Das vielfältig Böse in der Gegenwartskultur Spaniens und Lateinamerikas: zu Susanne Hartwigs Sammelband Culto del mal, cultura del mal
Hubert Pöppel
Susanne Hartwig, Hrsg., Culto del mal, cultura del mal: realidad, virtualidad, representación, Ediciones de Iberoamericana 72 (Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert, 2014).
Das Böse und seine Darstellung in zeitgenössischen Werken der spanischen und lateinamerikanischen Kultur konzeptionell zu fassen und zu analysieren, nimmt sich dieser Band vor. Für eine deutschsprachige Rezension ergibt sich jedoch ein vorgängiges Problem mit der Terminologie. ‚El mal‘, ‚lo malo‘ entspricht eben nicht vollständig dem ‚Bösen‘. Isabel Maurer Queipo bringt es in ihrem Beitrag auf den Punkt, wenn sie mit Graciela Hierro ‚el mal‘ in vier Kategorien aufspaltet (136f.): ‚el mal natural‘ oder ‚físico‘, also das grundlegende Schicksal des von Krankheit und Tod geschlagenen Menschen; ‚el mal cultural‘, worunter sie gesellschaftlich bedingte und hervorgebrachte Übel wie Armut, Rassismus, Sexismus, Krieg versteht; ‚el mal moral‘, das, in Einheit mit dem ‚mal metafísico‘, das Böse in der Auflehnung gegen die Gesellschaft und ihre Gesetze bzw. gegen Gott und seine Gebote meint. Hinzuzufügen wäre schließlich mindestens noch eine fünfte Modalität, nämlich ‚lo estéticamente malo‘, das in einer hier immer bewusst eingesetzten Abweichung von den jeweils geltenden Normen des gelungenen Kunstwerks bestünde, mithin z.B. ein schlechtes Schreiben.
Die zentralen Fragen des Sammelbandes lassen sich im Prinzip daraus entwickeln: Wie kommt ‚el mal‘ als uns ständig und in vielfältigen Formen umgebendes Phänomen der Realität in die Kunst, die Medien und die Literatur? Wie wird das Böse dort dargestellt, repräsentiert, imaginiert, fiktionalisiert? Wie bestimmt sich das Verhältnis von Ethik und Ästhetik in den jeweiligen kulturellen Kontexten. Welche anklagenden, erinnernden, aber auch, etwa im Umfeld einer repressiven Moral, befreienden Funktionen kann die ästhetische Bearbeitung des Bösen erfüllen? Wie entgehen die untersuchten Werke der Falle, ungewollt der Faszination des Bösen Vorschub zu leisten, ohne jedoch gleich in didaktisch-axiologische Darstellungsweisen abzugleiten?
Diese letzte Frage stellt Susanne Hartwig (21–42) konkret an Roberto Bolaños Roman Estrella distante von 1996, in dem der Dichter und Fotograf Carlos Wieder die Rolle des absolut Niederträchtigen und Bösen einnimmt. Während der Diktatur Pinochets foltert er seine Opfer zu Tode, um sie dabei mit dem Ziel zu fotografieren, das absolut autonome Kunstwerk zu erschaffen. Diesem jedoch räumt der chilenische Autor keinen Platz ein. Die Bilder werden nicht beschrieben. Sie verbleiben, wie vieles andere in Bolaños Text, in der Ambivalenz und Ambiguität. Ein voyeuristisches Lesen wird unterbunden. Die böse Tat, das Böse, oszilliere dadurch, so Hartwig, zwischen dem Gezeigten und dem Imaginierten, zwischen der Realität und Virtualität. Letztlich wird der Leser, ohne die Hilfe einer moralischen Wertung, ohne die Hilfe des ebenfalls ambiguen Erzählers, auf seine eigene Phantasie und seine Verantwortung zurückgeworfen.
