„Die Moderne, sie beginnt im Mittelalter“: Gespräch mit der Romanistin und Autorin Monika Zeiner

Kai Nonnenmacher

Monika Zeiner, Der Blick der Liebenden und das Auge des Geistes. Die Bedeutung der Melancholie für den Diskurswandel in der Scuola Siciliana und im Dolce Stil Nuovo, Germanisch-Romanische Monatsschrift: Beiheft (Heidelberg: Winter, 2006).

Monika Zeiner, Die Ordnung der Sterne über Como, Roman (Berlin: Blumenbar, 2013).

Kai Nonnenmacher Ihr 600seitiger Debütroman ist nicht nur ein Berlinroman, sondern auch ein Italien-, Freundschafts-, ein Musik-, ein ein Liebesroman. Und er ist ein Roman über eine Dreieckskonstellation: Tom Holler, ein schwermütiger Träumer, in einer Berliner WG der Neunziger Jahre, dann ist da die Anästhesistin Betty – und Marc, der allerdings nicht überleben wird. Anja Hirsch schreibt in der Zeit:

Wie ein Monument, an dem nichts vorbeiführt, steht dieser Tod zentral in beiden Leben. Vom toten Marc geht eine unglaubliche Strahlkraft aus. Es ist, als hätte sein Tod ihn nochmals geweiht. Als Künstler wie als Mensch. Davon sich zu befreien, gilt die ganze Nacherzählung. Der Tod muss als Erzähler und Bestimmer entkräftet werden.1

Inwiefern ist es auch ein Roman über die Erinnerung, wenn Tom und Betty nocheinmal aufeinandertreffen?

Monika Zeiner Die Erinnerung ist ein zentrales Motiv. Vor allem die Hauptfigur, Tom Holler, der Träumer und Melancholiker, ist von dieser Erinnerung bestimmt. Er wendet sein gegenwärtiges Leben immerzu in die verlorene Vergangenheit zurück. Überhaupt ist für mich das Schreiben sehr stark an die Kategorie des Erinnerns geknüpft, Erzählen ist für mich nicht zuletzt der Versuch, Dinge dem Vergessen zu entreißen, sie durch die Wiederholung auf Dauer zu stellen.

K. N. Sie sind unter dem Namen Mona Stinelli die Sängerin der Berliner Band Marinafon, die italienische Musik der 1940er bis 1970er Jahre interpretiert. Natürlich denken Italophile da zunächst an den Schlager von Rocco Granata aus dem Jahr 1959, allerdings soll er eine Zigarrettenmarke gemeint haben. Was fasziniert Sie am Italienbild, das sich in Ihrem Repertoire mit der deutschen Nachkriegszeit verbindet?

Zeiner Die Lieder, die wir mit der Band spielen, sind eigentlich nicht das klassische Repertoire, das man mit der deutschen Nachkriegszeit verbindet, also gerade nicht „Marina“, da mag der Name der Band etwas in die Irre führen. Wir spielen in Deutschland eher unbekannte Stücke von Fred Buscaglione, Renato Carosone, Fred Bongusto oder Luigi Tenco. Meist sind das sehr melancholische Stücke, fast durchweg in Moll, die einen gebrochenen, poetischen Blick auf die Welt und die Liebe werfen, ganz anders als der deutsche Schlager jener Zeit, der ja eher erbaulich und fröhlich, fast immer in Dur war, wie ja auch die deutsche Volksmusik – im Gegensatz zur italienischen – eher aufmunternd und optimistisch klingt. Das ist sicher einer der Gründe dafür, dass sich die deutsche Volksmusik in der NS-Zeit so gut instrumentalisieren ließ, während die italienischen Volkslieder aufgrund ihrer Traurigkeit für den Faschismus nicht besonders brauchbar waren, weshalb es in Italien auch eine sehr viel ungebrochenere Kontinuität gibt in der musikalischen Tradition seit ’45, die immer noch sehr lebendig ist, auch von jungen Leuten geschätzt und gepflegt wird.

K. N. Sie spotten wunderbar über Italienklischees:

Auf der Bühne, die mit einem grünen Grasteppich ausgelegt war, standen vier Kunstbuchsbäume, außerdem einige griechische Säulen aus Plastik, die an Italien erinnern sollten, denn Italien war das Motto des Abends. Auch die italienischen Fähnchen, die italienischen Kräcker auf den Stehtischen und der rotweißgrün gekleidete Stelzenläufer trugen dazu bei, dass die Lebensmittelabteilung im Untergeschoss des Kaufhauses Italien zum Verwechseln ähnelte, nur war eine italienische Band offenbar nicht zu finden oder für einen erschwinglichen Preis zu haben gewesen, weshalb sich die Frank-Miller-Jazz-Band hatte vertraglich verpflichten müssen, wenigstens „Azzurro“ und „Volare“ ins Programm aufzunehmen.

Welches heutige Italienbild wollen Sie uns mitgeben? Bzw. welches Italienbild beschäftigt die Figuren Ihres Romans?

