Spanien im Bausumpf: Autoren über die staatsgefährdende Krise ihres Landes
Rita Nierich und Peter B. Schumann
Der Artikel lehnt sich an die Radiosendung gleichen Titels an, die im Deutschlandradio Kultur, „Zeitfragen. Literatur“, am 12. September 2014 gesendet wurde. Die Zitate werden deshalb in deutscher Sprache gegeben. Das Interview mit Chirbes wurde vom Deutschlandfunk geführt, die mit den übrigen Autoren von Paul Ingendaay.
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Die politischen Eliten in Spanien wurden weder vom Gesetz noch von der öffentlichen Meinung noch von der Presse genügend kontrolliert. Auch reichten die Gesetze nicht aus, um Korruption und Schwindel nachhaltig zu bestrafen. Außerdem hat sich das Land allzu lange mit einer Fantasie-Wirtschaft abgefunden, die nicht tragfähig war: dem Bauboom, dem Massentourismus usw. Und es fehlte eine profunde staatsbürgerliche Kultur.1
Antonio Muñoz Molina ist einer der bedeutendsten spanischen Romanciers. 2013 hat er den Essay-Band Alles, was solide war (Todo lo que era sólido) veröffentlicht und darin der Gesellschaft und ihrer politischen Klasse ein erschreckendes Zeugnis ausgestellt:
Geständige Mörder kehren nach dem Gefängnis in ihr Dorf zurück und werden von ihren Anhängern bejubelt. Verschwender und Diebe werden immerfort gefeiert und von der gleichen Bürgerschaft immer wieder gewählt, die sie jahrzehntelang betrogen haben. Beim Verlassen des Gerichts erwartet die schamlosesten Betrüger des öffentlichen Lebens eine Unzahl von Gefolgsleuten: das Volk, aus dem sie stammen und das sie vertreten, aber nicht aufgrund einer Wahlentscheidung, sondern weil sie Teil seines Wesens, Vermittler seines heiligen Willens sind.2
Infolge der US-amerikanischen Banken- und Hypothekenkrise platzte 2008 in Spanien eine gigantische Immobilienblase. Nahezu eine halbe Million Eigentumswohnungen wurden zwangsgeräumt, weil die Besitzer ihre Kreditraten nicht mehr bezahlen konnten. Das spanische Bankensystem musste durch den europäischen Rettungsschirm vor dem Kollaps bewahrt werden. Ganze Wirtschaftszweige brachen zusammen, Massenarbeitslosigkeit war die Folge. Spanien stand kurz vor dem Staatsbankrott.
Journalisten und politische Kommentatoren untersuchten Ursachen und Folgen und sahen nicht selten in der Europäischen Union und in der „deutschen Sparkommissarin Angela Merkel“ die Schuldigen der Misere. Soziologen, Politologen und zivilgesellschaftliche Organisationen erforschten in zahlreichen Sachbüchern wesentlich differenzierter das nationale Debakel. Filmemacher und Theaterautoren bezogen Stellung, denn viele von ihnen hatten durch radikale Subventionskürzungen die Arbeitsmöglichkeiten verloren. Die Schriftsteller aber meldeten sicherst in den letzten beiden Jahren zu Wort. So meint Antonio Muñoz Molina:
Theater und Film können sehr viel unmittelbarer reagieren. Die Belletristik ist sehr viel langsamer, denn der literarische Schaffensprozess braucht Zeit, bis Erfahrung und Erinnerung eine Form finden. Die Literatur taugt nicht für direkte Interventionen. Auf die guten literarischen Werke über diese Zeit werden wir wohl noch etwas warten müssen.3
Mit Alles, was solide war hat der 58-jährige nun eines dieser Bücher vorgelegt: einen „fiktionalen Essayband“ – wie er sagt. Zuvor beschäftigte er sich in seinen Romanen relativ selten mit der Gegenwart. Sein letztes Werk, Die Nacht der Erinnerung, spielt am Vorabend des Spanischen Bürgerkriegs. Als Kolumnist der Tageszeitung El País setzt er sich allerdings regelmäßig mit der spanischen Politik auseinander. Diese journalistische Erfahrung ist eine der Quellen seines neuen Bandes: hier mischt er die faktenreiche Analyse mit persönlichen Erinnerungen, z.B. an seine Zeit als Direktor des Instituto Cervantes in New York.
