leur hétérogénéité et leur autonomie de fonctionnement, selon un processus engagé dès 1830“ (356). Vermehrt werden Metaphern kommentiert, die Balzac selbst verwendet und die strukturelle Beschaffenheiten seines Werks veranschaulichen sollen, so beispielsweise das Mosaik, das Panorama oder der bei Leibniz entlehnte konzentrische Spiegel. Die Autorin kann in diesem Zusammenhang zeigen, wie Balzac immer mehr von den architektonischen zu den organischen Metaphern wechselt, um den transformativen Charakter seines Werks stärker zu betonen. So liest man ganz am Schluss unter dem Stichwort „effet-monde“ von der Handlungsstruktur: „[elle] ne relève plus de la composition vraisemblable mais de la représentation composite du désordre du réel“ (454–55). Mehr noch als eine Abkehr vom aristotelischen Prinzip des „vraisemblable“ wird hier, wie oft von Dominique Massonnaud angeführt (siehe z.B. 262), der Zufall als produktives Prinzip miteinbezogen. Der sozialen Transformation und dem historischen Wandel, nicht zuletzt auch dem textgenetisch expansiven Fluss von Werk zu Werk, soll keine künstliche Ordnung übergestülpt werden. In diesem Sinne liest die Autorin ganz am Schluss auch das „inachèvement“ als „donnée constitutive“ (477).
Ist Dominique Massonnaud bestrebt, in den ersten beiden Teilen ihrer Monographie die prägenden Vorbilder in ihrer ganzen Breite herauszuarbeiten, so stellt sie in den beiden letzten die Singularität Balzacs in den Vordergrund. Dies unterstreichen emblematisch die beiden Überschriften des dritten und vierten Teils der Monographie („singularités balzaciennes“ und „un agencement singulier“). Als Basis ihrer Überlegungen wählt sie zwei bereits im ersten Teil besprochene poetologische Bestrebungen, die sowohl an das historisch-memorialistische als auch an das naturwissenschaftliche Erbe anknüpfen: „le souci balzacien est à la fois d’être observateur du présent et conservateur de mémoire“ (287). Das letztere ethos zeigt die Autorin überzeugend anhand der Contes drôlatiques, in denen die politische und soziale Aktualität unter der Schablone der Cent nouvelles nouvelles immer wieder ironisierend durchscheint. Der auktoriale Status Balzacs als „observateur du présent“ wird ganz am Schluss unter dem Begriff der „observation participante“ weiter ausgeführt: „l’observateur balzacien participe de ce monde qu’il observe et dont il subit les désordres“ (464). Damit fungiert der „narrateur balzacien“ als Vermittler (Dominique Massonnaud verwendet auch den Begriff „passeur“, 475) zwischen der wahrgenommenen Realität und der fiktionalen Spiegelung (um auch hier wieder eine Metapher Balzacs zu gebrauchen). Der Leser wiederum wird, „dans une entreprise d’ordre phénoménologique“ (475), manchmal direkt über die Apostrophe „vous“ miteinbezogen, das Dargestellte zu interpretieren und zu hinterfragen. Der Akt des Lesens wird zur „expérience du monde“ (475).