Zeiner Italien ist – nicht erst seit der Nachkriegszeit – das klasssische Sehnsuchtsland der Deutschen. Und natürlich mit Vorstellungen und Projektionen bis zum Rand aufgeladen. Wie wir aus eigener (manchmal leidvoller) Erfahrung als Musiker wissen, erfreut sich der sog. „Italienische Abend“ als Event in Autohäusern, Einkaufspassagen, Hotels etc. ungebrochener Beliebtheit. Das Italien-Motiv changiert im Roman also zwischen zwei Vorstellungsbildern, zwischen Italien als romantischem Sehnsuchtsland der Dichter, Denker und Maler einerseits und als Wunschtraum der Rimini-Touristen andererseits.

K. N. An mehreren Stellen Ihrer Doktorarbeit fiel mir auf, wie Sie Brücken zur Gegenwart bauen. Welche Erkenntnis nehmen Sie aus Ihrer Beschäftigung mit der Sizilianischen Dichterschule und dem Süßen Neuen Stil mit?

Zeiner Es hat mich verblüfft, wie genau die mittelalterlichen Theoretiker und Dichter psychische Phänomene wie Verliebtsein oder Melancholie beschrieben haben, und wie gültig diese Beschreibungen noch immer sind, weil es sich offenbar um anthropologische Konstanten handelt. Die Melancholie galt ja als besondere Disposition nicht nur für die intellektuelle oder künstlerische Tätigkeit, sondern auch für die Liebe, weil der Melancholiker einerseits über eine besondere Wahrnehmungsfähigkeit verfügt, in gewisser Weise sehr leicht zu beeindrucken ist durch diese Wahrnehmung, und andererseits ein stark ausgeprägtes Erinnerungsvermögen hat, das ihm ermöglicht, das Wahrgenommene besonders genau und haltbar zu speichern und dann, aufgrund seiner Neigung ins Innere, zur Reflexion, schöpferisch damit umzugehen.

K. N. Kann es sein, dass Worte wie Ordnung, Liebe, Melancholie, Augen, Aufstieg in Ihrem Roman mehrfach kodiert sind: vollkommen zeitgenössisch und zugleich hohes Mittelalter? Kann man Ihren Roman neben den Lesarten der Literaturkritik nicht auch als Versuch lesen, die Liebesphilosophie der italienischen Lyrik wie eine Bordunsaite mitklingen zu lassen oder gar ihre Modernität zu erzählen?

Zeiner Ja, das wollte ich zumindest versuchen. Auch in der mittelalterlichen Lyrik war es ja so, dass die Texte auf mehren Ebenen lesbar waren, da war einerseits der pseudo-realistische Textvordergrund und daneben der theoretisch-metaphysisch kodierte Hintergrund, der nur dem relativ kleinen Kollegenkreis der Fachleute zugänglich war. Ich glaube aber, dass damals jeder die Gedichte auf seine Art verstehen konnte. Es wäre schön, wenn man auch meinen Text auf mehren unterschiedlichen Ebenen lesen könnte, also einerseits einfach als Liebes-, Freundschafts- und Musikergeschichte, andererseits aber auch als philosophisch grundierte, symbolische Erzählung.

Was den mittelalterlichen Liebesdiskurs betrifft, so fällt auf der vordergründigen Textebene auf, dass Liebe und Liebesbeziehung (also Ehe) sich qua definitionem immer ausschlossen. Das ideale, hohe Liebesstreben und die sich im Zusammenleben erfüllende Versorgungsehe, waren zwei vollkommen getrennte Phänomene. Die Liebe musste immer im Unmöglichen verharren. Die Vorstellung der Liebesheirat ist dagegen ein relativ neues, erst seit dem Zeitalter der Romantik bekanntes Ideal.

Auf der Hintergrundebene geht es aber gar nicht um die Liebe. Es geht viel mehr um Wahrnehmung, um Erkenntnis im philosophischen Sinn, wobei die Liebe, der Anblick und Augenblick der Liebeswahrnehmung, also das Sehen der Geliebten durch den Augensinn, der erste Schritt einer aufsteigenden Abstraktionserkenntnis nach aristotelischem Modell ist, die Liebe ist also die Vorbedingung des reinen Denkens und damit der Entelechie des Menschen in der Anschauung der reinen Form. Sie kann aber auch in den Wahnsinn führen, in geistige Umnachtung, Krankheit und sogar zum Tod. Sie ist also, als melancholisches Phänomen, mehrfach kodiert und changiert – wie die Melancholie – zwischen den Polen der außerordentlichen geistigen Befähigung einerseits und der Krankheit andererseits.

K. N. In Ihrem Roman lesen wir:

Tom Holler ahnte seit langem, dass es auf die richtige Beleuchtung ankommt im Leben. Die Dinge ändern sich mit der aktuellen Lichtstimmung: Eine Reihenhaussiedlung im Berliner Norden, Häuserkartons in tannenbestandenen Gartenvierecken, die, eingeschlossen in schmutziggraue Luft, als materialisierte Depression daherkommt, erweckt bei Sonnenschein immerhin den Eindruck einer gewissen Ländlichkeit. Das Wasser eines neben der Vorortsiedlung gelegenen Sees hat die verschiedensten Farbmixturen zwischen schlammbraun und leuchtend türkis anzubieten, je nachdem, ob zufällig ein Licht durch die Oberfläche bricht oder nicht, und selbst der blaue Himmel über See und Vorortsiedlung – ein Physiker hatte es Tom bei irgendeiner Gelegenheit erklärt – ist in Wahrheit ein Nichts, durchsichtig, eine mehr oder weniger ansprechende flüchtige Illusion, die ausschließlich auf den Lichteinfall, den Lichtzufall, zurückzuführen ist.

