Krise der Männlichkeit als identitäres Spielfeld: zum Sammelband Der verfasste Mann: Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 von Gregor Schuhen
Markus Alexander Lenz
Gregor Schuhen, Hrsg., Der verfasste Mann: Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 (Bielefeld: transcript Verlag, 2014).
Der von Gregor Schuhen herausgegebene Band geht anhand kulturtheoretischer und textanalytischer Perspektiven der „Anwendbarkeit von Theorien aus den Men’s und Masculinitiy Studies“ auf die „literaturwissenschaftliche Forschung“ nach. Dieses Labor in Buchform wird durch seine Strukturierung in seinen beiden Teilen „Texturen: kulturwissenschaftliche Perspektiven“ und „Texte: literarische Fallbeispiele“ zu einem interessanten und lesenswerten Versuch, die theoretischen Fundierungen einer Fragestellung der Gegenwart und insbesondere einige theoretische Ansätze der Männlichkeitsstudien auf die Zeit des Fin de Siècle anzuwenden, das als eine in ihrer kulturellen und symbolischen Produktivität geradezu paradigmatische Epoche für ein erneuertes Bewusstsein über – und das Spiel mit jenen geschlechtlichen Identitätskonstrukten gilt, welche in ihrer vermeintlichen Statik durch zentrale Narrative und Figuren des literarischen Panoramas unterwandert werden. Zu nennen wären etwa die vielfältigen Entwürfe männlichen und weiblichen Dandytums, von Bohémiens und in die Jahre gekommener Don Juans, welche Bücher, Zeitschriften, Bühnen und Leinwände bevölkern, dabei aber dennoch in bisweilen durchaus konventionellen und konventionalisierbaren Mustern einer Inszenierung von Geschlechteridentität verankert sind, der es nachzuspüren gilt. Hinter Fassaden des sexuell, erotisch und modisch Unerhörten stehen oftmals immer noch jene Männlichkeitsdarstellungen, die sich als etablierter Hintergrund gesellschaftlicher Hierarchieverhältnisse im Politisch-Privaten in der Zeit zwischen 1870 und 1930 der Vitalität neuer Jugendlichkeit, aber auch herausfordernder Provokation durch Umkehrung und Unterwanderung ihrer Symbolpolitiken und Machtpraktiken stellen mussten.
In einem kulturtheoretisch wie literaturhistorisch breiten Spektrum werden in den zwölf Beiträgen von Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftlern Gesellschaftsstrukturen und Texte des viktorianischen England, des wilhelminischen Deutschland und der Republik der Weimarer Jahre, Spaniens und Lateinamerikas sowie selbstverständlich Frankreichs in den Blick genommen, um allein durch die unterschiedlichen Fokussierungen der jeweiligen Thesen auf den ersten Blick erkennen zu lassen, wie wenig nicht nur in Genderfragen Diskurse und Akteure eine homogene und pauschalisierende Sichtweise auf ‚ein‘ Fin de Siècle zulassen. Etwas bedauerlich ist dabei, dass mit Italien und Gabriele D’Annunzio ein wichtiger und wirkmächtiger Teilnehmer an der Debatte fehlt. Dass neben der ‚Verfasstheit‘ der Männer und des Mannes und unter Hinweis auf Hanna Rosins 2012 erschienenem The End of Man: And the Rise of Women die Frage nach der Krise der Männlichkeiten bereits durch den Herausgeber selbst als eine zeitnahe und von Herausgeber wie Beiträgern kritisch relativierte Debatte in eine historische Perspektivierung versetzt wird, mag zunächst den Verdacht auf eine anachronistische Anwendung postmoderner Theoreme auf krisenhafte Symptome aufkeimen lassen, welche vor allem im Europa der Jahre nach 1900 doch noch immer aus den postromantischen Unruhen imperialistischer und nationalstaatlicher Katastrophen, sozioökonomischer und politischer Umwälzungen entstanden waren. Jene historischen Umstände könnten eine Analyse dieser Epoche der Moderne allein noch in den bürgerlichen Kategorien selbstbewusster und vor allem männlich dominierter Repräsentation zulassen, keineswegs einen Vergleich mit der Tiefe jenes theoretisierten ‚Gender Trouble‘ im postmodernen Sinne, der in der Verhandlung identitärer Normierung radikal die Diskurse über ‚Kultur‘ und ‚Natur‘ mit neuen Vorzeichen versah. Dass diese Rückschau mit der durch Foucault, Butler und Connell geschulten Brille dennoch berechtigt ist, wird vor allem dann deutlich, wenn in den letzten beiden Beiträgen zu den „Ruinösen Männlichkeiten im spanischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts“ (Tanja Schwan) und „Prekäre Männlichkeit in Benito Pérez Galdós’ Roman ‚Aita Tettauen‘“ (Christian von Tschilschke) anhand einiger bahnbrechender Werke der spanischen Romanliteratur (Galdós’ Tristana von 1892 und Aita Tettauen von 1905, sowie Claríns La Regenta, 1884–1885) die Frage nach der ideologischen Grundierung jeglichen Konstatierens von Krisen im Gender-Diskurs noch einmal diskutiert und am Textmaterial veranschaulicht wird. Nach einer Auseinandersetzung