Wann immer ich ins Büro fuhr, verließ ich die U-Bahn an der 50. Straße West und sah als erstes ein Gebäude aus Stahl und Glas, dessen gesamte Vorderfront eine riesige Leuchtwand einnahm. Lehman Brothers erschien darauf in einer gigantischen Schrift, die über mehrere Stockwerke reichte … Als ich an einem Vormittag im Jahr 2008 wieder aus der U-Bahn emporkam, war die Leuchtwand erloschen. Von einem Tag auf den anderen hatte eine der mächtigsten Investitionsbanken der Welt aufgehört zu existieren. Jene, die ein so gründliches Wissen über die Wirklichkeit zu besitzen schienen, dass sie Vorhersagen mit der Gewissheit alter Auguren zu treffen vorgaben, hatten offensichtlich die Katastrophe nicht erahnt.4
Antonio Muñoz Molina fragte sich in seinen Zeitungskommentaren oft, wie es zu der Katastrophe kommen konnte. Die Idee zu seinem Buch entstand aus diesem Bedürfnis der Selbstvergewisserung.
Und aus einer Mischung von Schmerz, Zorn und auch Hoffnung, als Spaniens Straßen sich immer öfter mit Demonstranten füllten, sowie aus der Notwendigkeit, mir selbst zu erklären, was hier geschehen ist. Mir geht es wie der US-amerikanischen Schriftstellerin Joan Didion, die sagte: Ich weiß nicht, was ich denke, bevor ich es nicht aufgeschrieben habe. Für mich war es nicht so wichtig, öffentlich mitzuteilen, was ich denke, als es für mich herauszufinden. Mein wichtigstes Vorbild sind die politischen Schriften von George Orwell und Albert Camus, d.h. die Notwendigkeit, sich literarisch in größtmöglicher Klarheit auszudrücken.5
Dazu gehört für Antonio Muñoz Molina auch die Selbstkritik, denn in der spanischen Krise sieht er nicht nur das Werk von korrupten Politikern und profitgeilen Spekulanten, sondern auch das Versagen großer Teile der Bevölkerung. Als sich das Desaster abzuzeichnen begann, arbeitete er gerade an Die Nacht der Erinnerung, seinem Roman über den Bürgerkrieg der 30-er Jahre.
Ich habe damals über die Blindheit jener geschrieben, die nicht in der Lage sind zu sehen, was um sie herum rumort, aus Unachtsamkeit, aus Verantwortungslosigkeit, weil jeder nur seinen eigenen Dingen nachgeht, die Möglichkeit einer Katastrophe nicht wahrhaben will oder stur daran glaubt, dass die Dinge solider sind, als sie in Wirklichkeit waren. Aber auch ich selbst habe 2007 nichts geahnt, denn ich war versunken in meinem Buch, eingeschlossen in meiner Zeitkapsel von 1937.6
Der mehrfach ausgezeichnete Autor sieht sich selbst als „Spielverderber“, denn er ist nicht bereit, die Selbsttäuschung vieler Verantwortlicher und ihre pompösen architektonischen Selbstdarstellungen weiter hinzunehmen. Zudem liegen für ihn die Ursachen viel tiefer, in den 80-er Jahren, der Zeit der sog. Transición, des Aufbaus der Demokratie nach rund vierzig Jahren Franco-Diktatur.
Wir haben nicht verstanden, das, was uns am meisten fehlt, aufzubauen: eine demokratische Tradition. Die meisten von uns waren keine Demokraten, als Franco starb, sondern Antifranquisten. Wir konnten auch keine sein, denn wir waren in einer Diktatur geboren und aufgewachsen. Die Erben des alten Regimes, die von der sog. „Öffnung“ am meisten begünstigt wurden, dachten nur an eine begrenzte Demokratie, die ihnen erlaubt hätte, einige Privilegien zu behalten. Und selbst bei den Antifranquisten – den wenigen Sozialisten, den vorherrschenden Kommunisten, den Trotzkisten und Maoisten – gab es nur eine instrumentelle Vorstellung von Demokratie.7
In den bis heute nicht überwundenen autoritären Strukturen des Staates und seiner Verwaltungen sieht Antonio Muñoz Molina eine der Hauptursachen für die Existenzkrise Spaniens: die Kontrolle habe in allen Bereichen versagt.