Genauso die Seele. Sie ist die Vorortsiedlung, dachte Tom, das farblose Wasser des Sees, der durchsichtige Himmel, und irgendetwas übernimmt die Funktion des Sonnenlichts: ein Lächeln aus bestimmten Frauenaugen, eine Tonfolge, ein Anruf, Hormone, die wiederum diese oder jene physiologische Schaltkonstellation im Gehirn erzeugen, willkürlich Weichen verstellen, wodurch Stimmungen allenfalls relativ, schwankend, um nicht zu sagen trügerisch sind, eine Einbildung.

Was hat Erzählen mit einer solchen Beleuchtungsprobe gemeinsam?

Zeiner Indem ich erzähle, richte ich den Scheinwerfer der Wahrnehmung auf die Dinge, beleuchte dieses oder jenes Detail, lasse anderes im Dunkeln. Auch die Interpretation des Erzählten durch den Erzähler ist schwankend, womöglich unzuverlässig, so wie das Licht.

K. N. Ihr Romantitel Ordnung der Sterne über Como spiegelt sich in Stellen des Romans mit unaufgeräumten Wohnungen, der Anordnung von Schriftzeichen und der schönen Form der Zentralperspektive, Menschen, die mit Logik und Mathematik die Kontingenz und das Chaos sortieren wollen: „Zeichen und Symbole und Ordnung in alles hineinzulesen, in die Sterne, ins Meer, in schwarze Katzen von links oder grüne Autos von rechts und auch in Erinnerungsglasperlen.“ Will Ihr Roman Ordnung oder Unordnung schaffen?

Zeiner Der Antrieb zu schreiben ist für mich wohl zunächst tatsächlich, Ordnung zu schaffen, oder zumindest, es zu versuchen. Auch die Figuren im Buch streben nach so einer – wie auch immer gearteten – Ordnung. Gerade die Musik, die ja sehr eng mit der Zeit verknüpft ist, sowohl horizontal, indem sich die Melodie entlang der Zeit entwickelt, als auch vertikal, da die Tonhöhen durch die jeweiligen Schwingungsfrequenzen in der Zeit bestimmt sind, gerade die Musik ist ja der Versuch, die Zeit zu ordnen, sie in einem sinnvollen Zusammenhang und Zusammenklang der Töne zu gliedern. Das hat das Schreiben mit der Musik gemeinsam, diese enge Verbundenheit mit der Zeit, man kann sie raffen, verkürzen, dehnen in der Erzählung und eben auch ordnen. Auch wenn diese Ordnung natürlich nur eine Illusion ist, so ist sie doch ein schöner Ersatz für die verlorene Metaphysik und vor allem ein sehr guter Zeitvertreib.

K. N. Worin sehen Sie die Verbindung von Melancholie und Erinnerung, mit der in Ihrem Roman der Tod des Protagonisten von Nietzsche hergeleitet wird:

Plötzlich glaubt er zu wissen, was Nietzsche mit seiner Wiederkehr gemeint hat. Er drückt die Zigarette ins Porzellanschälchen. Die Erinnerung. Dieses leiernde, immer dasselbe abspielende Erinnerungsvermögen des Menschen. Diese alte, abgenudelte, auf dem kreisenden Plattenteller des Gedächtnisses immer an einem Punkt hängen bleibende Langspielplatte.

Zeiner Wie oben schon angedeutet, ist die obsessive Beschäftigung mit der Vergangenheit ein Grundzug des Melancholikers. Der Vergangenheitsbezug, sowie die Hinwendung zum eigenen Inneren, zu unablässiger Reflexion, können einerseits als Merkmale des Pathologischen gelten, andererseits aber ein äußerst fruchtbarer Zustand sein. Gerade das Erzählen schöpft sehr stark aus der Erinnerung, wäre ohne sie nicht denkbar, wie auch die Musik ohne Erinnerung, also das Verknüpfen musikalischer Motive im Gedächtnis, nicht möglich wäre.

K. N. Mit einem Nietzsche-Zitat leiten Sie ein Kapitel Ihrer Doktorarbeit über Giacomo da Lentini ein: „Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!“ (Also sprach Zarathustra)

Und nicht nur im touristischen Sinn (bei einem Besuch des Nietzsche-Hauses in Sils-Maria), sondern auch auf der theoretisierenden Ebene ist Nietzsche in Ihrem Roman präsent als Philosoph einer „ewigen Wiederkehr“, als Stellvertreter einer verzweifelten Moderne, einer Befreiung von der Transzendenz. Ihre Figur Breitenbach sagt z.B. „Die Moderne, […] sie beginnt im Mittelalter! Mit der Sünde der Verzweiflung!“ Die Moderne entspricht aber nicht einem Weg ins Dunkel, sondern ins überhelle Licht der Erkenntnis:

Tom sah aufs Wasser hinab und auf das schwimmende, zuckende Weiß. Er konnte sich nicht erinnern, je einem derartigen Massentod beigewohnt zu haben, und obwohl er sich der mäßigen Originalität seines Gedankengangs bewusst war, obwohl er sich eingestand, dass das, was er zu denken begann in diesem Moment, nichts Neues war, sondern dass Milliarden Menschen vor ihm dasselbe gedacht hatten, es jeden Tag dachten, wusste er plötzlich, dass sie beide sterben würden. Dies war ihm eine erstaunliche Neuigkeit, als erwache man aus einem schrecklichen Traum, in dem es schwer gebrannt hat und alles zu Asche zerstaubt ist, und man erkennt im bleiernen Morgenlicht: Es ist die Wirklichkeit. Er musste sich am Geländer festhalten, die Augen schließen, denn das Wasser des Flusses spiegelte, blendete ihn.