Da die Autorin diese partizipative Beobachterrolle auch mit dem anthropologischen Anspruch Balzacs verbindet, kommt sie folgerichtig im letzten der vier Teile nochmals auf das naturwissenschaftliche Paradigma zurück. Aus Lesersicht hätte sich wohl doch eher eine Zuordnung zu Kapitel fünf aufgedrängt (dies hätte, zugegeben, die Symmetrie der Kapitel mit je drei bis fünf Unterkapiteln in Schieflage gebracht), um Doppelspurigkeiten zu vermeiden und die nun im elften Kapitel angesprochenen Naturwissenschaftler in eine Reihe mit Buffon zu stellen. Gleiches ließe sich auch über die nochmalige Behandlung des historisch-memorialistischen Erbes zu Beginn des letzten Kapitels sagen, wo die Autorin explizit auf die Parallelen mit Saint-Simon eingeht sowie auf die Rolle als „modèle concret d’agencement textuel“, welche die Memoiren im allgemeinen für Balzac spielen. Wiederum wird die Comédie humaine vom Geschichtlichen und Naturwissenschaftlichen her gedacht. Beiden ist indes die Übertragung des ursprünglich Faktuellen (Paläontologie oder Geschichtsschreibung) ins Fiktionale eigen. Im ersten Kapitel des letzten Teils wird also nochmals auf die „transposition épistémologique“ (382) rekurriert, die Balzac ausgehend von Debatten aus der Naturwissenschaft vornimmt: es sind dies namentlich die Botanik eines Pyrame de Candolle (vor allem seine Überlegungen zur Symmetrie) und, wesentlich bekannter in der Balzac-Forschung, der „fixisme“ von Cuvier und dem an der Académie des sciences ausgefochtenen Streit mit dem „transformisme“ von Geoffroy Saint-Hilaire. Eine Referenz darauf befindet sich bereits zu Beginn des „Avant-propos“. Das organische Modell wird von Balzac auf die sozialen Gesetzmäßigkeiten übertragen, so die These von Dominique Massonnaud, und markiert damit zugleich auch einen historischen Bruch: „la transformation contemporaine des conditions, au gré des circonstances historiques, s’oppose aux conditions figées de la société d’ordre sous l’Ancien régime“ (384). Wiederkehrende Personen sind dem Wandel der Epoche und des Milieus unterworfen, legen teilweise kühne Transformationen an den Tag, wie der schillernde Kriminelle Vautrin, der nach unzähligen Verkleidungen und burlesk inszenierten Rollen am Ende von Splendeurs et misères des courtisanes sogar ganz die Seiten wechselt („La Dernière incarnation de Vautrin“). Soziale Mobilität avant la lettre. Diese „personnages reparaissants“ „déplacent les lignes du dispositif fixe et leur retour est un retour de la différence et de la variation“ (408). Das gilt ja gerade auch für die historische Dimension der Comédie humaine: Zeitgeschichte soll in ihrem Verlauf anhand der Entwicklung der Personen sichtbar gemacht werden. Auf diese Weise, könnte man mit anderen Worten sagen, werden die sozialen Entwicklungen und Transformationen zum poetischen Prinzip erhoben, welches die Comédie humaine selbst als Katalysator voranbringt. Der Wandel, vom Organischen zum Sozialen erweitert, wird zum expansiven Entwicklungsprinzip des „œuvre-monde“.
Im Gleichklang mit den Personen, welche über die Bände ebenfalls nicht strikt linear-chronologisch nachgezeichnet werden, bevorzugt Balzac, nicht zuletzt wegen der schon in ungeordneter Form erschienenen Texte, einen „mode original“ (307) mit Variationen, die sich überlagern oder wiederaufnehmen. Dies geschieht sicherlich über den so viel kommentierten Kunstgriff der „personnages réaparaissants“, der realiter bei Balzac allerdings noch viele andere Bereiche umfasst und deshalb von Mireille Labouret allgemeiner als „structures reparaissantes“ (310) charakterisiert wird. Ebenfalls wichtig ist dabei der Hinweis, dass es sich nicht um den Strukturmechanismus handelt, gemäß dem lediglich die Hauptpersonen und nur diese immer wieder, in neuen Fällen oder Episoden, auftreten (denken wir an Conan Doyle und Sherlock Holmes). Das bedeutet, dass eine Figur, der in einem Roman eine titel- und handlungstragende Hauptrolle zukommt, in einem anderen nur beiläufig Erwähnung findet. Beispielsweise wird Vautrin alias Herrera, der nur im dritten Teil der Illusions perdues als Nebenfigur auftaucht, zu einer der Hauptfiguren in Splendeurs et misères des courtisanes. Aus einer genetischen Sicht ist dies umso entscheidender, weil es die Möglichkeit geradezu potenziert, an praktisch jede beliebige in