Die Regierenden wurden bisher nicht ausreichend kontrolliert. Mir geht es dabei nicht so sehr um Gerichte als um gesetzlich vorgeschriebene Verfahrensweisen zur Überprüfung der Verwaltung. Sie konnte machen, was sie wollte, denn es gab keine vom Gesetzgeber vorgesehenen Kontrollmechanismen. Auch in der Bürgerschaft existierte kein Bewusstsein dafür, sie zu überwachen. Jetzt entrüsten sich alle darüber, dass Flughäfen gebaut wurden, die niemand benötigte.8
Selbstkritik ist in Spanien nicht sehr beliebt. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, dass dieser klarsichtige Essay-Band – anders als die meisten Bücher des Autors – nur eine zweite Auflage erreicht hat. Dabei will Muñoz Molina seinen Mitbürgern Mut machen, durch die Erkenntnis eigener Fehler Auswege aus der Krise zu finden. Das gebeutelte Spanien ist für ihn keineswegs ein aussichtloser Fall.
Wir können durchaus auf Erfolge blicken: hier und dort wunderbare Schulen und Krankenhäuser, Unternehmen, die inmitten der Krise Arbeit schaffen und Gewinne erwirtschaften, wissenschaftliche und kulturelle Institutionen, die trotz aller Sorgen vorangekommen sind. Wir müssen uns ein Beispiel nehmen an dem, was gelungen ist, und an denen, die es vollbracht haben.9
Inzwischen ist die staatsgefährdende Krise Spaniens gleich mehrfach von Schriftstellern behandelt worden. Antonio Muñoz Molina hat den Essay gewählt. Ein anderer renommierter Autor, Eduardo Mendoza, hat sich in Der Friseur und die Kanzlerin (El enredo de la bolsa y la vida) für den satirischen Unterhaltungsroman entschieden. Einem Land, in dem neue Autobahnen ins Nichts führen, ganze Stadtviertel keine Bewohner finden, neu erbaute Sportarenen leer stehen – einem solchen Land kann ein Schriftsteller nur mit den Mitteln der karikaturesken Übertreibung gerecht werden, meint jedenfalls Eduardo Mendoza:
Meine Romane sind Farcen, eine Mischung aus bitterer Ironie und verformter Realität. Aber ich betrachte meine Figuren dabei mit einem Gefühl der Nächstenliebe, ganz egal, in was für einen Schlamassel ich sie geraten lasse, was für Absurditäten ich ihnen zumute. Es ist ein spezieller literarischer Humor, der so im Film oder im Theater nicht funktionieren würde. Ich will die Wirklichkeit aufbrechen, sie ins Unwahrscheinliche treiben.10
Die Farce Der Friseur und die Kanzlerin siedelt der Autor – wie die meisten seiner erfolgreichen Romane – in seiner Geburtsstadt an.
Der Tourist, der Barcelona im Sommer besucht, tut gut daran, auf seinen Spaziergängen die Notfallstation des Klinikums weiträumig zu umgehen, wenn er sie nicht unbedingt braucht. Im August ist nicht nur der größere Teil des Pflegepersonals im Urlaub, sondern im Urlaub sind ebenso die Patienten der Mittelklasse und der Oberschicht, die sonst das Jahr über das ästhetische Niveau des Krankenhauses durch eine gekonntere Art im Umgang mit Schicksalsschlägen anhoben. Jetzt aber drängten sich in Wartezimmern, auf Korridoren und Treppen Personen so niedriger Herkunft, dass sie schon als Gesunde krank und gelähmt schienen, von Leiden oder Missgeschick ereilt, hier jedoch vollends wie Ruinen wirkten: Patienten teils ganz, teils in Stücken, die sich in einer besonders düsteren Krümmung des Labyrinths von Gängen bewegten.11
Eine höchst absurde Handlung entfaltet Eduardo Mendoza vor dem Hintergrund der spanischen Misere. Ein nahezu arbeitsloser Friseur will ein Attentat auf Bundeskanzlerin Merkel bei einer Konferenz in Barcelona verhindern. Mit Hilfe einiger Straßenkünstler gelingt es ihm, sie bei der Ankunft zu entführen. Die Schwester des Friseurs, eine ehemalige Prostituierte, schlüpft unerkannt in ihre Rolle. Und um die Verwechslungskomödie auf den Gipfel zu treiben, glaubt die entführte Angela, in dem Haarkünstler einen ehemaligen Liebhaber wieder zu erkennen.