Ist eben dies die Aufgabe des Romans in der Moderne, das Überblenden der Wirklichkeit?

Zeiner Vielleicht würde ich mit Leopardi sagen, die Aufgabe der Dichtung ist der Trost. Nicht indem sie die Wahrheit verschleiert, sondern indem sie sie darstellt, und wenn das dann genau und poetisch und originell geschieht, dann kann das tröstlich sein, glaube ich.

K. N. Ihre Landschaftsszenen erinnern mich an Senancours Oberman oder Büchners Lenz. Bei der Lektüre der folgenden Stelle frage ich, wie stehen Sie, wie steht Ihr nachmetaphysischer Roman zu Leben und Tod, zu Zeit und Ewigkeit?

Der Tod ist das letzte Blatt im Bilderbuch eines uralten Kindes. Ein dünner Pfad, der durch gemaltes Märchengelände führt. Er geht an Berge geschmiegt, halb verborgen von hängenden Pflanzen, für jedes Jahr der Menschheitsgeschichte eine: Waldefeu, Lianen, unendliche Dornbüsche. Er geht inmitten einer schweigenden Vegetation, wandert durch dunkle Täler, über ernst blickende Felskämme, zielt in weiten Bögen auf die andere Seite der Gipfel, verliert sich in blauer Ebene, von keinem Horizont je begrenzt. Und menschenleer ist sein Weg, denn er öffnet sich nur absoluter Stille. Die Lebenden finden ihn nicht. Zu laut sind die Schritte, zu fordernd ist ihr Suchen. Er durchwandert ein Gebiet, von dem niemand ahnt, wo es liegt, von dem niemand ahnt, was darin geschieht. Wie das verlorene Atlantis existiert es neben den Landkarten. Niemand weiß, ob es da ist, und doch muss es da sein. Ganz nah. Aber es gibt keinen Übergang, es gibt kein Zwischen. Hier das Leben, dort der Tod, beides getrennt durch eine Leere, weiter als die Distanz des Erdmittelpunktes bis zum äußersten Planeten des Universums. Es hängt keine Brücke. Der Pfad beginnt im Nichts.

Zeiner Ihre Vergleiche freuen mich ...

Diese scheinbar selbstverständlichen Grundlagen unserer Existenz, Leben, Tod, Zeit, Ewigkeit, sind eben auch die erstaunlichsten Tatsachen. Dieser Diskrepanz zwischen dem täglichen Leben in und mit diesen Tatsachen und der völligen Ratlosigkeit ihnen gegenüber sind wir ausgesetzt, damit müssen wir irgendwie umgehen. Das versucht der Roman zu reflektieren.

K. N. Ihr Roman zeigt, was geschieht, wenn man einer Ärztin ein Liebesgedicht von Petrarca vorliest und warum ein Gabelstaplerfahrer Gedichte schreiben soll. Warum schreiben Sie selbst keine?

Zeiner Ich brauche leider immer so lange, bis ich auf den Punkt komme.

K. N. In Ihrer Doktorarbeit fragen Sie nach dem Gegensatz von Naturalisierung und Metaphorisierung:

Für Bader deutet sich in dieser Naturalisierung der Verlust der Metapher an. Die Übertragung pathologischer Zustände in die überweltlichen Sphären des Heiligen, die in mythischen Kulturräumen die Kontinuität von Zeit und Ewigkeit sichert, wird durch das Hereinbrechen des aristotelischen Materialismus gefährdet. Dennoch hält sich in der ambivalenten Konzeption der schwarzen Galle spürbar ein letzter Rest der Metapher als mögliche Erklärbarkeit von Welt, um späterhin mehr oder weniger deutlich gerade in der mittelalterlichen Liebeslyrik aufzuleuchten.

Wie bewegt sich Ihre Literatur zwischen diesem Gegensatz von Realismus und Symbolisierung?

Zeiner Wie schon vorhin angedeutet, würde ich meine Poetik zwischen realistischer und symbolischer Erzählung verorten. Die vordergründige Ebene ist ein Realismus mit möglichst glaubwürdigen, wahrhaftigen Figuren, aber es gibt einen metaphorischen Hintergrund, der das Geschehen im Vordergrund beleuchte, der da und dort durch das Realistische hindurchscheint und den Blick in eine weitere Ebene eröffnen kann. Vor einigen Tagen las ich dieses Zitat von Max Beckmann, von dem ich mich im Hinblick auf mein Schreiben sehr angesprochen fühlte: „Worauf es mir in meiner Arbeit vor allem ankommt, ist die Idealität, die sich hinter der scheinbaren Realität befindet. Ich suche aus der gegebenen Gegenwart die Brücke zum Unsichtbaren – ähnlich wie ein berühmter Kabbalist es einmal gesagt hat: ‚Willst du das Unsichtbare fassen, dringe, so tief du kannst, ein – in das Sichtbare.‘ Es handelt sich für mich immer wieder darum, die Magie der Realität zu erfassen und diese Realität in Malerei zu übersetzen. – Das Unsichtbare sichtbar machen durch die Realität. – Das mag vielleicht paradox klingen – es ist aber wirklich die Realität, die das eigentliche Mysterium des Daseins bildet!“

K. N. Wie verlief Ihr Übergang von der Identität als Mediävistin zur Schriftstellerin mit einem Roman, der gleich auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises kam? Und was verbindet Sie mit Maren, der Promovendin der Kunstgeschichte im Roman, die sich für die Kunst nach der Metaphysik interessiert, für den sich selbst reflektierenden Blick auf die Welt?