einem vorangehenden Text erwähnte (Neben-)Figur einen weiteren Text anzuschließen. In diesem Zusammenhang betont die Autorin nochmals den Prozess der „Wiederverwendung von authentischem Material“ (105), dahingehend, dass dieser „réemploi“ und der zugehörige Prozess der „réécriture“, vor allem ausgehend von den Contes, zwei zentrale Expansionsfaktoren („facteurs d’expansion déterminants“, 296) seien. Dies wird von Dominique Massonnaud am Schluss des Kapitels 8 in ein generelles „principe migratoire“ überführt. Obwohl synoptisch einige dieser Verschiebungen angesprochen werden (z.B. dass César Birotteau, ursprünglich für die Études philosophiques gedacht, in den Études de mœurs erscheint), hätte man in der Folge, wie an einigen Stellen zuvor, gerne noch konkrete Textbeispiele aus der Comédie humaine gezeigt bekommen, welche diese durchaus richtigerweise als zentral dargestellten Prozesse illustrierten.
Folgen die ersten beiden Teile des vorliegenden Werks auch immer einem chronologischen Faden, der die entscheidenden Entwicklungsetappen Balzacs deutlich macht, verschwimmt dieser im zweiten Teil zusehends und weicht einem gesamtheitlichen Überblick. So betont die Autorin beispielsweise, wie wichtig in der Entstehungsgeschichte der Comédie humaine das Nebeneinanderführen von Figuren und die Notwendigkeit einer „lecture comparative“ (306) seien. Sie sieht in den variantenreichen und potenzierten Lesestrategien eine konstitutive Eigenschaft des „œuvre-monde“: „[elle] paraît se caractériser par le fait de pouvoir se lire en tous sens, selon des ordres variés, qui à chaque fois la reconfigurent et la transforment“ (226). Die Rezeptionsprozesse werden damit selbst zu kreativen und ordnenden Akten. Die „lecture comparative“ wird von Balzac, wie die Autorin weiter hinten zeigt, durch eine „logique des référenciations“ (327) gestützt, die an geeigneter Stelle auf in Zusammenhang stehende Werke und Personen verweist. Dies kann im Text ganz explizit durch einen Verweis mit „voir“ geschehen. Geben wir hier ein Beispiel, das sich nicht in der Monographie findet. Gleich zwei solcher Verweise, die sich mit der von Balzac häufig verwendeten und hier über die Romangrenze hinwegweisenden „fonction de régie“ (nach Genette) in Verbindung bringen lassen, finden sich eng nebeneinander im dritten Teil von Splendeurs et misères des courtisanes. Erst verweist der Erzähler, als er die Klage gegen den jungen Grafen d’Esgrignon durch einen Banquier aus Alençon erwähnt, auf den entsprechenden Roman: „(voir, dans les scènes de la vie de province, Le Cabinet des Antiques)“; dann, nur einen Satz später, als die Rede auf die ersten Schritte Luciens bei der Marquise d’Espard nach Empfehlung von Madame de Maufrigneuse kommt, ist der Erzähler erneut bestrebt, den Leser innerhalb seiner Romanwelt weiterzuverweisen: „(voir L’Interdiction)“6. Diese Bezugslogik kann aber auch implizit oder mittels komplexerer narrativer Strategien erfolgen, wie beispielsweise, wenn der Leser in La vieille Fille erfährt, dass Suzanne von der tragischen Geschichte Marie de Verneuils und des Marquis de Montauran traumatisch geprägt worden ist. Thomas Conrad beschreibt den Zusammenhalt des Romanzyklus treffend als „unification épique du monde contemporain“7, auf diese Weise werden nach Massonnaud „des effets de rémanences dans la conscience du lecteur“ (307) erzeugt. Sicherlich wäre es auch nicht falsch, diese Referenzsysteme innerhalb der fiktionalen Welt als geschickte „teaser“ zu bezeichnen (um es in der modernen Werbesprache zu sagen), welche die Neugier des Lesers wecken und ihn gezielt zu einem neuen Buch hinführen. Die Verweise wirken also sowohl prospektiv im Sinne einer Prolepse als auch rückbezüglich im Sinne einer Analepse. Zeit wird damit nicht strikt „syntagmatisch“, sondern in erster Linie „paradigmatisch“ erfahrbar gemacht (323). Wir erinnern uns an die diesbezüglichen Aussagen zu den Serien im ersten Teil des Buchs. Dies ist, wie Dominique Massonnaud richtig betont, erst Voraussetzung dafür, dass der Effekt eines „œuvre-monde“ entsteht, nämlich dadurch, dass der Leser die Verknüpfungen, Wiederaufnahmen und vor allem die Entwicklungen, die sozialen und politischen Umstürze über eine längere (Lese-)Zeit erfährt; mit anderen Worten: den kreativen Fortgang in der fiktionalen Welt erlebt.