„Bitte schön“, sagte Angela Merkel, „lassen Sie mich diesen Punkt erklären. Manolito und ich haben uns vor vielen Jahren kennengelernt, in Lloret del Mar. Wir waren jung, impulsiv und naiv. Wir verkehrten in einer schäbigen Disko, wo wir die ganze Nacht zum Sound von Dr. Acusa und Dr. de la Calva getanzt haben. Das Dynamische Duo. Danach sind wir an den Strand gegangen, haben uns in den Sand gesetzt und dem Sonnenaufgang zugesehen. Hand in Hand, und Süßstengel geraffelt, wie sie das hier nennen.“ … Und zum Schluss sagte sie mit einem liebevoll-melancholischen Blick auf mich. „Wir sind nicht mehr jung, Manolito. Ich verheiratet, ich Kanzler von Deutschland und muss die Eurokrise lösen.12
Zu dem seltsamen Auftritt der Bundeskanzlerin dürfte Eduardo Mendoza durch populäre Sündenbocktheorien angeregt worden sein. Viele glauben selbst heute noch, an der Misere sei vor allem die deutsche Europa-Politik und die dem Land aufgezwungene Sparsamkeit Schuld und keineswegs die Gier spanischer Spekulanten und vertrauensseliger Bürger. Andererseits ist Der Friseur und die Kanzlerin der vierte Teil einer Roman-Reihe um einen seltsam verrückten, in allen Fällen namenlosen Detektiv, der hier die Gestalt eines Haarschneiders annimmt. Die Krise ist für den Autor nicht das zentrale Thema, sie dient ihm lediglich als aktueller Hintergrund:
Ich habe die Hauptfigur stets dazu benützt, um weniger die malerische Seite von Barcelona als das diese Stadt prägende reale Straßenleben zu zeigen. Auch wollte ich hier kein Lehrstück über die Krise verfassen, sondern einige ihrer Erscheinungsformen zeigen: geschlossene Läden, Arbeitslosigkeit, Wohnungsspekulation usw. Ich wollte diese Geschichte aus der Sicht der Straße schreiben.13
Aus der Perspektive der einfachen, von der Krise gebeutelten und nicht selten um ihre „solide“ Existenz gebrachten Leute. Nur erwartet der Leser von einem kenntnisreichen Autor wie Eduardo Mendoza Jahre nach Ausbruch des Debakels etwas mehr als karikatureske Phänomene: auch das System, das Millionen von Spanier aus der Bahn geworfen hat, gehört an den Pranger – wohin es Antonio Muñoz Molina in seinem Werk stellt – und auch ein Vertreter der jüngeren Generation wie Pablo Gutiérrez in Democracia.