Zeiner Ich hatte schon während meines Studiums und vor allem während der Promotion Theater- und Hörspieltexte geschrieben, aber immer eher anwendungsbezogen. Nachdem ich die Doktorarbeit abgeschlossen hatte, erschien es mir dann anfangs wie eine ungeheuere Befreiung, in die Fiktionaliät einfach so hineinschreiben zu können, ganz ohne Belege, Herleitungen, Fußnoten. Allerdings verflüchtigte sich dieses Gefühl dann relativ schnell, weil ich eingesehen habe, dass man beim Romanschreiben ebenso genau sein muss wie beim wissenschaftlichen Arbeiten, nur auf andere Weise. Insofern war das wissenschaftliche Schreiben aber eine wichtige Voraussetzung für mein anderes Schreiben, auch die Fähigkeit, über Jahre an einem Thema zu bleiben, sich in dieses Thema und diese eigentlich komplett absurde Tätigkeit des Erfindens zu vertiefen. Das ist aber, glaube ich, auch schon die einzige Gemeinsamkeit zwischen Maren und mir. Ich halte sie für eine viel ernsthaftere Promovendin als ich es war.

K. N. Sie lassen Maren ja mit einem Mann eine ganz und gar mittelalterliche Szene erleben, die der niedergeschlagenen Augen:

„Ich würde gern noch eine rauchen“, sagte, statt einer Antwort, Maren, und wieder gab er ihr Feuer, blickte diesmal lange in diese fremden Augen hinein, und sie lächelte und senkte die Lider, während sie einen tiefen Zug nahm und dann den Rauch in einem steilen Winkel zur Seite blies. Tom konnte sich gar nicht erinnern, wann er eine Frau zuletzt mit derartigem Blick angesehen hatte, so tief, dass sie die Augen niederschlug. Es war berauschend, dieses Augenniederschlagen, und hinterließ ein jähes Brennen in seinem Bauch, fast wie der Grappa, von dem man inzwischen schon das dritte Glas geleert hatte.

Was hat es mit dem Blick der Liebenden auf sich? Mit der Unerfüllbarkeit der Liebe?

Zeiner Diese Szene greift natürlich tief hinein in die Mottenkiste mittelalterlicher Liebesdiskurse. Über den Blick als Vorbedingung der Liebe einerseits und geistiger Erkenntnis andererseits sprachen wir ja vorhin schon. Der Liebesblick steht immer am Anfang, und wird dann in der obsessiven melancholischen Erinnerung des Liebenden beständig reproduziert. Hier allerdings wird der Blick, recht prosaisch, in die Wirklichkeit gewendet, indem aus ihm nicht die Liebe (und auch wenig Erkenntis) entspringt; Maren bleibt ja nur eine flüchtige Episode auf Toms Reise zu Betty. Aber, wer weiß, vielleicht verliebt sich Maren in diesem Augen-Blick unsterblich in Tom und konserviert den Moment in der Erinnerung für die nächsten zehn Jahre. Oder sie treffen sich einmal wieder, und sie erklärt ihm Rom und die Zentralperspektive und Michelangelo ...

K. N. Sie schreiben einmal in Ihrer Doktorarbeit:

Das fruchtbare Schwanken der erotischen Liebe zwischen irdischer und göttlicher Macht kehrt in der gesamten Philosophie- und Literaturgeschichte wieder. Verwiesen sei hier nur auf die Liebeskonzeption des deutschen Idealismus, auf die Transzendentalphilosophie der Romantik oder in neuster Zeit gar auf die Romane Michel Houellebecqs, in denen einzig in der Unmöglichkeit der Liebe ein letzter – wenn auch ins Negative gewendeter – metaphysischer Rest aufscheint.

Ein Kapitel Ihres Romans, „Das Meer der Möglichkeiten“, erinnert an eine Ihrer Platten: Auf dem Cover stehen Sie auf einem angelandeten Boot und weisen aus dem Bild hinaus ins Unendliche. Wie vereinigen sich in Ihrem Blick auf die Liebe Guido Cavalcanti und Michel Houellebecq?

Zeiner Beide sind ja Melancholiker, wenn nicht Verzweifelte (bei Houellebecq denke ich hier in erster Linie an den Autor von Elementarteilchen). Und Cavalcanti erweist sich in seiner absoluten Negativität als ein äußerst modern erscheinender Autor, so weit man das von einem Dichter des 13. Jahrhunderts überhaupt sagen kann. Immerhin ist von Cavalcanti bekannt, dass er die Existenz Gottes in Zweifel zog und dass er (als Anhänger der averroistischen Aristoteles-Auslegung) das menschliche Denken für das Maß aller Dinge hielt, dass er – ganz im realistischen Sinn – Melancholiker war, darf man ebenfalls annehmen. Aber, auch wenn es nur in seiner Abwesenheit anwesend ist, so ist doch bei beiden auch das romantische Motiv des Unendlichen zu finden, des über das Hier und Jetzt, über die menschliche Begrenztheit Hinausweisenden.