mit den subversiven Funktionsweisen literarischer Inszenierung und intertextueller Parodien von Männlichkeit am Beispiel einiger Figuren der Romane, wird deutlich, wie sehr eine ,Krise der Männlichkeit‘ stets auch mit einer Angst vor dem Machtverlust hegemonialer und hierarchischer Strukturen Hand in Hand geht, die vor allem ein reaktionäres Rollenverständnis als Typenlehre arrivierter Ideale des Mannes mit gesellschaftlicher Stabilität verwechseln: Don Juan hat abgewirtschaftet. Gerade in diesem Kontrollverlust der Literatur über altehrwürdige Modelle wird die Zeit kurz vor und nach der vorletzten Jahrhundertwende zu einem Paradebeispiel literarischer Ideologiekritik, wie Lucia Krämer auch anhand der Sherlock Holmes-Erzählungen und der zwischen ihren Rollen als Arzt der Gesellschaft und an der eigenen nervlichen Verfassung ‚leidenden‘ Hauptfigur nachweist, während Stefan Horlacher durch die langsame „Dekonstruktion phallischer Männlichkeit“ in Hardys Mayor of Casterbridge (1886) sorgfältig jenen Prozess einer Unterwanderung männlicher Selbstvergewisserung bloßlegt, der die Pathologie einer bürgerlichen Männlichkeit in der einseitigen Ablehnung von Weiblichkeit als von Anfang an bedroht sieht – bedroht durch Krisen, die von homoerotischen Strukturierungen des Begehrens, aber auch von überzogenen Ansprüchen an die Selbstvergewisserung eigener Stärke ausgelöst sind. Vervollständigt wird dieser Prozess durch die Erscheinung der Figur des weiblichen Dandys, wie er in den Romanen von Marguerite Eymery/Rachilde, aus denen Anne-Berenike Rothstein Monsieur Vénus (1884) und Madame Adonis (1888) für ihren Beitrag ausgewählt hat, als eine Umkehrung der Geschlechter und eine Reduktion des Mannes zur Chiffre dennoch mit einer nach wie vor männlich konnotierten Dominanz verbindet und dadurch eben auch in seiner modernen Historizität einem Diskurs um Sex und Gender verhaftet bleibt, der die Rolle der Femme fatale und des weiblichen Dandys mit Strategien männlicher Ermächtigungssymbolik verbindet.
Ein Problem des Bandes besteht darin, dass er den Leser möglicherweise dann enttäuscht, wenn die weiten kulturtheoretischen Fragestellungen der Intensität literaturwissenschaftlicher Nahanalyse vorausgehend zwar bereits viele Reflexionsmuster und mögliche Textzugänge vorwegnehmen, dabei aber einige explizit angesprochene Thematiken allein schon aus Platzgründen zu wenig Diskussion erfahren: Die Pathologisierung des Mannes und eine eingehendere Analyse von Diskursen der Homo- und Bisexualität werden bisweilen zu Marginalien der Krisenfrage als Phänomen der Erschütterung des Etablierten, das doch immer schon erschüttert war, auch wenn einige Beiträge (insbesondere Ingenschay, Schuhen, Horlacher und Rothstein) dieses ‚Randdasein‘ eng mit ihrer jeweiligen zentralen Fragestellung verweben. Von einer Leerstelle des Bands zu sprechen, wäre daher auch nicht angemessen, zumal einige zentrale Beobachtungen vor allem in den Entwürfen von Männlichkeit in ihrer Tiefendimension notwendig und auch vorhanden sind, um jene Phänomenologie von Variation und Subversion nachvollziehbar machen, wie sie die ‚Mannsbilder‘ der Jahrhundertwende prägen: Die komplexen Zusammenhänge zwischen vitaler bzw. ‚degenerierter‘ Männlichkeit, Jugend und Jugendkultur, wie sie sich um 1900 in Deutschland und Frankreich in Literatur und Erziehungsdiskursen manifestieren, und wie sie Gregor Schuhen in seinem Beitrag „Der Kaiser, das Dichterkind und der Bohemien“ analysiert, die Inszenierung und Reinszenierung ‚realer‘ Dandyfiguren in Roman, Malerei und Ballett, der Volker Roloff anhand von „Dandys und Dandy-Fantasien: von Huysmans und Montesquiou zu Proust und den ‚Ballets russes‘“ nachgeht, aber auch die Vielfalt an Entwürfen hispanoamerikanischer Männlichkeiten, deren subtile Unterschiede als „Machos-gauchos-sissies“ und „maricones“ Dieter Ingenschay herausarbeitet, rücken für das Sprechen vom „Mann“ zentrale historische Identitätskonzepte in den Vordergrund der Analyse, ohne die ein Verständnis der Spielregeln als Konvention und Bruch im Genderdiskurs des Fin de Siècle in Fiktion und historischer Darstellung und damit auch kein Sprechen über Krisen des Mannes möglich wäre. Wie lange noch gerade diese Konventionen als „retrospektive Männlichkeit“ im Gegensatz zur Progressivität weiblicher Entwürfe das kommerzialisierbare Männerbild auch aus weiblicher Perspektive bestimmten, zeigt Maren Lickhardts Untersuchung „Uhu, Dame, Querschnitt oder Von Keun bis Keilson: Männlichkeitskonzepte in den Zwanziger Jahren“ anhand von Mode- und Kulturzeitschriften der Weimarer Jahre, in denen gerade Werbeannoncen einiges über die konventionellen Anforderungen an den ‚Mann von damals‘ enthüllen.