Lehman Brothers brach vor den Augen der verblüfften Welt am selben Tag zusammen, an dem Marco entlassen wurde. Ein kosmischer Zufall: in der Chronik universeller Schicksalsschläge schrumpfte seine relativ unbedeutende Tragödie angesichts jenes Börsenmonsuns, der – wie die Kommentatoren mit der ihnen eigenen Präzision im Gebrauch von Metaphern zu sagen pflegen – die Grundfesten des internationalen Blablablas zum Einsturz bringen sollte. Marco müsste eigentlich stolz sein, irgendwie an diesem herausragenden Ereignis teilzunehmen, diesem historischen Meilenstein, apokalyptischen Chaos, dieser verheerenden Episode – oder wie all diese wohl gewählten Eigenschaftsworte heißen mögen, mit denen Zeitungen ihren täglichen Brei anrühren.14
Demokratie (Democracia) heißt schlicht der Titel seines Romans, in dem dieser Marco die zentrale Rolle spielt. Er ist Mitte dreißig, war Zeichner in einem Architektenbüro, arbeitete an Plänen für neue Städte und glaubte an eine gesicherte Existenz, bis er plötzlich auf der Straße stand: einer von Millionen Spaniern. Doch Pablo Gutiérrez führt ihn nicht als exemplarischen Vertreter der Marginalisierten vor.
Ich hole ihn aus der Situation des Arbeitslosen heraus und lasse ihn reagieren – jedoch anders als viele, die seine Fähigkeiten nicht besitzen. Seine Handlungsweise geschieht unerwartet und ist auch nicht geplant. Er war als Zeichner ein kleiner Künstler, der seinen Job angenommen hat, um ein normales Leben führen zu können und nicht an den Rand der Gesellschaft zu geraten. Als er aber dann zu den Marginalisierten gehört, beginnt er durch die Straßen zu streifen und eine Art Roman auf die Mauern der Stadt zu schreiben.15
In Democracia schreibt Gutiérrez:
Es fehlt wenig, blind zu sein, es fehlt wenig, Glassplitter in den Augen zu haben – schreibt er ohne Eile, es ist sowieso schon alles viel zu spät. Jedes Elektron seines Kopfes wirkt sich bis in die Fingerspitzen aus und lässt den Pinsel tanzen. Der Ärger der Vorübergehenden stört ihn kaum, er schreibt oder zeichnet alle Verse in einer einzigen Linie, sorgfältig wie ein japanischer Kalligraf. Man sagt ihm, er solle abhauen, man beleidigt ihn, er würde die Straße beschmutzen, und man droht, die Polizei zu rufen. Aber Marco nimmt nicht wahr, was um ihn herum geschieht, er hört nur seinen Vers wie ein Astronaut, der den Kontakt zur Erde verloren hat. Die Nacht fällt, die Straßen leeren sich, nur Marco arbeitet unaufhaltsam weiter, ein Wächter der Übriggebliebenen, schreibt seine endlosen Verszeilen auf Häuser und Häuserblocks und stellt die Arbeit erst ein, als die Farbe zur Neige geht, früh am Morgen.16
Marco, der zuvor Städte der Zukunft entworfen hat, arbeitet jetzt an einer Stadt der Poesie. Die Kunst rettet ihn vor der Verzweiflung und Vereinsamung und verwandelt den Angestellten des Systems in einen Akteur gegen das System. Die Verse, die er verwendet, stammen aus Gedichten berühmter Poeten wie Rafael Alberti, Charles Baudelaire, Rubén Darío oder Pablo Neruda. Es sind Zeilen, die sich in seinem Gedächtnis verankert haben und nun wie im Rausch einer ‚écriture automatique‘ auf Wände und Mauern fließen. Sie verkünden keine Rebellion, sondern Liebe und Hoffnung, Leben in Schönheit. Marco verweigert sich mit der Kunst, der Dichtung, einer Gesellschaft, die dem Materialismus verfallen ist.