K. N. Im Roman inszenieren Sie auch Debatten über das, was der mittelalterliche Mensch uns Heutigen voraushat:

Breitenbach sagte laut: „ein-bildung. Achten Sie auf das Wort!“, sagte er. „Denn wir bilden die Liebe in uns hinein, prägen das Bild dieser Liebe in unser Inneres ein“, sagte er, und dieses Wissen, fuhr er fort, dieses grandiose Wissen, hätten die Menschen der Antike und des Mittelalters den Heutigen, uns Heutigen, vorausgehabt, weil jene nämlich im Gegensatz zu uns gewusst hätten, dass diese ein-gebildete Liebe nur und immerzu absolut selbstbezüglich sein könne, aus uns selbst herauskomme und in uns selbst wieder hineingehe, ganz wie übrigens die Melancholie, „das in sich selbst eingeschlossene, sich selbst einschließende Denken“, sagte er und nahm einen Schluck Tee, der in seinem Hals hinabrumpelte.

Was würden die Dichter des italienischen Mittelalters über unsere Praktiken und Diskurse der Liebe heute urteilen?

Zeiner Sie würden sie wahrscheinlich für völlig absurd halten und vielleicht zu Recht annehmen, dass wir die Vorstellung von der Liebe heillos überfrachten mit unseren disparaten Anforderungen, die wir an sie stellen. Einerseits fordern wir die unendliche, ideale Liebe, die sich im Zustand des Verliebtseins, einer Hollywood-Romantik erhält, andererseits die verlässliche, freundschafliche Paarbeziehung, die in der funktionierenden, glücklichen Familie gipfelt, und dies alles fordern wir von und mit einer einzigen Person. Die mittelalterlichen Denker würden verwundert den Kopf schütteln (vermutlich auch über unsere Trennungs- und Scheidungsraten).

K. N. Ihr Doktorvater Sebastian Neumeister hat u.a. gezeigt, dass die Gedichte der sizilianischen Dichterschule außerliterarische Bezüge reduzieren und dass die Liebesgedichte ein geschlossenes intertextuelles Gewebe ausbilden.2 Es ist elitäre Dichtung einer Gruppe unter ihresgleichen. Sie diskutieren in Ihrem Roman, warum nicht auch ein Arbeiter heute mittelalterliche Lyrik lesen sollte. Hatten Sie denn bei der Rezeption Ihres Romans den Eindruck, die philosophisch-literaturgeschichtliche Grundierung Ihrer Geschichte wurde ernstgenommen?

Zeiner Teilweise schon. Verwundert hat mich allerdings die große Bandbreite der Rezeptionsansätze. Während der Roman einigen Lesern als leicht, beschwingt und unterhaltend erschien, kommentierten ihn andere als depressiv, schwer verdaulich und überhaupt schwierig. Es kam mir manchmal vor, die jeweiligen Rezipienten hätten völlig unterschiedliche Bücher gelesen. Aber vielleicht ist es im besten Fall ja wirklich so, dass man das Buch auf unterschiedlichen Ebenen verstehen kann, das birgt zwar natürlich die Gefahr des Missverstandenwerdens, aber die ist ja ohnehin immer gegeben und vielleicht auch nicht so schlimm.

K. N. Wenn Ihr Roman zumindest auch als Prosimetrum gelesen werden kann, bei dem italienische Liebeslyrik des Mittelalters abwesend mitklingt, welches Gedicht würden Sie uns empfehlen, bei der Lektüre danebenzulegen?

Zeiner Da fallen mir viele ein: Auf jeden Fall Cavalcantis „A me stesso“ und Leopardis „A se stesso“; aber auch „L’infinito“ von Leopardi. Oder das wunderliche Sonett von Giacomo da Lentini „Or come entrar sì gran donna“, in dem der Dichter sich Gedanken darüber macht, wie eine so große Frau durch seine Augen in sein Inneres passen kann und implizit und gleichsam en passant die platonische und die aristotelische Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorien gegeneinanderstellt.

Or come pote sì gran donna entrare
per gli oc[c]hi mei, che sì pic[c]ioli sone?
e nel mio core come pote stare,
che ’nentr’esso la porto laonque i’ vone?

[Lo] loco laonde entra già non pare,
ond’io gran meraviglia me ne dòne;
ma voglio lei a lumera asomigliare,
e gli oc[c]hi mei al vetro ove si póne.