Neben der Zentralität dieser Thematiken für die Relativierung einiger Vorurteile über die genderübergreifende Fortschrittlichkeit einerseits und die Krisenhaftigkeit der Epoche kurz vor und nach 1900, welche Frau wie Mann, oder zumindest das Sprechen über sie, gleichermaßen betreffen, ist es zudem eine komplementäre Notwendigkeit, auch den Diskurs über die Diskurse einer relativierenden Perspektive zu unterziehen. Der Band beginnt daher mit Sabine Schraders Überlegungen zur Frage nach der ‚exception française‘, der verspäteten Rezeption der Queer- und Men’s Studies in Frankreich. Dieses Nachzüglertum ist verwunderlich, als doch ein Hauptteil des theoretischen Potentials der neueren Gender Studies nicht erst seit der Dekonstruktion in Literatur, Film und Philosophie des Landes vorhanden war und nicht allein mit einem auf Frankreich zentrierten ‚Misstrauen‘ gegenüber US-amerikanischer Theoriebildung erklärt werden kann, sondern auch durch eine aufklärerische und durchaus berechtige Vorsicht gegenüber neuen Essentialismen und Partikularisierungen geprägt ist. Ebenso wird klar, dass die Masculinity Studies, und mit ihnen die Gender und Queer Studies, sich immer wieder auf die Frage nach dem oftmals unterstellten Nominalismus überprüfen lassen müssen, wenn schließlich nach der Lektüre von Walburga Hülks und Britta Künkels „Lob des Optimismus“ die vielfältigen Interdependenzen von körperlicher Identifizierung mit kultureller Codierung, der Aufwertung des hegemonial Männlichen bei gleichzeitiger durchaus dialektisch zu verstehenden Abwertung des Weiblichen dem Leser bewusst werden, wie sie auch den olympischen Geist eines Pierre de Coubertin und die Kunstphilosophie eines Hippolyte Taine durchdringen. Es versteht sich von selbst, dass all diese Analyseansätze noch viel Spielraum für weitere in ähnlich transdizplinärer, aber literaturwissenschaftlich gewichteter Weise zugespitzte Debatten lassen, um letztlich nicht nur auf eine symbolische, sondern sozioökonomische Emanzipation der Geschlechter zu hoffen. Zumindest was die Sprache der Mode betrifft, sieht Barbara Vinken in ihrer Antwort auf die feststellende Frage „Männer sind die neuen Frauen?“ anhand von Verschiebungen modischer „Arabeske[n] der Moderne“ das Versprechen einer um 1900 lediglich einseitig vonstattengegangenen Übertragung des Erotischen auf die Kleidung (der Frau) nun im Unisex der gegenwärtigen Männermode verwirklicht.
Insgesamt bietet der Band bereichernde und anregende Lektüren über historische Zusammenhänge vor dem Hintergrund eines brandaktuellen Theoriefeldes, welches jedoch ruhig eine etwas stärkere Verknüpfung und Strukturierung mittels des Aufbaus des Bandes sowie eine inhaltliche Fokussierung und theoretische Zuspitzung auf die eingangs erwähnte Frage der Anwendbarkeit von Masculinity Studies auf die Literaturtheorie hätte erfahren dürfen. Denn die Fülle der im Band behandelten Thematik – und die damit einhergehende Fülle an Information zwischen Literatur- und Kulturtheorie auch innerhalb einzelner Beiträge – konzentriert sich letztlich nicht auf diese auch methodologisch alles andere als einfach zu formulierende Frage an die Epistemologie der Literatur- und Kulturwissenschaften, sondern lässt die Sujets der Beiträge in einer Debatte um historische und zeitgenössische Krisen der Männlichkeiten durchaus fruchtbar aufgehen. Ein Diskurs, der über die räumlich wie zeitlich sehr disparaten Untersuchungsgegenstände die Frage nach dem methodischen Apriori etwas vernachlässigt. Dennoch werden die Krisen des ‚verfassten Mannes‘ so vieler ideologischer Masken beraubt, dass in den meisten Beiträgen der Begriff ‚Krise‘ eher zum identitären Spielfeld wird, welches die Möglichkeiten nicht nur männlicher, sondern menschlicher Existenz dem Leser gerade durch die subversiven Mechanismen von Narration und Inszenierung facettenreich vor Augen führt.
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