Wie kann man über das Böse schreiben, ohne es in den Mittelpunkt zu stellen und damit zu glorifizieren? Das Werk Roberto Bolaños kreist um dieses Thema, und nicht umsonst begegnen uns seine Romane und Erzählungen immer wieder in diesem Band. José González-Palomares (63–72) hebt dabei am Beispiel des Kapitels „La parte de los crímenes“ von 2666 hervor, dass die Darstellung der Frauenmorde von Ciudad Juárez vor allem auf der eintönigen Wiederholung des Grauens durch die nahezu neutral vorgetragene Aufzählung von Orten, Namen und Fakten basiert, ohne Opfer oder Täter zu Wort kommen zu lassen.
Eine zentrale Rolle spielen Bolaños La literatura nazi en América und 2666 auch bei dem wahrlich anregenden Beitrag von Daniel Graziadei (169–182). Anhand der Bewegungen McOndo und Crack sowie an mehreren französisch-, englisch- und spanischsprachigen Romanen Lateinamerikas und der Karibik untersucht er die Einbeziehung von Elementen des trash und pop, der Metafiktion, der transmedialen Hybridisierung, der Transkulturation in den Themenbereich der Diktatoren, der Gewalt und des Bösen, der noch vom Boom und dem Magischen Realismus als typisch lateinamerikanisch dargestellt worden war. Dieser Zusammenprall heterogener Diskurse beschränke zwar einseitig ethische Lesarten, öffne jedoch ganz neue, globale Perspektiven.
Ganz auf die Darstellung der Diktatoren, speziell auf den Unterschied zwischen den schon klassischen Dikatorenromanen (García Márquez, Roa Bastos, Asturias etc.) und den jüngeren literarischen und filmischen Bearbeitungen der Militärdiktaturen der 1970er Jahre (Martín Kohan, Luis Gusmán, Pablo Larraín, wieder Bolaño u.a.) konzentriert sich Benjamin Loy (183–198). Hannah Arendts These von der „Banalität des Bösen“ dient ihm dabei als Richtschnur, um die in den jüngeren Produktionen und Texten so deutlich aufscheinende Alltäglichkeit, Belanglosigkeit, Simplizität in der Sprache und Einförmigkeit in der Handlungsführung in Korrelation zu setzen mit dem grundlegenden Wandel der Machtstrukturen und Gewaltdiskurse, der den Übergang von den charismatischen, auf öffentliche (Selbst)repräsentation angewiesenen caudillo-Diktatoren früherer Jahre hin zu den technokratischen, aber grauen Militärmachthabern vom Stile eines Videlas oder Pinochets kennzeichnet.
Noch einmal taucht Bolaño schließlich bei Annette Paatz (117–130) mit seiner Formel „literatura + enfermedad = enfermedad“ auf. Paatz geht dabei auf die Suche nach den Spuren des ‚mal‘ in El pasado des Argentiniers Alan Pauls und findet sie zunächst in Verweisen auf die Kulturgeschichte des Bösen seit der Romantik. Sehr viel spezifischer jedoch in einem Exkurs des Romans, der über den Künstler Riltse handelt. Dieser entwickelt mit Sick Art eine ganz eigenständige, extreme, ja perverse Kunstform, indem er sich kranke – unzureichend übersetzt: maligne – Teile seines Körpers herausoperieren lässt und sie in Kunstwerke transformiert. Die Ästhetik, die Kultur, der Kult des Bösen wird auf diese exzessive und transgressive Weise von ihren kulturhistorischen Ursprüngen an die, so Paatz, postmoderne Gegenwart gebunden.
Die Problematik, das Böse zu zeigen und es allein damit schon für den Konsum freizugeben, stellt sich im Medium Film in noch schärferer Form als in der Literatur. Dabei ist der Gattung des Dokumentarfilms per se eine Grenze eingezogen. Konkrete Gewaltdarstellungen dürfen dort aus ethischen und rechtlichen Gründen nicht vorkommen, wollen Kameramann und Regisseur sich nicht mitschuldig machen an den vor der Kamera begangenen Taten. Christian von Tschilschke (43–60) untersucht nun zwei Werke des Brasilianers Jose Padilha, den Dokumentarfilm Ônibus und den Spielfilm Tropa de Elite, die beide um das kreisen, was Giorgio Agamben die Grauzonen der Demokratien, den „Ausnahmezustand“ nennt, also staatlich legitimierte und doch nicht zu legitimierende Gewalt. Das Anliegen beider Kinoproduktionen wäre dann in gewisser Weise, Übergriffe der brasilianischen Polizei als den Normalzustand zu denunzieren. Indem Padilha jedoch die Grenzen zwischen Fiktionalität und Dokumentarischem aufweicht und den beiden Filmen Anteile der jeweils anderen Gattung beimischt, stellt sich die ethische Dimension beider Werke grundlegend neu.