Lo foco inchiuso, poi passa di fore
lo suo lostrore, sanza far rot[t]ura:
così per gli oc[c]hi mi pass’a lo core,

no la persona, ma la sua figura.
Rinovellare mi voglio d’amore,
poi porto insegna di tal crïatura.3

K. N. Im Kern kreist Ihre Doktorarbeit um die Liebesmelancholie, die Sie u.a. mit Cavalcantis „A me stesso“ und Leopardis „A se stesso“ begründen als Pathologie der Introspektion eines auf sich selbst zurückgeworfenen Subjekts:

Anstatt sich auf ein Bündel frei zu gestaltender künftiger Möglichkeiten zu beziehen, zielt das erotische Streben auf ein klar umrissenes punktuelles Ereignis aus der Erinnerung, nämlich das traumatische Erlebnis des die Liebe entzündenden Augen-Blicks. Die erotische Hoffnung kreist symptomatisch um die einmalige Erfahrung des Sich-Verliebens, womit sich Vergangenes zum melancholischen Thema ausprägt und die Perspektive in die Zukunft verstellt. Das Sehnen wendet sich durch die absurde Situation der in der Liebe antizipierten Unerfüllbarkeit resignativ in die eigene Vorzeit zurück, wobei Kommendes durchweg als negative Determination eines schicksalhaften Scheiterns umgewertet wird. Damit liegt auch hier wie im symptomatisch melancholischen Zeitempfinden ein Sich-Zurückziehen der freien Erwartungen in die Erinnerung vor. In gleichem Maße wie das vergangene Erlebnis als fortan bestimmend und wirkmächtig angenommen wird, verlagert sich die Kategorie des Zukünftigen aufgrund ihrer bereits beschlossenen Vorherbestimmtheit in die retentio.

Ist Melancholie für Sie behandelbare Depression oder kulturschöpfende Lebenshaltung?

Zeiner Schon in der Antike war man sich der Ambivalenz dieser Disposition bewusst. Im ps-aristotelischen Traktat Problema XXX, 1 von Theophrast, das bis in die Neuzeit als die grundlegende Abhandlung über die Melancholie galt, wird eben dieses Problem diskutiert. Dabei wird klar umrissen, dass Melancholie zwar durch die Neigung zu Reflexion und Introspektion intellektuelle und schöpferische Leistungen fördern kann, aber nur wenn sie im Rahmen des Mäßigen verbleibt und nicht in einen der extremen Pole der Manie oder der Depression verfällt. Wo die Grenzen verlaufen, ist natürlich fließend, wo hört eine besonders genaue, illusionslose Weltsicht auf, und wo beginnt die Depression, das wird man wohl stets im Einzelfall entscheiden müssen.

K. N. In Ihrer Dissertation wie in Ihrem Roman begegnet uns der Satz des Arnald von Villanova: „Amor (...) qui dicitur hereos, est vehemens et assidua cogitatio supra rem desideratam cum confidentia obtinendi delectabile apprehensum ex ea“ (De amore heroico). Nun ist ja die Betty des Romans Ärztin und erklärt Liebe nur noch als „eine Frage der Hormone und gewisser chemischer und elektrischer Schaltreaktionen im Gehirn.“ Inwiefern ist Betty eine Nachfahrin jener Ärzte aus Salerno, Neapel, Bologna und Montpellier, die ab dem 12. Jahrhundert mit der Liebeskrankheit, amor hereos, eine Übersetzung des arabischen ’ishq in die westliche Welt tragen?

Zeiner Die arabischen Ärzte reduzierten die Liebe ja gerade nicht, wie Betty es an dieser Stelle provokant tut, auf eine Reihe chemischer Reaktionen bzw. Stoffwechselabläufe, sondern, was sehr faszinierend ist an der mittelalterlichen Medizin, die sich ja auch immer als Naturphilosophie verstand, ist, dass sie stark psychosomatisch orientiert ist. Organismus und Geist werden als Einheit gedeutet, deren Elemente stark interagieren. So geht die Liebe zunächst vom Körperlichen, dem Sehsinn aus, strahlt dann auf den ganzen Körper aus, indem sie eine Reihe organischer Reaktionen hervorruft, und zielt andererseits ins Geistige, indem sie in der Erinnerung und dann in der Ratio reflektiert und abstrahiert wird.

K. N. Beim Lesen hat mich Ihr Oszillieren zwischen der erhabenen Negativität und der beiläufig-lässigen Komik fasziniert, hierfür steht vielleicht der unpassende Song „Love in Portofino“, der ja so vieldeutig mitklingt, mit Strophen wie:

Nel dolce incanto del mattino
Il mare ti ha portato a me
Socchiudo gli occhi a me vicino
A Portofino rivedo te

Unpassend ist das Lied, weil es bei einer Improvisation Neuer Musik gänzlich ungebrochen erklingt, zwischen Jazzplatten und Stockhausen. Ist diese Stelle Parodie der modernen Kunst oder Ihr Bekenntnis zur „unmittelbare[n] Überredungskunst des einfachen Tons“?

Zeiner Beides. Und beides schließt sich ja auch nicht aus. Ich glaube, man kann avantgardistischer E-Musik oder experimentellem Jazz gegenüber aufgeschlossen sein und dennoch von einem einfachen Lied ergriffen werden. Das ist für die Ausübenden oft schwieriger, da man sich in der Musik doch sehr innerhalb bestimmter Genres, um nicht zu sagen, Schubladen bewegt. Die Trennung zwischen dem sogenannten ernsten und dem unterhaltenden Bereich ist in der Musik sehr viel schärfer gezogen als beispielsweise in der Literatur. In der sogenannten E-Musik geht nach Schönberg niemand mehr in die Tonalität zurück, während in den anderen Künsten, der Malerei und auch in der Literatur, alles möglich zu sein scheint. Man kann auch nach Malewitsch wieder figürlich malen, man kann nach dem Dekonstruktivismus grammatikalisch korrekte und verständliche Sätze schreiben. In der Musik ist das Verdikt der Avantgarde stärker ausgeprägt, aber ich kann nicht sagen, warum das so ist. Vielleicht hat das etwas mit unserem – seit ’45 sehr verständlichen – Unbehagen gegenüber der „Überredungskunst“ der Musik zu tun, keine Kunst trifft ja so unmittelbar in das Gefühl wie die Musik, was womöglich daran liegt, dass sie als die abstrakteste Kunstform gleichzeitig auch die körperlichste ist, weil Schall bewegte Luft ist und als solche ganz körperlich in unser Ohr und Inneres dringt.