Er kapselt sich ab, schiebt alle Möbel in einem Zimmer zusammen und bearbeitet sie mit einem Hirschfänger, scheut auch vor dem Zeichentisch nicht zurück, zerschneidet die Bettlagen, benutzt sie als Leinwände, kauft Farb- und Spraydosen, holt Kartons aus den Containern hervor, am liebsten Verpackungen von elektrischen Hausgeräten, braucht seine Ersparnisse auf, zerknüllt die Rechnungen, bis man ihm Licht und Wasser abstellt, lernt im Dunkeln zu leben, erhält einen Gaskocher, trinkt Wasser aus einem Hahn im Abstellraum des Containers, das Reinigungspersonal des Blocks misstraut ihm, jede Nacht verwirklicht er neue Einfälle, um die kalligrafischen Verzweigungen seiner Stadt auszudehnen.17
Die Entwicklung des Aussteigers erzählt der 36-jährige Pablo Gutiérrez in kurzen Episoden, parallel zu den Folgen der Lehman-Brothers-Pleite, den Manipulationen ihrer spanischen Handlanger und der Geschichte von George Soros, dem berühmtesten der Hedgefonds-Manager:
Ich behandle die Figur von Soros wie in einem Comic, denn diese Welt mag ich sehr. Soros ist ein Spekulant, der wohl eher reich als einflussreich ist. Als Lehman Brothers zusammenbrach, lud ihn der US-amerikanische Kongress ein, damit er den Abgeordneten die Gründe erklärte. Für mich war es interessant, eine derart reale Gestalt zu fiktionalisieren und zwar mit Ironie. Ich habe dabei Parallelen zu Kurtz in Apokalypse Now oder Star Wars und selbst zu Konfuzius festgestellt.18
Hierzu lesen wir in Democracia:
Am 16. September 1992 verkaufte George Soros 10 Milliarden Pfund Sterling auf einmal und zwang die Bank von England zur Abwertung des Pfund, um den Zusammenbruch der Währung zu vermeiden. Soros gewann 1 Milliarde Dollar. Armer Soros, sein ganzes Leben schleppte er den Ruhm eines grausamen Spekulanten mit sich herum trotz all seiner Philantropie, all seines Kampfs gegen den Hunger. ‚Solidarnosc‘ in Polen, ‚Grameen Bank‘ in Indien, ‚Rosen-Revolution‘ in Georgien – nichts lief ohne den alten Soros, einem Unverstandenen, der an der menschlichen Natur zu zweifeln begonnen hatte.19
Pablo Gutiérrez zeigt durchaus Sympathie für diesen Milliardär, der zuerst das System der Finanzspekulation ausreizte und später die Hälfte seines Vermögens humanitären Zwecken überschrieb. Doch Soros bleibt Teil des Systems, das Marcos Existenz vernichtet, oder sollte man besser sagen: das ihn ein anderes Leben erkennen lässt? Und ihm zeigt, dass die Demokratie – wie der Autor sein Buch nennt – eigentlich nur eine Demo ist, „eine Simulation von Wohlstand und Demokratie, eine Demo in Zellophan, die man uns in einzelnen Lieferungen verkauft“.
Deshalb entschließt sich Marco in diesem außerordentlich gelungenen Werk von Pablo Gutiérrez, seiner Utopie von der Stadt der Poesie treu zu bleiben.
Marco und die Kleine breiteten die Zeichen ihrer Neuen Stadt auf allen Mauern und allen Simsen weiter aus. Früh am Morgen gingen sie aufs Dach, um sich die jüngsten Kalligrafien anzusehen: Verse an der Bushaltestelle, Segelschiffe über dem Eisengitter der Apotheke, Schwärme von Fadenwürmern in der Kuppel der Sparkasse, Libellen auf dem Phönix der Versicherung. Die Reinigungstrupps wenden Chlor und Lösungsmittel auf, Marco und die Kleine Zeit und Nichtstun, ein ungleicher Kampf. Die Neue Stadt wächst jede Nacht wie eine Demo, die bald ein Ende hat und zugleich erlaubt, das Spiel von neuem zu beginnen, die gleiche Partie tausendmal zu wiederholen.20