Die Legitimität der Ästhetierung des Bösen beschäftigt auch Dagmar Schmelzer (83–115) in ihrer umfassenden und beispielhaften Analyse des Romans Las máscaras del héroe von Juan Manuel Prada, der uns nach Spanien führt. Der narrative Text selbst öffnet das Spektrum von zwei zeitlich weit auseinanderliegenden ‚cultos del mal‘: einmal durch die Verortung der Romanhandlung im Umfeld der spanischen Avantgarden, mit einer intendierten Verschärfung der Ästhetik der „deshumanización“ (Ortega) und ihrer versuchten Überführung ins Leben (Bürger); zum anderen durch die Einflüsse der „literatura sucia“ der 1990er Jahre, über die der Kitsch, das Inauthentische, die groteske Aemulatio Eingang in den Romantext finden und auf unterschiedlichen Erzählebenen durchgespielt werden. Das Schreiben über das Schlechte und Böse und das schlechte – im Sinne von bewusst ästhetische Normen durchbrechende – Schreiben laufen somit als experimentell-parodistische Verfahren parallel.
Um das Böse in einer ganz anderen Bedeutung geht es bei Pilar Nieva-de la Paz (153–166), die sich mit den „schlechten Frauen“ im spanischen Kriminalroman beschäftigt. Vorgeschaltet ist diesem Beitrag der von Isabel Maurer-Queipo (133–152), die einen durchaus lesenswerten und überaus informativen kulturhistorischen Abriss über das böse Weibliche aus männlicher Sicht in der Kunst- und Literaturgeschichte bietet, der allerdings weder auf die hispanische Welt noch auf die Gegenwart bezogen ist.
Ausgehend von der dort herausgearbeiteten Definitionsmacht der Männer über das, was für Frauen gut oder schlecht, von ihnen zu tun oder zu unterlassen ist, sind die beiden Kriminalpolizistinnen von Mercedes Castro und Alicia Giménez Bartlett als malas mujeres einzuordnen, da sie in eine von Männern absolut dominierte Berufswelt einbrechen. Für Nieva-de la Paz bietet sich gerade der Kriminalroman als Vehikel für feministische Fragestellungen an, da er sich qua Gattung oder Genre die Sozialkritik auf seine Fahnen geschrieben habe.
Ein wenig aus dem Rahmen der Gegenwartsorientierung des Bandes fällt Benjamin Inals (73–82) kurze Erinnerung an den Film Guernica von Alain Resnais aus dem Jahr 1950. Der französische Regisseur hatte damals, kurz nach dem Krieg, in einer Zeit, in der weder Kunst noch Literatur eine Sprache gefunden hatten, um das Grauen des Krieges und der Verbrechen der Nationalsozialisten in Worte zu fassen, Aufnahmen von verschiedenen Werken Picassos, speziell natürlich von Guernica, mit Teilen des 1937 entstandenen Gedichts „La victoire de Guernica“ Paul Eluards unterlegt, um auf diese Weise zu einer extrem ästhetisierten Filmsprache zu gelangen und das Unsagbare auszudrücken.
En resumidas cuentas öffnet der nur 200 Seiten umfassende Sammelband einen überraschend weiten Blick auf das Böse, das Übel, das Infame, das Schlechte, das Kranke in der zeitgenössischen Kultur Spaniens und Lateinamerikas, wobei sich die Pluralität des Untersuchungsgebietes auch in der Vielfalt der zur Untersuchung herangezogenen methodischen Ansätze widerspiegelt.
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