Massonnauds Faire vrai: Balzac et l’invention de l’œuvre-monde ist eine sehr reich dokumentierte Monographie, die mit einer Vielzahl von Quellen und literarischen Vorbildern der Comédie humaine aufwartet – diese „saisie totalisante“ gehört ja auch just zur Comédie humaine! An mehreren Stellen hätte man sich hingegen noch eine stärkere interpretatorische Hinwendung an das eine oder andere der modellhaften Vorbilder gewünscht, vor allem aber einen stärkeren Einbezug der fiktionalen Texte Balzacs, um auf diese Weise die Strukturprinzipien mittels einer analyse de texte an konkreten Textausschnitten der Comédie humaine zu zeigen. Diese Strukturprinzipien werden allerdings sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene präzise beschrieben und der Einfluss der epistemischen Vorbilder auf das Opus magnum überzeugend dargelegt. Auf die Paratexte Balzacs, seine zahlreichen „Préfaces“ und Vorworte wird häufig rekurriert. Diese werden erhellend zueinander in Verbindung gesetzt und dabei treffend kommentiert. Dies gilt insbesondere auch für die Periode vor dem eigentlichen Entstehen der Comédie humaine, die mit einschlägigen Referenzen beleuchtet und deren Wirken auf den späteren Balzac detailliert herausgearbeitet wird.
Inhaltsverzeichnis: http://tinyurl.com/p4jb34c.↩
Walter Scott, Guy Mannering or The Astrologer, anonym publ. (Boston: West and Richardson, 1815).↩
Honoré de Balzac, La Comédie Humaine, t. VIII, Bibliothèque de la Pléiade (Paris: Gallimard, 1977), 1681.↩
Schon Maurice Bardèche weist auf diese auf die Comédie humaine vorverweisende Gegenüberstellung mit den Worten hin: „C’était un premier exemple des compositions contrastées que Balzac, plus tard, cherchera souvent à ménager entre les œuvres de La Comédie humaine. Le dernier Chouan, c’était la guerre civile en rase campagne, Le capitaine des Boutefeux, c’était la guerre civile à Paris“. Maurice Bardèche, Balzac, romancier: la formation de l’art du roman chez Balzac (Genève: Slatkine, 1967), 227.↩
Carlo Ginzburg, Spurensicherung: Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst (Berlin: Wagenbach, 1995).↩
Honoré de Balzac, La Comédie Humaine, t. VI, Bibliothèque de la Pléiade (Paris: Gallimard, 1977), 720.↩
Thomas Conrad, „Poétique des cycles romanesques: de Balzac à Volodine“ (Paris III, Université de la Sorbonne nouvelle, thèse de doctorat, 2011), 468. URL: https://tel.archives-ouvertes.fr/tel-00788953/document.↩
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