Die Autoren der spanischen Krisenliteratur wenden sich mit ihren Werken gegen den offiziellen Diskurs der Beschönigungen und Beschwichtigungen und benennen zumeist Ursachen und Folgen, Täter und Opfer. Rafael Chirbes, in Deutschland berühmt für seine großen Romane über die Franco-Diktatur und die folgende Transición, sah bereits 2007 in Krematorium die Immobilien-Blase, den Spekulationswahn heraufziehen. Von dessen Folgen erzählt er nun in seinem jüngsten Werk Am Ufer (En la orilla). Zentrale Metapher ist ein Sumpf, an dessen Rändern sich eine tragische Familiengeschichte abspielt:
Ich glaube, dass sich in diesem Sumpf die spanische Geschichte widerspiegelt, denn sie ist eine Abfolge von Vertuschungen und heimlichen Begräbnissen. Der Schauplatz, der Sumpf, war das Erste, was mir an diesem Roman klar war: hier musste er spielen. Hier durfte verwesen und verfaulen, was nicht mehr gesehen werden sollte, etwa politische Gegner im Spanischen Bürgerkrieg, die man liquidierte und hier entsorgte. Später kippte man den krebserzeugenden Müll des ersten Wirtschaftsbooms in diesen Sumpf. Dann kam die moderne Mafia und ließ hier ihre Toten verschwinden. Mir wurde klar, dass der Sumpf ein Kompendium der spanischen Geschichte ist.21
Das Schicksal von Esteban durchzieht als zentrale Handlung den gesamten Roman. Der inzwischen 70-jährige hat die bescheidene Schreinerei seines dementen Vaters fortgeführt, dann jedoch den mühsam erarbeiteten Gewinn in ein Immobilienprojekt investiert, weil er endlich auch ein Stückchen von dem großen Spekulationskuchen abhaben wollte. Er geht Pleite und muss seine fünf Angestellten auf die Straße setzen. In ausgreifenden Monologen lässt Chirbes sie zu Wort kommen und darüber Auskunft geben, „wie es sich anfühlt, als verängstigte Maus in den Krallen fetter Katzen“ zu zappeln.
Was, glauben sie, kann ein Mann tun, wenn der Kühlschrank leer ist. Erst wenn du ruiniert bist, stellst du fest, dass man jeden Tag essen muss. Im alltäglichen Trott bist du an die Kinder und die Frau gebunden; wären sie nicht, würdest du jede Menge Verrücktes tun, aber ich glaube auch, dass es dann, wenn dir das Wasser erst mal bis zum Hals steht, in diesem hochprekären Moment, genau umgekehrt ist: Es sind gerade Frau und Kinder, die dich dazu treiben, Verrücktes zu begehen, vor dem sie dich früher abzuhalten schienen. Diejenigen, die dich gerettet haben, ziehen dich ins Verderben. Du verlierst dich, und sie sind schuld. Du bist dazu fähig, mit vorgehaltenem Gewehr den Metzger im Viertel auszuplündern, um ein paar Hühnerbrüstchen, Hühnerknochen für die Brühe, Markknochen und ein Stück Wade für den Eintopf in den Kühlschrank zu stecken… Ich weiß nicht, was ich gegen euch, die ihr alles habt, tun könnte; ich habe jedenfalls ein Gewehr im Haus.22
Doch der Angestellte wird es nicht ergreifen. Denn die Romane von Rafael Chirbes sind kühle Bestandsaufnahmen, illusionslose Zustandsbeschreibungen, psychologische Tiefenbohrungen, die dem Leser eine Fülle von Fakten, Erfahrungen, Empfindungen und von Schicksalen vor Augen führen, aus denen er seine eigenen Schlüsse ziehen muss. Nur Esteban, seiner Hauptfigur, erlaubt er, aktiv zu werden angesichts des völligen Zusammenbruchs seiner Existenz, des „schwarzen Raums der Nicht-Zukunft“. Er fährt mit seinem totkranken Vater in den Sumpf.