K. N. Es wird viel gelacht in Ihrem Roman, oft sind die Figuren selbst überrascht über ihren Körper, der lacht. Das Lachen überbrückt Unpassendes, so ein Lachanfall, während das Gegenüber von Nietzsche doziert und dabei schlürfende Geräusche macht, es erinnert mich an die Stelle bei Kierkegaard, wo einer meint, einen Gottesbeweis gefunden zu haben, aber ein Staubkorn im Auge bringt ihn auf die Erde zurück. Wie stehen Sie als erklärte Melancholikerin zum Lachen?

Zeiner Das gemeinsam Lachenkönnen ist für mich einerseits ein Ausweis der Freundschaft, ein Lachanfall verbindet zwei Menschen auf eine sehr innige Weise. Das exzessive Lachen hat andererseits auch etwas Unheimliches, Elitäres, ist bei Marc zugleich eine kleine Anspielung auf die Figur des Adrian Leverkühn in Thomas Manns Dr. Faustus.

Grundsätzlich ist mir Humor sehr wichtig, weil er – ganz wie bei Kierkegaard – das Abgehobene lakonisch gleichsam erdet. Und das Fürchterlichste kann man ja auch sehr witzig erzählen (s. Thomas Bernhard), wenn das irgendwo gelingt, Szenen zu erzählen, wo beides, Ernst und Komik, sehr dicht nebeneinander, ja übereinander liegen, dann interessiert mich das immer sehr.

K. N. Ihr Romanende bleibt offen mit einem Aufbruch zu „Ziele[n], die in der Vorstellung schöner sein mochten als in der Wirklichkeit“ und „wie man von einem Gebirgsgipfel den zurückgelegten, angesichts der Höhe einerseits unbedeutenden, andererseits ungeheuer weit erscheinenden Weg überblickt“. Was bedeutet also der Liedtitel „I found my love in Portofino“ für die Lebbarkeit der Liebe?

Zeiner Vielleicht ist die Liebe nur in der Erinnerung lebbar. Der ungarische Dichter Antal Szerb hat gesagt: „Die Liebe konserviert einen einzigen Augenblick, den ihres Entstehens, und wer geliebt wird, altert nie.“ Ich weiß es aber auch nicht.

K. N. Können Sie schon von Ihrem aktuellen Schreiben etwas berichten?

Zeiner Eine wenig, ja: Das Projekt setzt in gewisser Weise da an, wo Die Ordnung der Sterne aufhört. Es wird um eben die „Lebbarkeit“ der Liebe gehen und um die Frage, wie das Glück in seiner Fragilität gegen die Zeit zu verteidigen ist. Es soll ein Familienroman werden, der eigentlich kein klassischer Familienroman ist. Die handelnden Figuren werden aber stark aus ihrer Vergangenheit, der Kindheit und der ferneren Familiengeschichte heraus entwickelt werden, indem Erinnerung und Geschichtlichkeit den metaphorischen Hintergrund und den Untergrund der Erzählung bilden. Und es wird eine Literaturwissenschaftlerin geben, insofern bleibe ich der Literaturwissenschaft treu …

K. N. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch, Frau Zeiner.


  1. Anja Hirsch, „Kunst ist das Gegenteil von Liebe“, Die Zeit (27. September 2013).

  2. Sebastian Neumeister, „Die Literarisierung der höfischen Liebe in der sizilianischen Dichterschule des 13. Jahrhunderts“, Literarische Interessenbildung im Mittelalter, hrsg. v. Joachim Heinzle (Stuttgart: Metzler, 1993), 385–400. Vgl. hierzu auch: Andreas Kablitz, „Intertextualität als Substanzkonstitution. Zur Lyrik des Frauenlobs im Duecento: Giacomo da Lentini, Guido Guinizelli, Guido Cavalcanti, Dante Alighieri“, Poetica, Nr. 23 (1991): 20–67.

  3. Giacomo da Lentini, „Sonetto XXII. Or come pote sì gran donna entrare“, in: Poesia italiana. Il Duecento, hrsg. von Piero Cudini (Milano: Garzanti, 1978), 22. Kemp gibt die Prosaübersetzung: „Wie nur kann eine so hohe Dame, eine so große Herrin durch meine Augen in mich eintreten, die doch so klein sind? Und in meinem Herzen, wie kann sie darin sich aufhalten, daß ich sie darin trage, wo immer ich hingehe? | Die Stelle, an der sie eintritt, sieht man ja nicht, was mich hoch verwundert. Doch ich will sie mit einem Licht vergleichen, und meine Augen mit dem Glas, darauf sein Schein fällt.“ Friedhelm Kemp, Das europäische Sonett, Bd. 2 (Göttingen: Wallstein, 2013), 49.





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