Die Stiefel versinken im Matsch, der eine gummiartige Struktur hat, der Weg ist voller Pfützen, ich komme kaum mehr voran, ich weiß nicht, wie ich morgen meinen Vater dazu bringen soll, hier ein paar Schritte zu gehen, auch wenn es nur wenige Meter sind, der Rollstuhl hilft da nicht weiter. Ich muss ihn tragen oder ihn langsam bis an den Rand des Wassers lotsen. Das ist der Pakt, den ich stillschweigend mit ihm geschlossen habe: Ich bringe ihn an den Ort zurück, von dem wir ihn weggezwungen haben. Ein züchtiges Rückzugsgebiet von der Welt. Wir beide treten den Rückzug an. Ich werde den Wagen erst bis hierher fahren, und bevor ich die Sache zu Ende bringe, werde ich ihn einige Meter weiter weg abstellen, am Dünenhang, damit das Feuer nicht auf das Röhricht übergreift. Und der Hund? Ich wende den Blick ab, ich will ihn nicht sehen, aber der Hund ist Teil der Familie. Ich werde ihn nie zurücklassen.23
Zu seiner Haltung sagt Chirbes:
Ich schreibe über das, was ich sehe. Ich bin kein Priester und muss niemand eine bessere Zukunft versprechen. Ich bin auch kein Psychiater, der dir deine Ängste angesichts unserer schrecklichen Gegenwart nehmen könnte. Und ich bin ganz sicher kein Politiker, der dir in Aussicht stellen würde, dass dieser Sumpf demnächst trocken gelegt wird und an seiner Stelle Eigenheime entstehen. Allerdings glaube ich, dass uns nichts Schönes bevorsteht, zumindest hier in Spanien. Die Schatten werden sich vertiefen, aus grau wird schwarz. Das ist eine unerhörte Situation. Und dazu haben wir eine Regierung, die diese Lage ausnutzt. Sie recycelt den menschlichen Abfall und plündert die Reste nach Verwertbarem aus.24
Rafael Chirbes ist der Pessimist unter den spanischen Schriftstellern. Eduardo Mendozas arbeitsloser Friseur wehrt sich auf anarchische Weise. Pablo Gutiérrez, der jüngste von ihnen, lässt seinen Protagonisten eine Utopie leben und Widerstand durch Kunst, durch Poesie leisten. Antonio Muñoz Molina geht in seiner essayistischen Bestandsaufnahme noch einen Schritt weiter: Er sieht in der Bürgerbewegung, die sich aus den Massendemonstrationen am 15. Mai 2011 entwickelt hat, eine konkrete Perspektive:
Dieses Aufwachen der Bürgergesellschaft hat bisher in Spanien gefehlt: die Idee, dass der Bürger sich auch verantwortlich für das System zeigen und die Waffen ergreifen muss, die ihm das demokratische System bietet. Die Bewegung des 15. Mai ist die Keimzelle einer zivilgesellschaftlichen Alternative, aus der sich vor kurzem mit der neuen Linkspartei podemos sogar eine politische Alternative entwickelt hat. Heute können bestimmte Dinge nicht mehr geschehen, die früher möglich waren. Das ist für mich eine der wenigen Hoffnungen.25
Antonio Muñoz Molina, Interview.↩
Antonio Muñoz Molina, Todo lo que era sólido (Madrid: Seix Barral, 2013). Übersetzung der Zitate: Peter B. Schumann.↩
Muñoz Molina, Interview.↩
Muñoz Molina, Todo lo que era sólido.↩
Muñoz Molina, Interview.↩
Muñoz Molina, Todo lo que era sólido.↩
Muñoz Molina, Todo lo que era sólido.↩
Muñoz Molina, Interview.↩
Muñoz Molina, Todo lo que era sólido.↩
Muñoz Molina, Interview.↩
Eduardo Mendoza, El enredo de la bolsa y la vida (Madrid: Seix Barral, 2012). — Deutsch: Der Friseur und die Kanzlerin, übers. von Peter Schwaar (München: Nagel & Kimche, 2013).↩
Mendoza, Der Friseur und die Kanzlerin.↩
Mendoza, Interview.↩
Pablo Gutiérrez, Democracia (Madrid: Seix Barral, 2013), Übersetzung der Zitate: Peter B. Schumann.↩
Gutiérrez, Interview.↩
Gutiérrez, Democracia.↩
Gutiérrez, Democracia.↩
Pablo Gutiérrez, Interview.↩
Gutiérrez, Democracia.↩
Gutiérrez, Democracia.↩
Rafael Chirbes, Interview.↩
Rafael Chirbes, En la orilla (Barcelona: Ed. Anagrama, 2013). — Deutsch: Am Ufer, übers. von Dagmar Ploetz (München: Verlag Antje Kunstmann, 2014).↩
Chirbes, Am Ufer.↩
Chirbes, Interview.↩
Muñoz Molina, Todo lo que era sólido.↩
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